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23. August 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Das ist unser Land! (Lucas Belvaux)


Das ist unser Land!
(Lucas Belvaux)

Originaltitel: Chez nous, Frankreich / Belgien 2017, Buch: Lucas Belvaux, Jérôme Leroy, Kamera: Pierric Gantelmi D'ille, Schnitt: Ludo Troch, Musik: Frédéric Vercheval, mit Émilie Dequenne (Pauline Duhez), Guillaume Gouix (Stéphane »Stanko« Stankowiac), André Dussolier (Dr. Philippe Berthier), Catherine Jacob (Agnès Dorgelle), Anne Marivin (Nathalie), Patrique Descamps (Jacques), Charlotte Talpaerte (Nada Belisha), Stéphane Caillard (Victoire Vasseur), Cyril Descours (Jean-Baptiste Verhaeghe), Michel Ferracci (Dominique Orsini), 118 Min., Kinostart: 24. August 2017

Von Regisseur Lucas Belvoux (Un couple épatant, Après la vie, Cavale) hatte ich schon ähnlich lang nichts mehr gehört wie von der Hauptdarstellerin Émilie Dequenne, die nach Rosetta mit ihrem Schmollmund längere Zeit meinen Computermonitor verhübschte.

Trotz des leicht zu vermurksenden Politsujets, das sich etwas zu deutlich an aktuelle französische Trends ranhängt, wollte ich dem Film eine Chance geben, auch, weil es mir ums Verrecken nicht gelang, die blonde Frau auf den Szenenfotos (es gab zunächst sehr wenige und das Plakat kam auch erst später) mit dem Schnuckel von damals in Korrelation zu bringen. Lag aber einfach daran, dass man sich für eine deutliche Marketing-Strategie lieber auf die nur in einer deutlich kleineren Rolle auftretende Catherine Jacob (César für La vie est un long fleuve tranquille, hierzulande Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss) stützte, die auf mich zunächst auch den Eindruck machte, als solle sie eine ganz konkret an Marie Le Pen orientierte Figur darstellen.

Das ist unser Land! (Lucas Belvaux)

© Alamode Film

Der Film fängt aber schon mal ganz anders an: mit so was wie Kammermusik und frühmorgendlichen Einstellungen der Gegend, in der der Film spielt. Ein einzelnes landwirtschaftliches Nutzfahrzeug quält sich über das Feld, kleinstädtische Straßen sind wie leergefegt, unter einer Überführung blickt man auf eine Autobahn (oder wie die in Frankreich heißen), wo immerhin ein bisschen mehr los ist. Hierzu sieht man die Vorspanntitel und der Film beginnt quasi erneut, nachdem der Landwirt ein stattliches Blindgängergeschoss gefunden hat und dieses zu einer kleinen »Sammlung« dazulegt (mit diesen gefährlichen Fundstücken treibt der Film ein kleines Spiel am Rande, eine Art Spannungsmoment im Hinterkopf).

Dann taucht Émilie Dequenne als Pauline auf, die als Krankenschwester im ambulanten Pflegedienst ihre Runden schon sehr früh beginnt. Doch gleich ihre erste Patientin liegt tot neben dem Bett, der herbeigerufene Arzt Dr. Berthier (André Dussolier) bestätigt: »Nichts außergewöhnliches, vermutlich Herzinfarkt!«

Pauline unterscheidet nicht zwischen ihren Patienten und ihrem Umfeld, sie ist allen gegenüber gleich aufmerksam, hat kaum Vorurteile etwa gegenüber Muslimen, wenn innerhalb kürzester Zeit bei ihrer verstorbenen Patientin in die Wohnung eingebrochen wird und schnell rechte Stimmung gemacht wird.

Im strukturschwachen Norden Frankreichs scheinen die Zündschnüre generell etwas kürzer zu sein. Bei einem Fußballspiel ihres Sohnes will einer der Väter am liebsten gleich in eine Balgerei mit einsteigen, doch ein besonnener Trainer, in dem Pauline ihre fast vergessene Jugendliebe wiedererkennt, wiegelt ab. Stéphane (Guillaume Gouix) »will keine Rowdys«, insbesondere nicht in seinem Team.

Das ist unser Land! (Lucas Belvaux)

© Alamode Film

Während sich aus der alleinerziehenden Mutter und dem in einem suspekten Trainingsraum boxenden Trainer eine Lovestory entspinnt, sieht man den politisch eingebundenen Arzt Berthier, der in der beliebten Krankenschwester jene urbane Kandidatin wittert, die seine verharmloste rechte Gruppierung voranbringen kann.

Pauline interessiert sich »eher nicht« für Politik, wählt »selten, eigentlich nie«, doch die gewiefte Autoritätsperson (»Ich bin weder links noch rechts, ich bin für Frankreich!«) wickelt sie ziemlich um den Finger (»Ich hätte gern eine Tochter wie dich gehabt.« [...] »Du wärst toll als Bürgermeisterin, du stehst den Leuten nah!«), und Pauline übernimmt den gern in Filmen eingebauten Standpunkt des Zuschauers, der in bereits existierende Strukturen hineingeworfen wird.

Das ist unser Land! (Lucas Belvaux)

© Alamode Film

Belvaux, der für sein Drehbuch als Co-Autor jemanden fand, der einen gut recherchierten Roman über den »patriotischen Block« geschrieben hatte, baut die Handlung clever auf. Hier gibt es viele Nebenfiguren, und sie haben alle eine Funktion. Paulines Vater ist ein alter Kommunist, schaut aber mit den Enkelkindern gemeinsam Volksmusik-Sendungen, im Freundeskreis gibt es aufgeladene Diskussionen darüber, ab wann man ein Rassist ist, gleichzeitig hat Pauline (zunächst) keinerlei Berührungsängste mit Migranten, und sowohl ihr Sohn als auch der ihrer besten Freundin, die sie beim Wahlkampf unterstützt, befinden sich in dem Alter, wo man sich schnell für die falsche politische Richtung interessiert.

Der perfideste Handlungsstrang ist aber, dass Stéphane, der nicht nur für Pauline der positivste männliche Kontakt seit langem ist, sondern sich auch gut mit den Kindern versteht, eine radikale politische Vergangenheit hat, der man nicht einfach den Rücken kehren kann. Der werte Doktor kennt den unter dem Kriegernamen »Stanko« verkehrenden suspekten Sonnenschein, dessen Abgründe lange Zeit nicht ausgeleuchtet wird, noch aus alten Zeiten, als sie für die selbe rechte Sache einstanden. Doch für die Karriere-Rechten ist es nicht mehr opportun, anzuecken oder mit Gewalttätern in eine Schublade gedrängt zu werden, und so entsteht für Pauline ein Kraftakt zwischen dem Privaten und dem Politischen, wobei gerade die Einmischung der Anderen ihre Lage immer komplizierter machen.

Bei einem Familien-Skiausflug mit den Kindern Lili und Tom drehen sich die Bettgespräche zwischen Pauline und Stéphane etwa auch um politische Anschauungen, und seine Einstellung »für das Land«, die sie vor einem Monat noch gestört hätte, wird nun zur Gemeinsamkeit. Mit Konfliktpotential.

Das ist unser Land! (Lucas Belvaux)

© Alamode Film

Man weiß bei Chez nous (eine Verkürzung des Plakatspruchs »on est chez nous«, den der deutsche Titel ganz gut zusammenfasst) eigentlich ziemlich gut, in welche Richtung die Geschichte gehen soll, welche politische Überzeugung die Filmemacher vertreten, aber man spielt mit einer gewissen Offenheit, die mich nicht immer völlig überzeugte. Wenn beispielsweise die Kids vor ihren Rechnern auf Fake-News einsteigen, bei denen das Bildmaterial zu offensichtlich retuschiert ist, wirkt das auf mich, als würde man die Tricks der Rechten durchschaubarere darstellen, als sie es manchmal sind, und sie dadurch auch ein wenig verharmlosen (genau wie bei der Entscheidung, die rechte Gewalt oft nur anzudeuten, um die Spannung und Paulines Unentschiedenheit aufrechtzuerhalten). Vieles ist auch eine Spur plakativ wie das obligatorische Blondieren der Kandidatin.

Aber hier und dort funktioniert der Film auch einfach phänomenal. Die Stelle, wo die rechten Wahlexperten betonen, dass man keine rassistischen Begriffe benutzen soll (»Pack« versteht jeder!), haben mich an meine Provinzwurzeln erinnert, wo jüngst ein harmlos erscheinender Herr aus der Nachbarschaft die Veränderungen im Ort beschrieb und dabei den vermeintlich wertfreien Begriff »Zugezogene« verwendete - exakt die selbe Rhetorik, nur noch eine Spur infamer.

Anyway, ich war mir bis kurz vor Ende des Films nicht sicher, ob ich ihn richtig gut finden soll oder ich mir doch noch einige Vorbehalte erhalte. Und dann kam nach dem eigentlichen Ende der durchaus spannenden Handlung des Films (ich verrate natürlich nicht, wie es ausging) noch eine »non-narrative« Klammer, denn die letzten Einstellungen des Films sind die selben wie zu Beginn des Films: es ist immer noch frühmorgens, alles wirkt harmlos und verschlafen, die Filmhandlung hat eigentlich nicht viel verändert - oder sich vor allem auf Einzelschicksale ausgewirkt.

Und ich dachte so bei mir: es sieht aus wie frühmorgens, aber irgendwie ist es doch fünf Minuten vor Mitternacht. Und allein für diese filmische Klammerung liebe ich den Film, selbst, wenn ich das eine oder andere vielleicht anders gemacht hätte.