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Lucas Belvaux (Pour Rire!) ist ein Regisseur, wie ihn Schauspieler lieben - denn er war auch mal "nur" Schauspieler. Seine Trilogie von 2002 steht deshalb auch unter dem Motto "Jede Nebenfigur ist die Hauptfigur eines noch ungedrehten Films", nur mit dem Unterscheid, daß er gleich drei Filme auf einmal drehte, bei denen sich die Kategorien "Hauptdarsteller" und "Nebendarsteller" ebenso wie das Genre und die Atmosphäre des jeweiligen Films ändern. Jeder Film steht für sich, gemeinsam geben sie aber ein viel intensiveres Bild einer kleinen Gruppe von Menschen, die man als Zuschauer über einige Tage lang in Grenoble verfolgt. Verfolgungen und Verschwörungstheorien sind auch zwei der Themen, die sich durch die gesamte Trilogie ziehen, nur mit jeweils völlig unterschiedlicher Betonung, denn ob eine eifersüchtige Frau ihren hypochondrischen Mann verfolgt (Komödie Un couple épatant) oder ein Polizist gegen einen Terroristen antritt (Thriller Cavale) - das macht einen Riesenunterschied aus. Belvaux drehte die gesamte Trilogie gleichzeitig (ein immenser logistischer Aufwand), redigierte aber beispielsweise die Montage an drei verschiedene Personen. Und auch der Komponist der drei Filme legt das Gewicht auf jeweils unterschiedliche Instrumente, wodurch drei doch sehr unterschiedliche Filme entstanden, die im folgenden einzeln besprochen werden. Potenziellen Zuschauern wird nahegelegt, alle drei Filme in der angegebenen (und vom Regisseur beabsichtigten) Reihenfolge zu schauen. Die Filme bauen aufeinander auf, werden komplexer, intensiver - und länger!*
Und sie haben sogar aufeinanderfolgende "visa d'exploitation", jene Durchnumerierung aller französischen Filme, die es in 500 Jahren den Filmwissenschaftlern wahrscheinlich unvergleichlich einfacher machen werden, die Nationalkinematographie Frankreichs zu rekonstruieren, während man hierzulande schon Probleme hat, die Filmographien bedeutender Stummfilmregisseure zusammenzustellen. Wer nur Zeit für einen Film hat, sollte sich entweder nach seinen persönlichen Genrevorlieben entscheiden oder den - für sich stehend - gelungensten Film Cavale anschauen, in dem zufällig auch noch der Regisseur die Hauptrolle spielt, weil der dafür vorgesehene Darsteller kurzfristig aus dem Projekt ausstieg. Cavale ist übrigens auch der offizielle Eröffnungsfilm der 4. französischen Filmwoche in Berlin (auch wenn Un couple épatant im Rahmen des Festivals bereits schon davor zu sehen sein wird), Lucas Belvaux wird am 8. Juli bei der Vorführung im Cinema Paris anwesend sein. Un couple épatantDeutsche Entsprechung des Titels: Ein tolles Paar, Schnitt: Valérie Loiseleux, mit Olivier Darimont (Francis), Raphaele Godin (Louise), Patrick Depeyrrat (Vincent), Pierre Gèrard (Olivier), Jean-Baptiste Montagut (Henri), Vincent Colombe (Rémy), Anne Delol (Krankenschwester), Joss Philpoémon (Taxifahrer), 97 Min., Kinostart: 15. Juli 2004
Wie schon bei Pour Rire! spielt auch hier Ornella Muti die weibliche Hauptrolle der Cécile, die Story beginnt aber mit ihrem Gatten. Alain (Francois Morel) führt in Grenoble ein international tätiges HiTech-Unternehmen und ist seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Als ihm sein Freund, der Arzt Georges, eine kleine Operation anrät, hält sich der verschlossene Hypochonder für sterbenskrank und will nicht, daß seine Frau etwas davon erfährt - sie würde sich nur ängstigen. Doch durch sein irrationales Handeln wird Cécile argwöhnisch und bittet den Mann einer Lehrerkollegin, einen Polizisten, ihren Mann privat zu beschatten. In Céciles Umfeld scheinen Seitensprünge ganz normal zu sein, was ihre Verzweiflung nur noch forciert. Der Polizist findet zwar nichts heraus, aber Gefallen an Cécile, während Alain sich vom Geliebten seiner Frau beschattet wähnt, und die beiden in vermeintlich eindeutigen Situationen sieht. Die Verwicklungen in dieser Komödie werden immer wahnwitziger, jeder fühlt sich verfolgt und hintergangen, Alain ahnt eine Verschwörung zwischen seinem Arzt und dem Liebhaber seiner Frau und verlässt halbnarkotisiert kurz vor der Operation die Klinik … CavaleDeutsche Entsprechung des Titels: Auf der Flucht, Schnitt: Ludo Troch, mit Alexis Tomassian (Banane), Yves Claessens (Freddy), Christine Henkart (Madame Guiot), Jean-Henri Roger (Nachbar), Elie Belvaux (Jeannes Sohn), Hervé Livet (Jean-Jean), Eric Vassard (Handlanger), Zirek (Geheimagent 1), Thomas Badek (Geheimagent 2), Bourlem Guerdjou (Lehrer), 111 Min., Kinostart: 22. Juli 2004
Aus irgendwelchen Gründen wurde bei der Pressevorführung dieser Film zuerst gezeigt, weswegen er wohl auch den größten Eindruck bei mir hinterließ. Es ist auf jeden Fall auch festzustellen, daß es einer Komödie nicht hilft, wenn man weiß, daß eine der darin vorkommenden Personen einen falschen Namen benutzt und in manchen Szenen (für die Kamera unsichtbar) einen Revolver trägt - und auch nicht abgeneigt ist, diesen zu benutzen. Cavale beginnt mit einem Gefängnisausbruch, der sich ausschließlich akustisch abspielt. Während noch die Vorspanntitel über die schwarze Leinwand ziehen, hört man zunächst Schlüsselgeklimper und dann immer eindeutig zuzuordnende Geräusche. Dann gehen die Scheinwerfer an - das Fluchtauto wartet. Es folgt eine längere POV-Autofahrt, die zunehmend fragmentarischer erscheint. Und wenn man schließlich Polizeiautos sieht, die die Straße versperren, fährt unser Fahrer, der Terrorist Bruno Le Roux (Lucas Belvaux), direkt darauf zu, doch während Schüsse erklingen blendet der Regisseur einfach aus. Diese genre-untypische Inszenierung verleiht dem Film eine zusätzliche Spannung, noch stärker als in Un couple épatant definiert sich die Handlung über Ellipsen. Die Betonung der Tonebene findet noch weitere Beispiele im Film, etwa wenn Le Roux im Dunkeln seine Pistole zusammensetzt (man muss solche Handgriffe halt üben) oder ein Anschlag auf den Palast der Republik auch wieder sehr minimalistisch umgesetzt wird. Im Verlauf des Films erfährt man, daß Le Roux 15 Jahre hinter Gittern war - mit Handys kennt er sich beispielsweise nicht aus. Er versucht, Teile seiner alten Aktionsgruppe ausfindig zu machen, zeigt wenig Skrupel, diese auch zum Mitmachen zu erpressen, und ist unentwegt damit beschäftigt, den Polizeifunk abzuhören und sich neue Perücken und Bärte anzupassen. Le Roux ist ein Einzelgänger und Einzeltäter, doch als er Zeuge wird, wie ein junger Dealer eine Frau zusammenschlägt, die offensichtlich süchtig ist, schreitet er auch einmal wie ein Retter in der Not ein, und macht es dem Zuschauer dadurch schwierig, diesen Anti-Helden völlig zu verachten. Après la vieDeutsche Entsprechung des Titels: Nach dem Leben, Schnitt: Danielle Anezin, mit Olivier Darimont (Francis), Alexis Tomassian (Banane), Yves Claessens (Freddy), Christine Henkart (Madame Guiot), Jean-Henri Roger (Nachbar), Marc Bordure (Flic Stups), 123 Min., Kinostart: 29. Juli 2004
Während die Genreeinordnung der ersten zwei Filme der Trilogie einfach erscheint, schmückt sich Après la vie gleich mit zwei Prädikaten: Tragödie bzw. Melodram. Im strengen Sinn ist der Film keines von beiden. Auch, wenn ich dies nur beschränkt attestieren kann, weil ich die anderen zwei Filme zuvor sah, habe ich bei diesem Film das Gefühl, daß er am wenigsten allein stehen kann, schon, weil die Handlung vor allem durch das Vorwissen aus den anderen Filmen vorangetrieben wird. Aber vielleicht irre ich mich auch. Agnès (Dominique Blanc) ist seit längerem morphiumsüchtig. Da ihr Mann, der Polizist Pascal (Gilbert Melki) ihr jedoch über den einen in großem Stil tätigen Kriminellen Jacquillat (Patrick Deschamps) den Stoff zur täglichen Verwendung besorgt, ahnt niemand etwas davon, und sie kann sogar ihren Job als Lehrerin zur allgemeinen Befriedigung ausführen. Mit dem Ausbruch des Terroristen Le Roux, den Pascal ausfindig machen soll, bricht langsam alles zusammen, denn Jacquillat befürchtet einen Anschlag auf sein Leben - Pascal soll den mehrfachen Mörder in Ausübung seiner Pflicht töten, solange wird der Morphium-Hahn abgedreht. Während Agnès langsam zusammenbricht, verschweigt Pascal ihr die Hintergründe - die Ehe gerät in eine Krise, die durch die nächtelangen Einsätze des Polizisten (und dessen Interesse an Cécile …) schließlich dazu führt, daß Agnès versucht, einen Dealer aufzutreiben - der sie aufgrund der eindeutigen Anordnungen Jacquillats aber abweist und sogar brutalst zusammenschlägt - bis ausgerechnet Le Roux sie rettet - und im Gegenzug von ihr Unterstützung findet und u. a. sogar in der Wohnung des Polizisten, der ihn sucht, unterschlüpft. Ein schrecklicher Ausgang scheint vorprogrammiert. Wer das Ende von Cavale kennt, geht davon aus, daß die Schicksale von Bruno Le Roux und Agnès und Pascal Manise gegen Ende nur noch wenig miteinander zu tun haben - doch natürlich zeigt uns Après la vie auch wieder Details, die zuvor ausgelassen wurden. Der Film beginnt mit dem Abstieg einer Seilbahn, der ähnlich wie in den anderen Filmen bereits Thema und Genre des Films vorwegnimmt. Doch interessanter als die Eheprobleme derer von Manise ist für den Betrachter, wie sich langsam die letzten Puzzlestücke der Trilogie zusammenfinden - am liebsten würde man die anderen Filme gleich nochmal schauen, um zu vergleichen. Man erfährt endlich, wer die Terroristengruppe verraten hat, viele Details aus Cavale erscheinen aus der Perspektive des Polizisten um einiges schrecklicher - und endlich weiß man auch, warum Freddy starb - oder wer schuld daran ist, daß Céciles Tochter in Un couple épatant mehrfach ungerechtfertigt beschuldigt wird. Doch all diese Querverweise lenken zumindest jene Zuschauer, die die anderen Teile der Trilogie gesehen haben, ein wenig von der Geschichte in Après la vie ab - und das ist schade, denn insbesondere die schauspielerische Leistung von Dominique Blanc ist meisterhaft, und auch Gilbert Melki als ihr Polizistengatte, dessen Verhalten oft schwierig nachzuvollziehen ist, legt eine beachtliche Leistung vor. Genauso, wie man sich wünscht, im Anschluß an die Trilogie gleich nochmal bestimmte Teile zu sehen, wünscht man sich auch, den einen oder anderen Teil der Trilogie ohne Vorwissen, also mit anderen Augen, nochmal neu zu sehen, was natürlich nicht möglich ist. Schon durch dieses Phänomen, das auch über einige kleine Schwächen des Projekts hinwegtäuscht, wird La Trilogie gemeinsam mit der Infernal Affairs-Serie zu einem Beispiel dafür, daß mehrere, aufeinander aufbauende Filme nicht immer nur ein mieser Trick für eine schnelle Mark sind, sondern in manchen Fällen Glücksfälle, die der Filmkunst neue Dimensionen verleihen können. |
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