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9. Mai 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Was werden die Leute sagen (Iram Haq)


Was werden die Leute sagen
(Iram Haq)

Originaltitel: Hva vil folk si, Norwegen / Schweden / Deutschland 2017, Buch: Iram Haq, Kamera: Nadim Carlsen, Schnitt: Janus Billeskov Jansen, Anne Østerud, Musik: Martin Pedersen, Lorenz Dangel, mit Maria Mozhdah (Nisha), Adil Hussain (Mirza), Rohit Saraf (Amir), Ekavali Khanna (Mutter), Ali Arfan (Asif), Sheeba Chaddha (Tante), 106 Min., Kinostart: 10. Mai 2018

Zum Thema »Ehrenmord« kenne ich zwei Filme, beide liefen mal auf der Berlinale: der Wettbewerbsbeitrag Die Fremde von Feo Aladag (2010) berührte mich vor allem emotional, der schwedische Panorama-Film När mörkret faller (Intern. Titel: When Darkness Falls) von Anders Nilsson (2007) erschien mir vor allem spannend.

Beim norwegischen Film Hva vil folk si, wie Die Fremde von einer Frau mit Migrationshintergrund inszeniert, ist das Potential für beide Reaktionen gegeben, es hängt aber in nicht geringem Maße davon ab, ob man eine zusätzliche Information zum Film erhalten hat oder nicht. Die werde ich im Text wie einen Spoiler behandeln und davor an passender Stelle warnen. Ich selbst wusste nicht davon und habe den Film ohne dieses Vorwissen wahrgenommen.

Die laut Presseheft 15jährige Nisha (Maria Mozhdah) lernt man im Film auf eindrückliche Weise kennen. Die Tochter pakistanischer Einwanderer rennt zu Beginn des Films mit einem Affenzahn durch die anbrechende Nacht, während man, parallel montiert, ihren Vater Mirza (Adil Hussain) sieht, wie er sich (in gemütlichem Tempo) vorm Zubettgehen noch mal versichert, ob es seinen drei Kindern gut geht. Er schließt das Laptop des im Bett davor eingeschlafenen Ältesten Asif, rückt die Bettdecke der Jüngsten Amina zurecht, und als er einen Blick auf Nisha wirft, hat diese es zwischendurch so gerade eben noch geschafft, die Illusion der folgsamen Tochter aufrecht zu erhalten.

Was werden die Leute sagen (Iram Haq)

Bildmaterial: Pandora Film

Zuhause wirkt Nisha eine Spur rebellisch, gibt sich aber Mühe, den familiären Traditionen zu folgen (in Pakistan ist der Islam offizielle Landesreligion, die von einer deutlichen Mehrheit der Einwohner ausgeübt wird, doch im Film spielt die Religion per se kaum eine Rolle). Im Kreis ihrer jugendlichen Freunde verhält sie sich aber trotz vieler Verbote ihrer Eltern nahezu so wie die »westlichen Idioten«, wie ihr Vater es einmal formuliert. Sie spielt in ihrer Freizeit Fußball (nicht im Verein), tanzt gern, und es gibt auch einen gleichaltrigen Jungen, an dem sie offenbar interessiert ist.

Dennoch schildert der Film auch ihren - trotz einiger Reibereien - liebevollen Umgang mit ihrer Familie. Damit ist es aber schlagartig quasi vorbei, als ihr Vater eines Abends in ihrem Zimmer besagten Daniel entdeckt, und man trotz der gegenteiligen Beteuerungen beider von sexuellen Handlungen ausgeht, der Vater auf Daniel einschlägt und Nisha gegenüber sogar eine Morddrohung ausstößt.

Was werden die Leute sagen (Iram Haq)

Bildmaterial: Pandora Film

Ein durch den Lärm aufgerüttelter Nachbar ruft die Polizei und Nisha verbringt eine Nacht bei der Polizei, wobei die Betreuung durch Polizei und einer dem Jugendamt oder einer Art »Frauenhaus« entsprechenden Behörde beispielhaft bis fast überzogen vorbildlich wirkt, bei jedem Versuch der Schlichtung mit dem Vater aber eine zunehmend oppressive Stimmung den Film prägt.

Und als Nisha von Vater und Bruder zu einem »Ausflug« mitgenommen werden, wäre ich, wenn ich nicht um den frühen Zeitpunkt im Film gewusst hätte, sicher davon ausgegangen, dass die beiden Männer das »schamlose Flittchen« (wie Nisha mal an anderer Stelle genannt wird) zwischendurch bei einer Fahrt mit einer Fähre mal eben über die Reling geschubst hätten. Und obwohl ich es besser wusste, war diese Gefahr wirklich greifbar.

Der titelgebende Satz des Films, der im Film immer wieder für die vermeintlich schrecklichen Konsequenzen steht, die Nishas Familie durch ihr »Fehlverhalten« erleidet (ihre Beteuerungen, sie hätte »nichts Schlimmes« gemacht, fallen auf taube Ohren), wird im Film übrigens zu keinem Zeitpunkt auf Norwegisch ausgestoßen, sondern auf Urdu (»log kya kahenge«). Regisseurin Iram Haq, die ihre eigene Geschichte als 14jährige in einen Spielfilm verwandelte, wägt im Film durchdacht ab, inwiefern sie Norwegen als Heimat darstellt oder den »fremden« Migrationshintergrund (sie hat zu Beginn des Films beispielsweise keinerlei Bezug zur pakistanischen Küche) als für die Identität Nishas als prägend darstellt.

Was werden die Leute sagen (Iram Haq)

Bildmaterial: Pandora Film

Während ich den Text so schreibe, habe ich entschieden, dass ich mit dem »Ausflug« und der Fährenszene meine Inhaltsangabe größtenteils beende, selbst, wenn zu dem Zeitpunkt kaum der halbe Film beendet ist. (Zu diesem Zeitpunkt des Films zweifelte ich übrigens, ob ich unbedingt noch einen dritten Film zu diesem Thema sehen muss, diese Einstellung habe ich dann aber im weiteren Verlauf komplett revidiert).

Beim realen »Ausflug«, so wie die Regisseurin es erlebt hat, besuchten Vater und Bruder noch mit ihr den Vergnügungspark Tivoli und die bedrohliche Situation wurde durch einen tatsächlichen »Ausflug« versucht, fröhlicher zu gestalten. Aber Iram Haq musste einsehen, dass die Realität in Spielfilmen oft unglaubwürdig wirkt, weshalb die Szene herausfiel. Im Nachhinein kann man sich den Jahrmarktausflug aber sehr gut vorstellen, weil die ambivalenten Empfindungen des Vaters im Film eine wichtige Rolle spielen.

Was werden die Leute sagen (Iram Haq)

Bildmaterial: Pandora Film

Obwohl es im Film immer wieder um die patriarchalen Traditionen geht und der Vater quasi »durch äußeren Zwang« zum Bösewicht des Films wird, erkennt man dennoch, dass er seine Tochter trotz allem, was er ihr antut, liebt. Viel erschreckender ist eigentlich, wie die anderen Frauen als »Erfüllungsgehilfinnen« bei der Unterdrückung des eigenen Geschlechts mithelfen - von den Abgründen, die sich bei Bruder Asif und einem anderen jungen Mann auftun, gar nicht zu sprechen.

Ungeachtet der leichten dramaturgischen Veränderungen der Geschichte entspricht der Handlungsverlauf von Hva vil folk si eigentlich kaum den filmischen Handlungskonventionen wie einer bestimmten Aktstruktur. Doch selbst, wenn man nicht von der autobiografischen Quelle weiß (wie es bei mir während des Films war), wirkt der Film durch seine unvermuteten Wendungen noch authentischer.

Was Iram Haq aber am besten gelungen ist: Sie erzählt die Geschichte nicht nur strikt aus ihrer Perspektive, sondern zeigt gerade dem Vater gegenüber auch Mitgefühl. Er ist mehr als nur ein herzloser Bösewicht, er ist in den Traditionen des Patriarchats so gefangen wie die Tochter. Nur nicht als Opfer, sondern als Täter. Das habe ich so bisher noch nicht in einem Film vermittelt bekommen.