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4. Juli 2018 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||
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Originaltitel: Poesìa sin fin, Frankreich / Chile 2016, Buch, Production Design: Alejando Jodorowsky, Kamera: Christopher Doyle, Schnitt: Maryline Monthieux, Musik: Adan Jodorowsky, Kostüme: Pascale Montandon-Jodorowsky, Art Direction: Patricio Aguilar, Denise Lira-Ratinoff, mit Adan Jodorowsky (der junge Alejandro), Pamela Flores (Sara Felicidad / Stella Díaz Varín), Brontis Jodorowsky (Jaime), Leandro Taub (Enrique Lihn), Jeremias Herskowitz (Alejandrito), Alejando Jodorowsky (Alejando Jodorowsky), Julia Avedaño (Pequeñita), Bastían Bodenhöfer (General Carlos Ibáñez del Campo), Carolyn Carson (María Lefevre), Adonis (André Racz), 128 Min., Kinostart: 19. Juli 2018
Wenn man unbeleckt ist (manche würden die Vokabel »Ignorant« benutzen), kann man dazu auch stehen. Wenn mich vor dem Film jemand gefragt hätte, wer Alejandro Jodorowsky ist, hätte ich (etwas unsicher) geantwortet, der habe mal irgendwann zusammen mit Moebius Comics gemacht. Ob das stimmt, habe ich immer noch nicht überprüft, aber neben der Aussicht, ein neues, noch nie besuchtes Kino in Berlin auszutesten, war das die Motivation für mich, die Pressevorführung wahrzunehmen.
Vor dem Film wird man informiert, dass es sich hier um den zweiten Teil einer geplanten autobiographischen Trilogie handelt, spätestens beim Vorspann erfährt man dann noch, dass das Ganze durch Crowdfunding möglich wurde.
Und die Idee Jodorowskys, die eigene Vergangenheit über Schwarzweiß-Kulissen darzustellen, die teilweise wie Jalousien die ähnlichen Gebäude dahinter verdecken (mit schwarzweißen Pappkameraden arbeitet man auch ausgiebig), ist erst mal ziemlich ansprechend.
Aus dem Film hat es sich mir nicht erschlossen, was wohl im ersten Teil der Trilogie (La danza de la realidad, 2013) passiert sein muss, während sehr deutlich wird, wo der nächste Teil anschließen wird. Größtenteils wird Alejandro von seinem jüngeren Sohn Adan Jodorowsky gespielt, er tritt aber auch als Selbstdarsteller auf und einen Kinderdarsteller für den kleinen Alejandrito hat man auch gefunden. Dessen strenger Vater Jaime wiederum wird von einem anderen Sohn des Regisseurs, Brontis gespielt, der passenderweise ca. zwanzig Jahre älter ist als sein (Halb-?)Bruder Adan. Ein anderes Familienmitglied hat sich um die Musik gekümmert, somit ist das Ganze vor wie hinter der Kamera eine echte Familienangelegenheit.
Ein kleines Kabinettstück in der Besetzung ist Pamela Flores. Sie spielt nicht nur die fast ausschließlich im Opernstil singend kommunizierende Mutter der Hauptfigur (auch schon im ersten Teil), sondern auch noch die wie ein Transvestit wirkende Dichterin Stella Díaz Varín. Ich muss zugeben, dass mir die Doppelbesetzung während des Films nicht klar wurde, so unterschiedlich waren die Figuren angesetzt.
Der Film ist generell von seltsamen Figuren bevölkert. Gleich zu Beginn ist ein Kleinwüchsiger wie Hitler ausstaffiert, während ein anderer Nazi Stelzen unter den Beinkleidern versteckt, unzählige Passanten Masken tragen oder man einen Kindersarg als Accessoire mit sich führt. Was genau diese ganzen absurden Elemente über das Santiago de Chile der 1950er aussagen, kann ich nicht ermessen, aber zumindest ist das Ganze abwechslungsreich im Dekor.
Da ich vor weniger als 24 Stunden auch die Kritik zu Marvin ou la belle éducation schrieb, komme ich nicht umhin, Ähnlichkeiten in den Kindheitsbeschreibungen von Alejandrito und Marvin zu entdecken. Vater Jaime ist noch brüsker als Marvins Vater, er lässt den kleinen Sohn etwa beobachten, was die Kunden im Familiengeschäft so treiben, und als dann ein Dieb entdeckt wird, drängt er den Sohn auf den am Boden liegenden Mann einzutreten. Bullying und gefordertes »männliches« Verhalten (»Männer weinen nicht«) ist hier wie dort Standard und auch Alejandrito muss sich mit homophoben Beschimpfungen abgeben, obwohl man im weiteren Verlauf des Films erkennt, dass er gar nicht schwul, sondern »nur« Künstler ist. Eine Emanzipation wie eine spätere Versöhnung gehört auch hier zum guten Ton, und die Weggefährten sind nur etwas exaltierter und Alejandro wirkt von Anfang an zielsicherer - wie das halt in Autobiographien so ist.
Die eigentliche Geschichte wirkt indes etwas fragmentarischer, eine dramatische Dreiecksgeschichte bekommt man etwa erst im Nachhinein in einem hingeschmissenen Satz »halb erklärt«, Theatralik, Symbolik und extravagante visuelle Ideen bestimmen den ganzen Film, verlieren aber im Verlauf der Geschichte, während man als Zuschauer begreift, dass das mit der »Endlosigkeit« durchaus wortwörtlich gemeint zu sein scheint, immer mehr an inszenatorischer (oder wahrgenommener) Wucht.
Ich gebe zu, dass mein größtes Problem am Film der Hauptdarsteller ist, der mich irgendwie an Steve Coogan oder sogar Borat erinnerte und wie ein possenreißender Harlekin durch den Film springt (ich übertreibe etwas, schildere eher meinen Eindruck), was die teilweise hochemotionalen Vorgänge an mir abperlen ließ. Es gab zwar ganz großartige Momente und visuelle Ideen (etwa der riesige ausgestopfte Büffelkopf über dem Bettende im ansonsten sehr hausbacken wirkenden Schlafzimmer des Vaters, an dessen Horn auch noch ein Halfter mit Pistole hängt), aber die etwas andere Darstellung des Prinzips von Poesie und Kunst, verquirlt mit dem definitiv nicht bürgerlichen Lebensstil des sich hier selbst abfeiernden Künstlers hat mich nie wirklich erreicht (abgesehen von der Szene mit dem Dieb, die mich an ein ähnliches Ereignis in der eigenen Biographie erinnerte). Chile und Jahrzehnte vor meiner Geburt und der expressive Stil Jodorowskys waren zusammen für mich etwas viel (und im Kino war es auch recht warm und es gab keine Cola zum Wachhalten dazu).
Ich habe in meinem Kino-Leben schon andere »abgedrehte« Filme aus fernen Ländern gesehen, wenn man sich solchen Spektakeln wie Träumen hingibt, kann man durchaus hier und da Anknüpfungspunkte finden, in diesem Fall waren es für mich zu wenige, aber diese Art von Filmen kann man glaube ich auch nicht für andere Zuschauer mitbewerten, da muss jeder für sich entscheiden, wie sehr man berührt oder fasziniert wird. Ein Blick in den Trailer und die eigene Psyche ist da vermutlich individuell aussagekräftiger.
Deutschland / Frankreich / Brasilien 2017, Kamera: Juan Sarmiento G., Schnitt: Felix von Boehm, Musik: Benedikt Schiefer, mit Ibrahim Al Hussein, Qutaiba Nafea u.v.a., 97 Min., Kinostart: 5. Juli 2018
Ein Dokumentarfilm über den stillgelegten Berliner Flughafen Tempelhof, der zu einem riesigen Auffanglager für Flüchtlinge wurde - klingt erst mal super.
Man dokumentiert zwar auch die ansässige Bürokratie oder die drumherum Streife fahrenden Polizisten, aber vor allem geht es um die Perspektive der Flüchtlinge selbst, die nicht wissen, wie es weiter geht, ob sie aufgenommen oder zurückgeschickt werden, die Deutsch lernen, während aus den angestrebten Monaten für den Entscheid auch Jahre werden können.
Dies birgt natürlich auch Gefahren für den Dokumentarfilmer, der nicht weiß, ob seine Protagonisten für die gesamte Zeit des auf ein Jahr geplanten Beobachtungszeitraum verfügbar bleiben. Eine flexible Herangehensweise ist unumgänglich bei dem Projekt, dessen Endform sich erst während der Dreharbeiten (oder sogar danach) ergibt.
Regisseur Karim Aïnouz (dem Namen merkt man nicht an, dass er trotz algerischer Wurzeln eigentlich aus Brasilien stammt) übertreibt es vielleicht ein wenig mit der Anzahl der Facetten des Flughafengebiets, die er präsentieren will. Gleich zu Beginn steigt man in eine historische Führung ein, die aber nur bruchstückhaft bleibt, wie ein Kompromiss für Zuschauer wirkt, die so gar nichts über den Spielort des Films wissen und einer gewissen Einführung bedürfen.
Ich als Berliner (oder Zugezogener, der seit knapp zwanzig Jahren in Berlin lebt) weiß natürlich um die Grundsituation und Teile der Historie, wodurch mir die längeren Passagen über die Nutzung des Freigeländes erscheinen, als zersetzen sie die »eigentliche« Thematik des Films, die auch ein wenig flüchtig bleibt. Zwei Protagonisten schälen sich langsam aus dem Material heraus, der eine, Ibrahim Al Hussein, Anfang 20, aus Aleppo stammend, fungiert auch als Erzähler und schildert seine Hoffnungen und Erfahrungen, der andere, Qutaiba Nafea, Mitte 30, war im Irak zwar ein diplomierter Arzt (Physiotherapie), wird aber trotz seiner Ausbildung eher wie ein Hilfsarbeiter eingesetzt, was für ihn schwierig ist und von außen betrachtet wie eine Verschwendung wirkt.
Die Einblicke, die der Film gestattet, sind aufschlussreich, die Sondersituation einer Dokumentation würdig, gerade auch, weil man ja meistens nur einen Blick »von außen« gewahr wird, das Alltagsleben und die Bemühungen der in Statistiken zu verschwindenden Personen so selten zu sehen bekommt.
Der Film büßt aber einiges an überzeugungskraft dadurch ein, dass das scheinbar so konkrete Erzählgerüst (zwölf chronologisch vorgeführte Einzelteile werden durch die Monate eines Jahres markiert) nicht stimmig wirkt. Wenn man mal darüber hinwegsieht, dass die vermutlich arabischen Monatseinblendungen, die dann jeweils mit Januar, Februar etc. übersetzt werden, eine gewisse Verwirrung dadurch auslösen, dass der islamische Kalender mit dem westlichen nicht deckungsgleich ist (im arabischen Raum gibt es zwar auch zwölf Monate, aber sie sind etwas kürzer, so dass aus westlicher Sicht etwa der Fastenmonat Ramadan jedes Jahr elf tage früher als im Vorjahr beginnt), gibt es auch im Verlauf des Films mehrfach Statements der Protagonisten, die angesichts der »Kapitel« des Films bis zu zwei oder drei Monate vom suggerierten Zeitpunkt abweichen. Als Zuschauer bekommt man gesagt, man sei jetzt beispielsweise im April, und im Film sagt jemand «ich warte jetzt seit zwei Monaten, also seit Dezember». Da fühlt man sich natürlich ziemlich verschaukelt - um nicht zu sagen angelogen - und fragt sich zweierlei: Ist dies dem Regisseur oder dem Cutter (der hier übrigens auch der Produzent ist) nicht aufgefallen? (Was fatal wäre.) Oder warum hat man sich, wenn man sich der Abweichung bewusst war (und vieles deutet darauf, dass man aus dramaturgischen Gründen etwas »frei« mit der Chronologie des Materials umging), dafür entschieden, diese rigide Kapiteleinteilung einzusetzen? Ich denke, dass es etwa mit Jahreszeiten doch genauso gut (bzw. halt besser!) funktioniert hätte.
Man muss ja an dieses Problem gar nicht so fein sensibilisiert herangehen wie ich, um das Problem wahrzunehmen (das Freudenfeuerwerk zum Jahreswechsel findet streng genommen nicht im Dezember statt, wie es der Film suggeriert, sondern erst ab 0 Uhr, also im Januar). Das klingt natürlich wieder (und meine Leser kennen das) wie eine Menge Korinthenkackerei, aber wenn einem ein Film, und das offenbar wissentlich, das Vertrauen entzieht, fällt es selbst bei politisch gleicher Gesinnung schwer, die propagierten »Wahrheiten« als solche zu akzeptieren. Und damit schießen sich die Filmemacher quasi selbst ins Bein und die lobenswerten Ambitionen verpuffen.
Originaltitel: Submergence, Buch: Erin Dignam, Lit. Vorlage: J.M. Ledgard, Kamera: Benoît Debie, Schnitt: Toni Froschhammer, Musik: Fernandez Velázquez, Szenenbild: Thierry Flamand, mit James McAvoy (James More), Alicia Vikander (Danny Flinders), Alexander Siddig (Dr. Shadid), Celyn Jones (Thumbs), Reda Kateb (Saif), Hakeemshady Mohamed (Amir Yusuf Al-Afghani), 112 Min., Kinostart: 2. August 2018
»Tiefe, Sehnsucht, Liebe« - manchmal ist mein Eindruck von Plakatsprüchen, dass man das Publikum warnen will. Leider sah ich das Plakat aber erst, nachdem ich den Film gesehen habe, der schon durch die Besetzung mit Alicia Vikander und Alexander Siddig meine Aufmerksamkeit auf sich zog (mit James McAvoy habe ich kein richtiges Problem, ich stehe ihm ähnlich neutral gegenüber wie Matt Damon).
Passend zum Posterspruch geht es im Film unter anderem um eine vermeintlich »große« Liebe, die aber als intensive Urlaubsbekanntschaft in der Vergangenheit liegt (auch narrativ wie ein Flashback in Wechselwirkung eingebettet), während die Haupthandlung sich mit der Trennung der beiden und den symbolkräftig parallelisierten »Abenteuern« voller Sehnsucht beschäftigt. Wobei die Tiefe sich wortwörtlich auslegen lässt, denn der Spion James More (McAvoy) sitzt tief in einem Kerker von Islamisten, während sich die Ozeanologin (im Film als Biomathematikerin beschrieben, aber damit kann ja niemand etwas anfangen) Danielle »Danny« Flinders auf einen gefährlichen Tauchgang vorbereitet.
In der Romanvorlage zum Film, so habe ich mir sagen lassen, ist »James« anfänglich gar nicht als Spion erkennbar, sondern man lernt ihn als Wasser-Ingeniör kennen, der in Somalia helfen will und dann verhört und gefoltert wird. Wim Wenders zäumt das Pferd andersherum auf und lässt uns sehen, wie »James« (der Vorname an sich wirkt schon so absurd bis idiotisch angesichts gewisser Parallelen) geheime Unterredungen in einem Museum führt (nirgends fällt es wahrscheinlich so auf wie in Museen und Bibliotheken, wenn sich vermeintlich Fremde im Aneinandervorbeigehen etwas zuraunen) oder sogar ein Implantat in seinem Gewiss bekommt - wenn auch nicht von Q.
Vor dem Auftrag bekam er noch etwas Zeit zum Relaxen und trifft in einem exklusiven Hotel in der Normandie auf Danny, und die »große Liebe« wird durch die angerissene Thriller-Handlung (die nie zum Thriller wird, sondern nur Versatzstücke anreißt) auch nicht glaubwürdiger, der Film entwickelt keine Spannung und plätschert stattdessen möchtegernphilosophisch daher, dass ich irgendwann selbst für möglich gehalten hätte, dass Danny mit ihrer Taucherglocke vor einem Strand auftaucht, um dort James zu retten (wobei ich bezweifle, aber nicht neugierig genug bin, ob das geographisch überhaupt möglich ist).
Meine langjährige Enttäuschung durch Wim Wenders (seit Buena Vista Social Club und - im Ansatz - The Million Dollar Hotel hat mich keiner der nicht durchgängig gesichteten Filme des Herrn mehr überzeugt) findet in diesem Film, der von Anfang an Probleme hat, dann aber niveautechnisch tatsächlich gen Meeresboden strebt, einen neuen Tiefpunkt.
Die Lovestory ist geprägt von unglaublich dämlichen Dialogen wie »I hadn't even time to shower« - »I love the smell of sweat«, der Oberbösewicht war 2001 natürlich ein persönlicher Freund von Osama bin Laden, und dass die knapp 30 Lenze zählender Alicia Vikander eine Professorin (!) für Biomathematik sein soll, sticht selbst noch »Rechtsanwältin« Julia Roberts in The Pelican Brief aus.
Die Turteltauben tauschen sich über ihren Lieblingsozean aus (!), das Forschungsschiff heißt L'atalante, Wenders hat ja auch mal irgendwas von Filmgeschichte gehört. Der vermeintliche Agententhriller steckt im zweiten Gang fest, kann nicht mal Fahrt aufnehmen, wenn man sich abwärts bewegt, und mit einer fetten Musiksuppe wird aus dem Ganzen ein schreckliches Esoterikgedöns, wobei auch die Rolle von Alexander Siddig als aufrechtem Arzt, der sich mit dem gefangenen »James« anfreundet, ein Wegwerfprodukt bleibt. Und der narrative Kniff mit den parallel montierten Szenen hilft dem Film nicht wirklich und wird zunehmend zu einem Ärgernis, weil man als Zuschauer über die zahlreichen Wasserverweise irgendeinen Sinn in das Ganze hineinbringen soll. So jedenfalls mein Eindruck.
Während in der Nähe von James und seinem Doktor Islamisten eine Frau einbuddeln und ein Junge gesteinigt wird (der »gute« Doktor hat allein keine Chance, das politische Ungleichgewicht des Films auszugleichen), habe ich auch schon sämtliche Empathie für selbst die energischsten Appelle Wenders an mein Mitgefühl verloren, sitze nur noch apathisch im Kinosessel, warte auf das Ende und bin allerhöchstens noch daran interessiert, wie schlimm selbiges Ende ausfallen wird. Spoiler: ziemlich schlimm.
Originaltitel: Shelter, Israel / Deutschland / Frankreich 2017, Buch: Eran Riklis, Lit. Vorlage: Shulamith Hareven, Kamera: Sebastian Edschmidt, Schnitt: Richard Marizy, Musik: Yonatan Riklis, mit Neta Riskin (Naomi / Clara), Golshifteh Farahani (Mona / Nina), Yehuda Almagor (Avner), Doraid Liddawi (Naim), David Hamade (Yussef), August Wittgenstein (Sebastian), Mark Waschke (Bernhard), Haluk Bilginer (Ahmet), Lior Ashkenazi (Gad), 93 Min., Kinostart: 9. August 2018
Bei einem früheren Auftrag muss etwas schief gegangen sein, und so möge sich Naomi (Neta Riskin) glücklich schätzen, dass sie durch einen kleinen »Babysitting«-Auftrag die Chance bekommt, in den Rängen der Mossad einen neuen Anlauf versuchen zu dürfen. Mit neuem (deutschen) Pass soll sie als »Claudia Weber« in Hamburg in einer sicheren Wohnung für wenige Wochen mit der Libanesin Mona (Golshifteh Farahani aus Paterson) zusammenziehen und ein wenig auf die instabile, auf eine Gesichtsoperation wartende Frau aufzupassen. Trotz der unterschiedlichen Herkunft vereint vieles die Frauen (etwa, dass sie sich beide unter falschem Namen kennenlernen) und langsam entspinnt sich eine zarte Freundschaft, während die sichere Wohnung sich als doch nicht so sicher erweist.
Der neue Film von Eran Riklis (Die syrische Braut, Lemon Tree, The Human Resources Manager, Playoff, Mein Herz tanzt) wird mit kernigen Taglines umworben. Auf dem Plakat prangt »Zwei Frauen, zwei Wochen, zwei Welten«, im »Statement des Regisseurs« im Presseheft beginnt Riklis sogar mit folgenden inhaltsumreißenden Sätzen:
Zwei Frauen. NAOMI. Sie ist Israeli. Sie ist tough. Sie ist schwach. Sie versucht schwanger zu werden. Sie ist Agentin des Mossad. MONA. Sie ist Libanesin. Sie ist tough. Sie ist schwach. Sie arbeitet für den Mossad. Dafür muss sie einen hohen Preis zahlen. Naomi gleicht einem japanischen Haiku. Mona gleicht einem Hafiz.
Ich habe keinen Schimmer, was ein Hafiz ist und sehe auch keine Notwendigkeit, für diese Rezension eine umfassende Recherche fremder Gedichtformen zu unternehmen. Ich weiß nur: Wenn eine Frau »einem Haiku gleicht«, dann sagt das weniger über die Frau aus als über ein allzu holzschnittartiges Drehbuch.
Die von einer Frau geschriebene Kurzgeschichte (oder Kurzgeschichten?), die als Grundlage dieses Films fungiert / fungieren, habe ich auch nicht gelesen. Ich nehme aber an, dass sie stimmiger wirkt als die Verfilmung, die sich durch den kaum präsenten Spielort Hamburg für deutsche Fördertöpfe qualifiziert, aber dort ebenso fremd wirkt wie zuletzt Anton Corbijns A Most Wanted Man, der als internationaler Thriller ebenso kläglich versagte.
Das Problem bei Shelter (so der Originaltitel) ist, dass einfach gar nichts stimmt. Das beginnt mit der Frauenfreundschaft, bei der man das Gespür für die Figuren vermissen lässt. Wie sich die beiden durchaus bemühten Darstellerinnen näherkommen, das fühlt sich so an wie Riklis' wuchtig-hilflose Kurzsätze. Nach und nach offenbart man sich gegenseitig die schweren Schicksale, ganz abgestimmt auf die Dramaturgie des Drehbuchs. Man schminkt und trinkt wie auf einer Avon-Party, sogar eine sexuelle Nähe wird mehrfach angedeutet (»If i was a man I would go crazy for you«), aber die beiden kommen als Figuren nie über den Status »Drehbuchkonstruktion« hinaus. Für eine entstellte Frau unter einem Gesichtsverband ist Golshifteh Farahani durchgehend zu ästhetisch in Szene (und Robe) gesetzt, um eine wirkliche Tragik erkennen zu lassen. Und als bestens ausgebildete Mossad-Agentin, die als Deutsche (in Deutschland) auftritt, sollte »Clara Weber« nicht bei den bedrohlichen anonymen Anrufen, die zu den äußeren Umständen gehören, die Gefahr signalisieren, mit »Du hast dich verwählt!« antworten. Als Donaldist duze ich ca. 90% meines Umfelds, aber einen mir unbekannten Anrufer würde ich nur dann nicht siezen, wenn es ein Kind oder Jugendlicher wäre (was in diesem Fall offensichtlich nicht zutrifft).
Der Film ist etwa ab der zweiten oder dritten Szene so off-key, dass für mich die Frauenfreundschaft mit ihren zahlreichen gut aufeinander abgestimmten Geheimnissen immer nur behauptet und unglaubwürdig dargestellt wirkte (die Schauspielerinnen trifft hier die geringste Schuld). Der Mossad-Vorgesetzte (Lior Ashkenazi) und andere männliche Nebenfiguren - seien sie sympathische Nachbarn, hochgefährliche Terroristen, Geheimagenten oder sämtliche denkbare Kombinationen - wirken allesamt wie Schachfiguren, die sich nach vorgefertigten Marschplänen bewegen, während die gesamte Handlung auf zwei oder drei »Überraschungen« hinarbeitet, die dann leider weder überraschen, berühren noch in irgendeiner Form die gefühlt mehreren Stunden holpriger Exposition zuvor rechtfertigen. Und die zahlreichen Unstimmigkeiten werden gegen Ende nur noch unübersehbarer.
Ich bin mir übrigens dessen bewusst, dass die Telefon-Duzerei als einziges konkret benanntes Beispiel für die Unstimmigkeiten und Verfehlungen des Films etwas schwach wirkt, aber es war jenes Beispiel, das man mit der geringsten Erklärung der komplizierten Handlung herauspicken konnte. Die in meiner Einschätzung erschreckend geringe Relevanz dieses Films rechtfertigt es nicht, an dieser Stelle eine Auflistung der »knapp vorbei ist auch daneben«-Details des Films anzufertigen. Und ich habe genügend Vertrauen in das Kinopublikum, diese Momente selbst wahrzunehmen. Und wer nichts davon mokiert und den Film als rundum gelungen einschätzt: umso besser für euch, ich will euch eure Freude ja nicht kaputt machen. Ich würde auch einem Kind nicht die Freude an Dumbo nehmen wollen, indem ich ihm die Probleme mit rassistischen Klischees erklären würde. Fakt ist: für mich hat Shelter - im Gegensatz zu Dumbo - kein Stück funktioniert, und ich war damit nicht allein (auch, wenn ich auch schon vergleichsweise Lobhudeleien zum Film entdeckt habe).
Ich ging selten konform mit der häufiger vorkommenden Abfeierei von Riklis, aber nach diesem Film werde ich den Namen des Regisseurs bei noch folgenden Filmen eher als Warnung als als Anreiz verstehen.
Ende Juli in Cinemania 188:
Startaktuelle Rezensionen zu Deine Juliet (Mike Newell), Hotel Artemis (Drew Pearce), Safari - Match me if you can (Rudi Gaul) und Silvana (Mika Gustafson, Olivia Kastebring & Christina Tsiobanelis).
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