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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




22. November 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Jupiter's Moon (Kornél Mundruczó)


Jupiter's Moon
(Kornél Mundruczó)

Originaltitel: Jupiter holdja, Ungarn / Deutschland 2017, Buch: Kata Wéber, Kamera: Marcell Rév, Schnitt: Dávid Jancsó, Musik: Jed Kurzel, mit Merab Ninidze (Dr. Stern), Zsombor Jéger (Aryan), György Cserhalmi (László), Móni Balsai (Vera), András Bálint (Gabor Sterns Stimme), Farid Larbi (Bärtiger Syrer), Máté Mészáros (Sanitäter), Szabolcs Bede-Fazekas (Polizist), Lajos Valázsik (Mus), Péter Haumann (Zentai), Zsolt Nagy (Tätowierter Junge), Zoltán Mucsi (Kellner), 123 Min., Kinostart: 22. November 2019

Jupiter holdja ist filmästhetisch offensichtlich von einem der erfolgreichsten ungarischen Kinoexporte, Saul fia (Son of Saul), inspiriert. Man beginnt mit einer klaustrophopischen Szene eines überfüllten LKWs, lässt dann lange Kamerafahrten einer dramatischen Flucht inmitten von Kriegswirren folgen, nur mit dem Unterschied, dass diese Szenen nicht den KZ-Alltag schildern, sondern das heutige Schicksal von Flüchtlingen (ich habe mir die Bezeichnung »Flüchtende« noch nicht angewöhnen können, bitte etwas Geduld), die mit brutaler Gewalt davon abgehalten werden sollen, in Europa eine zweite Chance zu erhalten.

»Auf der anderen Seite ist Europa« erfahren wir im Fluchtgewimmel, »He's my son« heißt es von zwei der Protagonisten, die Anknüpfungspunkte sind unübersehbar, auch die inszenatorische Wucht vergleichbar, der logistische Aufwand scheint immens bei der durch versteckte Schnitte gestreckten Plansequenz.

Jupiter's Moon (Kornél Mundruczó)

2017 © Proton Cinema - Match Factory Productions - KNM

Aus dem »Wir treffen uns am Ufer« der beiden Figuren wird aber nichts, und plötzlich dreht sich der Ansatz des Films um 180 Grad, denn der junge Aryan wird von Kugeln getroffen, man sieht das Blut wie in Zeitlupe und schwerelos in Kügelchen aus seinem Körper treten (wie in dem einen Star-Trek-Film, nur nicht so klingonisch violett), ehe dann Aryan selbst abhebt und man erstmals die Effektshow erlebt, die fortan den Film prägen wird.

Ich bin generell fantastischen Filmstoffen eher zugeneigt, aber in diesem Fall wurde ich mit der Mischung aus der politischen Kolportage-Story um Schwarzmarkt und Ärzte und den Superkräften des umherirrenden Flüchtlings nicht so richtig warm.

Jupiter's Moon (Kornél Mundruczó)

2017 © Proton Cinema - Match Factory Productions - KNM

Nicht zuletzt auch, weil mir die Angeber-Masche des Films, die mich an Ärgernisse wie Hardcore erinnerte, irgendwie zuwider war. Okay, der Knabe kann fliegen, und man macht daraus den großen Stauneffekt, wie man ihn seit Richard Donners Superman nicht mehr so exponiert erlebt hat. Die Kamera kippt zur Seite, die Naturgesetze werden aufgehoben, und bevorzugt setzt man Drohnenaufnahmen ein, in denen man den reinkopierten »Flieger« vor größeren Statistenmengen am Boden sieht - wobei man aber, wenn man sonst keine Hobbys hat, auch immer wieder sehen kann, dass die überforderten Statisten halt nicht immer in Richtung des für sie unsichtbaren Phänomens schauen, weil sie wohl nicht perfekt instruiert waren.

Laut Filmplakat führte dies dazu, dass das Branchenfachblatt Variety ins Schwelgen kam: »Atemberaubend, oft betörend und immer visuell erfinderisch«. Aber auch die Variety ist nur so gut wie ihre Autoren (ich lasse jetzt mal außer Acht, wie der Kollege vermutlich im übernächsten Satz auch die weniger gelungenen Aspekte des Films beschrieb), und ich muss sagen, dass man bei einer solchen one trick pony Show mit einem immer wieder variierten Haupteffekt, der schnell bis zur Ermüdung wiederholt wird, nicht wirklich von Erfindungsreichtum sprechen kann. Zugegeben, man erwartet in diesem Umfeld und bei dieser Herkunft des Films nicht so eine Effekte-Orgie, aber man hat es eindeutig etwas übertrieben, und auch, wenn ich mir sicher bin, dass ich von einigen politischen Nuancen der Filmhandlung überfordert wurde, so konnte doch die eigentliche Story die erzählerische Konfrontation nicht ausgleichen.

Jupiter's Moon (Kornél Mundruczó)

2017 © Proton Cinema - Match Factory Productions - KNM

Wenn man jetzt von Parallelen der Filmhandlung zu Politskandalen in Ungarn weiß, wird das Ganze vermutlich schnell viel interessanter, aber abgesehen davon, dass »Dr. Stern« eine hübsch ambivalente Figur ist, die oft hilft, aber auch immer auf den eigenen Profit fokussiert ist, konnte ich mit der von Spektakelszenen getragenen Zwei-Stunden-Story wirklich nicht viel anfangen. Man erfährt nach und nach mehr über Aryan, der auch ein wenig Eigeninitiative entwickelt, aber eigentlich fühlt man sich eher wie ein unbeteiligter Beobachter, wird nicht in eine prägnante Geschichte hineingezogen, deren Ausgang von irgendeinem Interesse beseelt wird. Ganz im Gegenteil, das traumhafte, metaphorisch-esoterische Grundgefühl, von dem der Film durchtränkt ist, verhindert fast schon die gesteigerte Anteilnahme.

Ich habe so meinen Anteil an Außenseiter-Geschichten durchlebt im Kino, und Gestalten wie Edward Scissorhands, Frankensteins Monster oder Klaatu (bitte nicht in der Keanu-Reeves-Version) waren einfach besser gestaltet. Selbst John Travolta als Engel, dessen Namen ich längst vergessen habe (Michael?), hat mehr Eindruck auf mich gemacht als dieser Coming-of-Age-»Flieger« (»Grüß mir die Sonne!«), der ein wenig wie die die politisch relevantere Variation von Dumbo als zukünftiges Mitglied der X-Men daherzukommen scheint, aber über den Status eines cineastischen Zirkusfreaks nicht so recht hinauskommt. Daran ändern die inszenatorischen Erinnerungen an andere, gelungenere Filme, die wie Children of Men oder Sicario ihre Effekte mit mehr Zurückhaltung in den Dienst der Geschichte stellten, nicht das Geringste.

Jupiter's Moon (Kornél Mundruczó)

2017 © Proton Cinema - Match Factory Productions - KNM

Aber, wie gesagt, es scheint nicht abwegig, dass die Mär mit mehr Hintergrundwissen (über die unschwer erkennbare Christus-Figur im Körper des syrischen Flüchtlings hinaus) einen größeren Handlungs-Sog entwickeln kann. Da komme ich mir ein bisschen vor wie ein Thailänder, der Stammheim schaut. Und damit ich nach dem Film Wikipedia durchforste, muss mich der Film einfach mehr ansprechen.

Ach ja, falls jemand die Info unbedingt benötigt: Einer der Monde des Jupiter heißt natürlich Europa. Das reicht aber auch nicht, um den Film für mich aufzuwerten.