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31. Dezember 2018
Thomas Vorwerk
für Applaus, wiederbelebt für satt.org


Die Wüste lebt

Der im September 2017 mit 91 Jahren verstorbene Harry Dean Stanton war nie der Traum von Schwiegermüttern, sondern ein Charakterdarsteller, der sich vor allem durch seine beständige Überzeugungskraft als Nebendarsteller in die Herzen der Kinogänger schlich. Er spielte oft den bodenständigen Arbeitertyp, der sich aber selbst an Bord eines Raumschiffs (Ridley Scotts Alien) ins Gesamtbild fügte und Authentizität versprühte.

Gut dreißig Jahre nach Wim Wenders' Paris, Texas, an den Stantons Rolle als »Lucky« thematisch anzuknüpfen scheint, bekam er zum Abschied seine zweite echte Hauptrolle, nach sechzig Jahren Schauspielkarriere und fast 200 Film- und Fernsehrollen.

Der Regisseur von Lucky ist John Carroll Lynch, ein Regiedebütant, der seine Schauspielkarriere auf ähnliche Art wie Stanton bestritt. Als fülliger Kerl mit deutlichem Glatzenansatz ist auch Lynch kein leading man, der einem vom Filmplakat entgegenlächelt, sondern jemand, den der häufige Kinogänger wiedererkennt und meist nicht zuordnen kann. Zu seinen bekanntesten Rollen gehört vermutlich der Ehemann von Frances McDormand in Fargo oder jüngst einer der McDonald-Brüder in The Founder.

Regieambitionen hatte Lynch schon länger, doch erst, als ihm das Drehbuch zu Lucky zugespielt wurde, machte er den entscheidenden Schritt. Das bei aller Lakonie und Melancholie lebensbejahende und sehr witzige Buch wurde dem knorrigen Stanton auf den Leib geschneidert wurde und zeugt von einer intimen Verbundenheit der Autoren mit ihrem Hauptdarsteller. Das eigentümliche Begrüßungsritual mit dem Diner-Chef Joe, bei dem Lucky täglich einkehrt, wurde beispielsweise 1:1 aus Stantons Alltag übernommen.

Der Rollenname »Lucky« scheint nicht recht zu passen auf den etwas mürrischen alten Herren, dessen Alltagsroutine von der Morgengymnastik bis zum abendlichen Kneipenbesuch der Film geradezu zelebriert. Als Lucky sich aber nach einer Ohnmacht bei seinem Arzt meldet und dieser ihm attestiert, er sei trotz seines biblischen Alters kerngesund, und nur feststellt »Sie sind alt und werden jeden Tag älter!«, so wirkt das wie ein Erklärungsversuch für den Namen.

Lange, bevor man im Film erstmals Stantons Gesicht sieht (der erste Durchlauf der morgendlichen Routine zieht diesen Moment etwas in die Länge), erblickt man in der unbestimmten, zutiefst amerikanischen Wüstenlandschaft eine Schildkröte, die unbeirrbar ihres Weges zieht. Hierbei handelt es sich vermutlich um das nach dem Präsidenten benannte »entlaufene« Haustier »Roosevelt« von Luckys Kumpan Howard (David Lynch, der Stanton mehrfach in seinen Filmen besetzte). In Paris, Texas wanderte Stanton ja auf seiner eigentümlichen Mission durch die Wüste und wirkte dabei wie die 1980er-Independent-Version eines spätklassischen Westernhelden wie der von John Wayne gespielte Ethan Edwards in The Searchers (Der schwarze Falke). Westernverweise gibt es mehrere im Film (der Schriftzug über einer Werkstatt, das Red-River-Mundharmonika-Thema) und es ist kein Zufall, dass ein Knabe namens Juan hier von Lucky im Spaß »Juan Wayne« genannt wird und dessen Geburtstagsfeier einer der Indikatoren für einen ungebrochenen Optimismus ist.

Obwohl in dem heruntergekommenen Wüstenstädtchen eine fatalistische Stimmung zu herrschen scheint, und selbst das rötliche Licht von der Digital-Zeitanzeige von Luckys Kaffeemaschine offenbar immer wieder ins Gedächtnis rufen will, dass alles hier im Limbus, der Vorhölle der Vergessenen, steckengeblieben ist (die Uhr steht nicht auf fünf vor zwölf, sondern blinkt dauerhaft »12:00«), versprüht der Film unter seiner rauhen Schale eine dauerhafte Freundlichkeit. Sogar das unheilvolle rote Licht, in dem später eine Nebenfigur zu verschwinden scheint, steht schließlich gar nicht für den Tod oder die Hölle, sondern eher für den Hintereingang eines Amüsierbetriebs.

Lucky ist bis in die kleinste Rolle vortrefflich besetzt mit vielen solcher Charakterköpfe wie Stanton (u.a. Ed Begley jr., James Darren, Tom Skerritt), hat nebenbei einen tollen Soundtrack (in dem auch Harry Dean Stanton noch mal zum Zuge kommt) - und belohnt den aufmerksamen Beobachter und jene Kinozuschauer, die den (durchaus an David Lynch oder Jim Jarmusch erinnernden) Humor im pseudophilosophischem Geplänkel erkennen. Ein unaufdringlicher wunderschöner Spaziergang einer »hundertjährigen Schildkröte«, die immer noch auf ansteckende Weise lächeln kann. We're lucky, indeed!


Der Film ist übrigens seit Anfang August als DVD etc. bei Alamode erhältlich.

Die Wüste lebt