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12. Januar 2019
Thomas Vorwerk
für satt.org


Diane
(Kent Jones)

USA 2018, Buch: Kent Jones, Kamera: Wyatt Garfield, Schnitt: Mike Selemon, Musik: Jeremiah Bornfield, Kostüme: Carisa Kelly, Production Design: Debbie DeVilla, Art Direction: Valeria De Felice, mit Mary Kay Place (Diane), Jake Lacy (Brian), Estelle Parsons (Mary), Andrea Martin (Bobbie), Deirdre O'Connell (Donna), Glynnis O'Connor (Dottie), Joyce Van Patten (Madge), Kerry Flanagan (Nurse Jackie), Phyllis Somerville (Ina), Celia Keenan-Bolger (Tally), Ray Iannicelli (Al Rymanowski), David Tuttle (Minister), Marcia Haufrecht (Carol Rymanowski), Mike Hartman (Bartender), Cara Yeates (Dorie), Gabriella Rhodeen (Carla), Charles Weldon (Tom), Danielle Ferland (Birdie Rymanowski), 95 Min.,
läuft bei #Unknown Pleasures #10, am 14.1. um 19 Uhr 30 im Berliner Kino Arsenal

Eigentlich sollte diese Kritik rechtzeitig zur Deutschland-Premiere des Films am Neujahrsabend, zur Eröffnung des American Independent Film Fest Unknown Pleasures #10 veröffentlicht werden, aber irgendwie kam dem Autoren das Leben dazwischen, und selbst zur Wiederholungsvorstellung am 14. Januar um 19 Uhr 30 im Arsenal 1 in Berlin musste er sich arg zusammenreißen.

Titelfigur Diane (Mary Kay Place, eine Fernsehschauspielerin, die vom Gesicht her fast jeder kennt) ist weitaus aufopferungsbereiter als Gevatter Hobby-Filmkritiker. Sie rennt von Pontius zu Pilates (blöder Scherz ohne Filmbezug), kümmert sich um Bekannte und Verwandte und findet dann noch genug Kraft, in einer Suppenküche für Bedürftige mitzuhelfen.

Diane (Kent Jones)

Quelle: Arsenal - Institut für Film und Videokunst © visitfilms.com

Die Frauen aus ihrem Umfeld (auch eine Menge Schauspielkoryphäen wie Estelle Parsons, Andrea Martin oder Joyce Van Patten) bewundern Diane, warnen sie aber auch immer wieder davor, dass ihre verzweifelten Versuche, ihren drogenabhängigen (und suboptimal ambitionierten) Sohn Brian zu retten, sie allerspätestens irgendwann zerbrechen lassen werden.

In der Frühphase des Films sieht es so aus, als wäre ihr Kampf um den Sohn das zentrale Element des Films, die vielschichtigen anderen Beziehungen Dianes wirken eher wie eine Ausstaffierung - was aber auch damit zusammenhängen kann, dass ich mit Ben is back und Beautiful Boy zu viele Filme in kurzer Zeit sah, die sich mit den Rettungsversuchen um drogenabhängige Söhne drehten.

Regisseur Kent Jones liefert hier sein Spielfilmdebüt, er war aber zuvor u.a. als Kritiker und Direktor des New York Film Festivals tätig oder drehte Dokus wie Hitchcock / Truffaut (der aktuell noch in der Mediathek von arte abrufbar sein müsste, ich glaube bis 24. Januar oder so...). Jones weiß offensichtlich genau, was er tut, gestaltet seinen Film aber sehr zurückgenommen. Man könnte auch Adjektive wie »spröde« oder »karg« benutzen. Aber diese Herangehensweise hat durchaus ihren Reiz. Und passt ungemein zu Dianes Umfeld.

Im Vergleich zu den anderen Drogensüchtigen in den anderen zwei Filmen, Ben und Nic, wirkt Brian am ablehnendsten, fast bösartigsten. Er will einfach nur seine Ruhe, lässt keine Gelegenheit aus, dies seiner Mutter zu sagen, lügt sie dreist und ungeschickt an und lässt sich in einem Moment sogar zu derbsten Beschimpfungen herab. Er lädt nur sehr eingeschränkt zur Sympathie ein.

Ich will an dieser Stelle nicht Dianes Leben außerhalb von Brian schildern, weil es eine der Freuden des Films ist, ihr Umfeld mit betonter erzählerischer Langsamkeit selbst kennenzulernen.

Diane (Kent Jones)

Quelle: Arsenal - Institut für Film und Videokunst © visitfilms.com

Diane ist gefühlt deutlich länger als 95 Minuten, was ich aber an dieser Stelle nicht als negatives Zeichen sehe, denn es ist beeindruckend, wie viel der Film in dieser kurzen Zeit auf schleichende Weise zu erzählen hat. Es gibt mehrere wirklich großartige Szenen, die so gleichmäßig über die Lauflänge verteilt sind, dass es fast erscheint, dass nichts Kent Jones weniger interessiert als ein Spannungsbogen.

Der Film dreht sich um Diane und ihr Leben, ist dabei sehr geerdet, was mich an einige Romane von Stewart O'Nan erinnerte (insbesondere Emily, Alone (2011), Last Night at the Lobster (2007), Wish you were here (2002) oder sein Debüt Snow Angels (1994, toll verfilmt von David Gordon Green). Wie O'Nan nimmt sich Jones viel Zeit für das ganz alltägliche Leben seiner Titelfigur, verdeutlicht dadurch aber, wie unser aller Leben eher bedingt spektakulär verläuft, aber im Grunde jeder morgendliche Gang zum Bäcker dennoch von einer Wichtigkeit ist, die wir uns selbst kaum eingestehen wollen.

In der zweiten Hälfte oder sogar dem letzten Drittel des Films gibt es zwei bemerkenswerte Veränderungen des Erzählstils bzw. des geschilderten Umfelds. Diane ist quasi der Star mehrerer, durchaus unterschiedlicher Filme, die erst in der Verknüpfung ein facettenreiches Abbild ihres Lebens entstehen lassen. Dabei springt Kent Jones nahezu zwischen den Genres (insbesondere die Komödienelemente sind sehr gelungen), bleibt dabei aber immer nah dran an der Banalität des Lebens, die dennoch voller (leichter, sanfter, subtiler) Emotion steckt.

Ob man sich den Zeh anschlägt oder unter Rückenschmerzen leidet, auch diese Details machen das Leben aus, und man wächst mit dem Film in das Leben von Diane herein (ganz, wie Stewart O'Nan es in seinen besten Romanen macht, die nur leider dennoch kaum jemand kennt).

Das erwartet zwar eine gewisse Bereitschaft des Zuschauers (oder Lesers), sich darauf einzulassen, aber Kent Jones schafft es (so mein Eindruck), dass er auch Zuschauer in den Film hineinzieht, die anfänglich vielleicht kaum einen Bezugspunkt zum Leben von Diana empfinden, gegen Ende aber bei jeder kleinen Regung mitfühlen. Und das ist ein Erlebnis, was man viel zu selten im Kino durchmacht (Manbiki kazoku und Unga Astrid sind die letzten beiden Filme, bei denen es mir ähnlich erging, wobei die aber beide noch weitaus dramatischer »zurechtgemacht« waren, während Diane eher im Mumblecore-Stil daherkommt).

Ein toller Film, den man nur leider vermutlich sehr schwer vermarkten kann. Gebt euch einen Stoß und entdeckt mal wieder was!