Von Vätern
und Müttern
(Paprika Steen)
Originaltitel: Fædre & Mødre, Dänemark 2022, Buch: Jakob Weis, Kamera: Jan Pallesen, Schnitt: Jacob Thuesen, Musik: Jeppe Kaas, Kostüme: Stine Gudmundsen-Holmgreen, Production Design: Julie Hennecke Hartmann, mit Jacob Hauberg Lohmann (Ulrik), Katrine Greis-Rosenthal (Piv), Amanda Collin (Julie), Carsten Bjørnlund (Torbjorn), Nikolaj Lie Kaas (Tommy), Line Kruse (Bettina), Merete Mærkedahl (Lis), Martin Greis-Rosenthal (Frederik), Ida Skelbæk-Knudsen (Hannah), Victor Madsen (Julian), Lise Baastrup (Wencke), Rasmus Bjerg (Per), Mikael Birkjær (Lasse), Lisa Loven Kongsli (Moa-Britt), Lars Brygmann (Adrian), Peter Zandersen (Thomas), Maria Rossing (Rikke), August Baumbach (Bertil), Sara Åberg (Vanja), Nikolaj Bo Kock (Kaare), Arthur Garfield (Konrad), Selma Zejcirovic (Hedvig), 97 Min., Kinostart: 23. Mai 2024
Mitte der 1990er war ich mal ca. viermal hintereinander beim jährlichen Musik-Festival in Roskilde und das hat mich auch zum Dänemark-Fan gemacht. Als ich dann Anfang der 2000er in die Filmkritik eintauchte (versteht mich nicht falsch, ich bin spätestens seit Beginn der 1980er Filmfreak), gehörte Dänemark neben Nordkorea und Schweden zu jenen für Normalsterbliche »exotischen« Filmländern, für die ich mich besonders interessiert habe. Mein Blick aufs dänische Kino war anfänglich (90er) auf Lars von Trier und die Dogma-Bewegung fokussiert, aber vor allem die Komödienautoren Anders Thomas Jensen (der hat auch öfters Regie geführt) und Kim Fupz Aakeson haben mich dann Anfang des neuen Jahrtausends fasziniert. Die beiden haben auf immer wieder unterschiedliche Weise insbesondere die Gesellschaft des kleinen Landes seziert, und mich durch ihren (u.a. thematischen) Wiedererkennungswert verzaubert. Zwar schafften es längst nicht alle ihre Filme in deutsche Kinos, aber ich durchforstete auch das Berlinale-Programm (inkl. Market) nach ihnen oder besorgte mir DVDs.
Paprika Steen (die Regisseurin von Fædre & Mødre, dem hier besprochenen Film) und Nikolaj Lie Kaas (dem Darsteller mit der unverkennbarsten Visage hier) gehörten in den 90ern und 2000ern zu jenen dänischen Darstellern, die es knapp nicht schafften, wie Mads Mikkelsen, Ulrich Thomsen oder Nikolaj Coster-Waldau zu internationalem Starruhm zu kommen. Deutsche Entsprechungen wären vielleicht die Herren Lauterbach und Ochsenknecht: in Deutschland kennt die jeder, der sich nicht komplett narrativen Bewegtbildern verschließt, aber international!? Naja, lieber König in Patagonien als Vizeminister in Australien.
Fædre & Mødre ist irgendwie ein dankbares Vehikel für diese Darsteller der zweiten oder dritten Reihe. Ein Ensemblefilm, in dem ein gutes Dutzend talentierter Darsteller gemeinsam agieren, und selbst die klar benennbaren Hauptfiguren drängen sich nicht ins Rampenlicht. Passend zum Titel geht es um eine breite Schicht der Zivilisation, die viele Ausprägungen und Facetten hat. Die hier irgendwie auch repräsentativ wirkenden Väter und Mütter wollen alle das Beste für ihre Kinder, bemühen sich auch, sie gut zu erziehen - aber wirklich gut kommt dabei keiner weg. Einzige Ausnahme: die vermeintlichen Problemkinder, die die Bemühungen ihrer Erziehungsberechtigen ertragen müssen. Da versteht man auch, wie es zu Jugendwörtern wie »cringe« gekommen sein muss...
© Søren Kirkegaard
Im Fall von Hannah und ihren Eltern Ulrik und Piv erlebt man sogar (gleich zum Einstieg des Films), wie die beiden bei einem Vorstellungsgespräch darum kämpfen, einen Platz für die »ungeheuer kreative« Tochter bei einer angesagten Schule zu erhalten. Der Schulleiter wirkt hier noch wie der einzige Vertraute des Kindes, doch im Verlauf des Films wird dieser Adrian zu einer immer undurchsichtigeren Figur, fast einer kleinen Gottheit, zu der die Eltern aufblicken, die sie aber auch fürchten - weil er letztendlich die Entscheidungen fällt, wer zum illustren Kreis dazugehört und wer doch eher stört. Die Bemühungen der Eltern, sich sowohl mit den anderen Eltern als auch mit dem Schulleiter »lieb Kind« zu machen, sind wohl die dunkelsten Tendenzen des Films, die sich teilweise nur sehr subtil und über längere Zeit abzeichnen.
Doch zurück zum Neustart von Hannah an der neuen Schule. Perfiderweise sieht man den gar nicht. Das Kind ist unzufrieden, findet keinen Anschluss (wenn man über die Gründe mutmaßt, verschließt man sich ihrer Perspektive ähnlich wie die meisten Eltern hier), aber wir als Zuschauende erleben das erste Elterntreffen, bei dem ein gemeinsamer Ausflug (mit den Eltern!) geplant wird. Und schon steckt man drin wie ein Goldfisch im Haifischbecken!
Auf dem Foto von links nach rechts (Rollennamen): Bettina, Tommy, Frederik, Wencke, Per
© Søren Kirkegaard
Wencke und Per machen sich über Wenckes reichlich demonstrierte Kochkünste unabdingbar. Zu jedem Anlass schleppt sie blechweise Kuchen mit, während ihr Mann bei Heißhungerattacken schon mal ein Pfund Schokolade einatmet. Konfliktpotential gibt es hier einiges. Besonders unsympathisch ist auch der Snob Frederik, der gern teure Luxuswaren wie Champagner oder japanisches Kobe-Rind unters Volk schmeißt, aber nebenbei mit seiner Exfrau telefoniert, weil die ihm 40 Euro schuldet.
Und über solche Paradebeispiele unterschiedlichster Prägungen des Elternseins wird die dänische Gesellschaft wie in einer Petrischale vorgeführt. Einer meiner Kritikerkollegen konnte damit nichts anfangen, fand alles nicht »nuanciert« genug - dem konnte ich auf Anhieb nichts dagegensetzen, aber wie jüngst schon mal ausgeführt, erfreue ich mich aktuell einfach daran, dass ich im Höchstfall mal einen Kinobesuch in der Woche absolviere, und dabei eine gelungene und abwechslungsreiche Selektion erwische. Obwohl meine wichtigsten Auswahlkriterien sind, ob die Pressevorführungen stattfinden, wenn ich Lücken in meinem Schichtplan habe (oder unkompliziert ertauschen kann) und ich beim Erstellen der Kritiken nicht in Stress verfallen muss, weil man mal wieder irgendwelches Hypegedöns erst zwei Tage vor dem Kinostart zeigt.
Wie sehr ich das dänische Kino vermisst habe ohne es wirklich zu bemerken, erkannte ich am erfrischenden »Hold din kæft«, das ich Jahre nicht gehört hatte ... oder dem dänischen Wort für Trommelwirbel.
© Søren Kirkegaard
Entsprechend bin ich auf die Trommelwirbel von Paprika Steen gern eingegangen - ohne alles im Detail zu hinterfragen. Wie ein Elternpaar auf eine perfide Art und Weise offenbar unabhängig von einander unter Ulrik und Piv Zwietracht zu säen beginnt, fiel mir beispielsweise auf. Aber mir fehlte die Zeit oder Elan, jetzt ausknobeln zu wollen, was hier die hidden agenda sein könnte. Ich empfand eher eine zurückhaltende aber dennoch diebische Freude daran, dieser nicht einmal besonders versteckten Intrige zu folgen. Es war wie eine Mischung aus dem Freund von Stephen-King-Romanen, der einst Romane wie Needful Things ohne literarische Hochgenüsse, aber mit hohem Unterhaltungswert las. Und dem sprichwörtlichen Betrachter eines Autounfalls, der einfach nicht wegschauen kann. Ohne eine für mich erkennbare Absicht habe ich aktuell ein Faible für solche Filme, etwa Club Zero, Lisa Frankenstein, Drive-Away Dolls oder demnächst May December und Love lies bleeding.
Dazu kommt natürlich meine Freude an der dänischen Sprache. Wer damit nichts anfangen kann oder immer nur alles in der Synchro schaut, der wird das halt nicht verstehen.
Wenn man gut zwei Jahrzehnte ca. 200 Filme im Kino schaut und dabei (fast unvermeidbar) auch ein bisschen Bullshit abbekommt, der kann nach Corona-Pause, die sich bei mir auf fast vier Jahre mit jeweils ca. einem Dutzend Kinobesuche zog, mit nur leicht erhöhter Frequenz und ein bisschen Glück bei der Filmauswahl eine neue ... ja, das Wort gibt's so vielleicht nur auf ausländisch appreciation entwickeln (»Wertschätzung« klingt mir zu verstaubt). Nach aktuell 15 beglittenen Kinostarts diesen Jahres gibt es eigentlich nur den Polanski, der richtig bäh! war ... und ich habe auch nicht das geringste Problem damit, dass ich vielleicht ein paar Meisterwerke verpasst habe, weil ich auch sämtliche Komplettierungs-Wünsche abgelegt habe!
Kino als Zeichen der Lebensfreude - das hatte ich zuletzt vielleicht in der Pubertät oder zu Beginn meines Studiums. Und das lasse ich mir auch durch die Vielseher-Kritikerkollegen, die rumjammern, weil sie kaum die Augen aufhalten können, nicht vermiesen.
© Søren Kirkegaard
Natürlich ist mir klar, dass ich so auf lange Zeit keine Leserschaft halten kann, die profunde Aussagen will und kein optimistisches Verliebtsein in die flackernde Leinwand per se. Aber: wenn ich ein Talent hätte, Massen zu begeistern, dann wäre mir das längst schon irgendwie aufgefallen. Mir reichen seit Jahrzehnten eine Handvoll, ein Dutzend oder auch mal 25 Leute, die mögen, was ich mache, während die meisten mich nach zwei Sekunden oder zwei Wochen wieder vergessen haben. ich finde ja auch Frank Tovey ungleich spannender als Taylor Swift. Oder Bennett Miller als Christopher Nolan. Oder halt Dänemark als irgendwas nicht-dänisches.
Das ist ein ziemlich antiklimaktisches Schlussfazit, aber gute Unterhaltung mit ein paar netten Ideen (und dabei keinerlei Ärgernissen) reicht mir manchmal. Wenn ich mit Vergnügen einen Döner esse, will ich mich nicht von irgendwem (KollegInnen, LerserInnen) drängen lassen, über Jacobsmuscheln oder umami nachdenken zu müssen.
© Søren Kirkegaard
Ich verspreche, in zwei Wochen oder drei Monaten werde ich auch wieder über einen Film stolpern, bei dem ich mich aus eigenem Antrieb über irgendwelche Kinkerlitzchen echauffiere. Oder haargenau Vorzüge und Nachteile aufliste. Aber diesmal fände ich es unnötig.