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Oktober 2005 Marc Degens
für satt.org

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit
Suhrkamp 2005

Umschlagmotiv

216 S., 19,80 €
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Dietmar Dath:
Die salzweißen Augen
Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit

Sieben Verlage, sieben Romane, drei Sachbücher, drei Erzählungsbände … Der 1970 geborene FAZ-Redakteur und ehemalige Spex-Herausgeber Dietmar Dath ist nicht nur einer der produktivsten deutschen Schriftsteller, sondern hat in diesem Jahr mit dem meisterhaften, knapp 1.000 Seiten langen Weltrettungsroman „Für immer in Honig“ bewiesen, daß er auch einer der unterhaltsamsten ist. Nach „Sie ist wach. Über ein Mädchen, das hilft, schützt und rettet“ (2003) über die TV-Vampirjägerin Buffy legt Dath nun sein zweites Buch zur populären Kultur vor. Der Briefessay mit dem schönen Titel und dem noch schöneren Umschlag untersucht die Faszination der Drastik in der populären Kultur: Schauerromane, Ekel- und Gedärmefilme, Pornohefte, Heavy Metal. Death, Bret Easton Ellis, Lucio Fulci, Marquis de Sade, Kelly Stafford. Das Buch ist keine Verteidungs-, sondern eine Aufklärungsschrift. Angesichts des Amoklaufs von Erfurt schreibt Dath etwa: „Wenn Kenner der Popkultur ernsthaft erzählen, das Kaputtschießen von Monsterköpfen am Schirm wirke nicht auf den Gemütshaushalt des Schützen, erweisen sie ihrer Sache einen Bärendienst. Die Gewaltdarstellungskultur (die für sich genommen eben noch keine Gewaltkultur’ ist) gibt es, wir leben mit ihr. Verbindungen zu Formen realer Gewalt gibt es viele. Dies soll man nicht leugnen, sondern kompetent analysieren – also auch: nicht borniert. Wenn man Erziehung nicht als Dressur will, kommt es darauf an, das verbreitete Spielmaterial der kollektiven (und einsamen) Träume Jugendlicher erster zu nehmen".

In 14 Briefen unternimmt der Briefschreiber David den Versuch, seinem alten Schulschwarm Sonja zu erklären, was ihn an drastischen Werken fesselt. Er entdeckt in der Drastik den „ästhetische[n] Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage“ und sieht im Widerwillen und Widerstand gegen den kulturindustriellen Ekel die gleichen Kräfte wie gegen den aufgeklärten Vernunftglauben wirken: „Nicht nur im Splatterfilm und im Serienmörder-Roman, sondern auch in der Pornographie überwintert die Aufklärung so als etwas Harsches, das Vermittlung und Illusion durch Zuspitzung auflöst und zerstört. [ …] Die Schlitzer und Spritzer, Menschenfresser und Spermaluder der Kulturindustrie sind nicht die legitimen Kinder irgendwelcher vorbürgerlicher Urtriebe, sondern die illegitimen der Vernunft."

Das ist eine gewagte, nicht unbedingt richtige, aber bedenkenswerte Theorie. Neben vielen klugen Erörterungen zur Geschichte und Wirkungsweise der Drastik erzählt das Buch noch eine bizarre, zu Herzen gehende Liebesgeschichte, enthält einen der rührendsten Liebesbriefe der neueren deutschen Literatur und eine gepfefferte Pop-Redakteur-Schelte: „Vor Jahren habe ich mal eine Weile in der Redaktion eines Pop-Magazins arbeiten dürfen. Das ist immerhin ein Ort, an dem man noch vergleichsweise viel Erfahrungshunger hinsichtlich kulturindustrieller Erzeugnisse erwarten darf, ein Ort, an dem die übleren Borniertheiten des schöngeistigen Milieus nicht vorkommen sollten. Wie habe ich mich deshalb darüber gewundert, daß ich dort erleben mußte, wie Damen und Herren mit lupenreinster Bohème-Sozialisation in den besten Rauchkneipen Altwestdeutschlands in den Pausen zwischen öden Redaktionskonferenzen und hektischer Heftmacherei sich immer wieder das Maul über drastische Unterschichtsvergnügungen zerrissen haben – Pazifistinnen, Feministen, lauter Leute, die sich eher die Zunge abgebissen hätten, als ein politisch unkorrektes Röcheln von sich geben, schmähten da, so gut sie konnten, mißliebige Rocker als 'Inzest-Hinterwädler', bezeichneten schrille weibliche Disco-Stars als 'peinliche Realschülerinnen' oder nannten Computerspiele mit hohem Metzelfaktor 'Unterhaltung für Untermenschen' – nicht im guten, bösen Spaß, sondern mit erhobenem Zeigefinger, im schönsten Lehrertremolo.“ „Die salzweißen Augen“ ist Dietmar Daths Versuch, diesen erhobenen Zeigefinger abzubeißen.