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Juni 2007
Christina Mohr
für satt.org

Zuckerbabys.
Kerstin Grether im Interview

Kerstin Grether: Zuckerbabys
Hörbuch, Boxset mit 3 CDs
Eichborn | Lido 2007

Kerstin Grether: Zuckerbabys
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Als vor drei Jahren Kerstin Grethers Roman „Zuckerbabys“ erschien, wurde ein Tabu gebrochen: zum ersten Mal stand das Thema Magersucht im Mittelpunkt eines Romans, der oberflächlich betrachtet als „Poproman“ durchgehen konnte. Protagonistin Sonja zerbricht an inneren und äusseren Anforderungen, Wünschen, Träumen und Bedingungen – sie will so gerne Sängerin werden, übt hingebungsvoll für dieses Ziel und muss doch erkennen, dass ihr eine vermeintlich wichtige Voraussetzung zum Popstarsein fehlt: sie ist nicht dünn, nicht so dünn jedenfalls wie die von ihr bewunderten und verehrten Vorbilder. Kerstin Grether stellt mit „Zuckerbabys“ dringende und unbequeme Fragen: ist es tatsächlich so, dass Mädchen ihr Leben einem fragwürdigen Schönheitsideal opfern? Dass sie lieber sterben als dick werden wollen? Und dass schlussendlich keine Leidenschaft (Musik, Liebe) mehr zählt, weil die Kalorientabelle im Kopf alles andere überlagert? Und wer ist daran schuld? Ist überhaupt jemand schuld – sind es die Medien, die Eltern, die Freundinnen, der Freund?

Inzwischen haben die „Zuckerbabys“ sprechen und singen gelernt: bei Lido/Eichborn ist das Hörbuch erschienen, das viel mehr als ein herkömmliches Hörbuch geworden ist und die Bezeichnung Hörspiel viel eher verdient. Die Schauspielerinnen Jana Pallaske und Nina Friederike Gnädig leihen den Figuren des Buchs nicht nur ihre Stimme, sondern lassen die Zuckerbabys ganz und gar lebendig werden. Ausserdem sind Bernadette La Hengst, Jens Friebe mit dabei, Friebe zum Beispiel spricht die Rolle des Mädchenschwarms Johnny. Neu aufgenommene Coverversionen von The Corrs, Pink und Madonna runden das Projekt ab, das in unverkrampfter und zeigefingerfreier Manier das nach wie vor tabubelegte Thema Magersucht behandelt. Kerstin Grether hat satt.org Fragen beantwortet, die sich zum Erscheinen des Hörbuchs neu stellten, aber ohnehin „around“ sind:

Kerstin Grether:
Zuckerbabys

Roman
Suhrkamp 2006

Kerstin Grether: Zuckerbabys

248 Seiten
EUR 8,50
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CM: Thema Zero-Größen: was glaubst du, warum ist der Wunsch nach dem Verschwinden, immer-dünner und immer-weniger-werden-wollen bei vielen Mädchen und Frauen so stark? Die Frage nach Schönheit muss man ab diesem Punkt wohl nicht mehr stellen, oder?

KG: Leider doch. Denn die Frage, was schön ist, beantworten bei diesen Größenordnungen ja täglich die bunten Illustrierten; und die „seriöse“ Öffentlichkeit hat sich – nach anfänglicher Schock-Berichterstattung über Magersucht – mit fasziniertem Spott eingeklinkt. Alles scheint so einfach zu sein! Die Ikonen der Zero-Mode sehen ja auch leicht aus, wie von einem paradiesischen Lebensstil beschwipst, was ja mithin ein Zeichen für eine beinahe artistische Schönheit ist. Und sie gelten ja auch als oberste Party-Girls, wie sie da auf ihren öffentlichen Partituren schweben: Paris Hilton, Nicole Richie, Kate Moss, Victoria Beckham, Lindsay Lohan, lauter leichte schwerreiche Mädchen, die lächelnd, shoppend, farbenblühend und rock`n`rollend, jede Fläche ihres Körpers verplant und mit kostbarem Krimskrams dekoriert, von ihren hochbezahlten Fotos strahlen. Der Wille zum prallen Leben, zur Überschreitung, zur wilden Party wird in dieser Generation von ausgesprochen mageren, bis aufs Skelett verhungerten Mädchen-Körpern dargestellt - was immer das auch für uns alle bedeuten soll.
Spaß? Das Noch-Dünnere-Ideal ist so schlimm, weil die hungernden Frauen sich im Alltag, von nahezu jeder Frau, die dünner ist als sie, anstecken lassen, es weiter zu treiben.
Und das hochbezahlte Foto vom vertuschten, retouchierten Exzess ist die Ware, mit der gehandelt wird, weil die Öffentlichkeit geil darauf ist zu erfahren, wie die Party „backstage“ war.
Um auf deine Frage zurückzukommen:
Der Wille zur wild-retouchierten Party scheint im Fall dieser jungen Frauen dem Willen nach dem Verschwinden vorausgegangen zu sein. Ich glaube nicht, dass immer mehr junge Frauen verschwinden WOLLEN. Denn die Bilder zeigen ja das Gegenteil von Verschwinden, nämlich Frauen-Freundschaft und Feiern und Konsum und kleine Hunde; ironischerweise sind die Party-Girls ja auch noch miteinander befreundet. Soll bloß keiner sagen, sie würden Wettbewerb und Zickenkrieg unter Frauen vorantreiben!
Das ist alles so traurig und zynisch, und hat so viele verschiedene Ursachen: Man möchte heulen über die Energie Verschwendung der Zero-Frauen. Frauen, die sich dem Zero-Trend anpassen, haben sicher noch so einige persönliche Gründe für dies lebensgefährliche Hungern, dass es mich gruselt, darüber nachzudenken, wie sich wohl Mädchen fühlen, die nicht aus liebevollen stabilen Verhältnissen kommen und trotzdem diesen behüteten Party-Girls nacheifern. Viele eifern vielleicht auch gar nicht den fragwürdigen Party-Poserinnen nach - die man auch beruflich gerne für Nullen halten darf - sondern passen ihr salathaltiges Essverhalten einfach ihrer Umgebung, den Freundinnen und Müttern an. Oder sind zu eingeschüchtert, um sich den Trends zu verweigern, die sie selber mittragen. Jedenfalls gilt Zero nach einer kurzen Phase medial gemeinschaftlichen Schauderns über die kranken Methoden Hollywoods, die verrückten Reichen in LA, jetzt doch als vertretbares Schönheitsideal!!!
Kerstin Grether (Foto: Sybille Fendt)
Kerstin Grether
Foto: Sybille Fendt
Ich habe eine zeitlang neben einem Gymnasium gewohnt, und mich da schon über die extrem dünnen Schülerinnen gewundert; brachte die neue Dürre aber nicht in Einklang mit dem kurzzeitig etwas „üppigerem“ Schönheitsideal bei Pop-Sängerinnen. (Wobei „üppig“, also die 90er Jahre-Magergrößen 34 oder 36, im Fall von beispielsweise Pink oder Britney Spears, natürlich auch ein Hohn ist). Mittlerweile sehe ich unheimlich viele 30 – 40-jährige Frauen mit Kindern, die selber Kindergröße tragen. Was noch vor ein paar Jahren Größe 34 war, ist jetzt eben die Größe Null, also eigentlich 30.
Und dabei hatte doch in den neunziger Jahren auch schon jede zweite Frau eine Essstörung!!! „Wie krank wird das noch?“ fragt sich Sonja, eine „Zuckerbabys“-Protagonistin, am Ende des Romans. Nach wie vor gute Frage, finde ich. Zumal die Nahrungsmittelindustrie uns mittlerweile mit immer leichteren Produkten versorgt – was angesichts des Ideals auch sinnvoll ist. Lieber die Milch mit 0,1 % Fett trinken, als gar keine Milch mehr trinken. Es könnte für die Frauen also leichter sein, heute Größe 34 oder 36 oder 38 oder 40 oder was auch immer zu haben, als noch vor zehn Jahren, als es diese Produkte nicht gab. Wenn es doch nur mal darum gehen würde: um das leichtere, bessere Leben, um eine schöne Leichtigkeit. Und so geht es im Grunde bei diesem Schönheitsideal natürlich nicht um Schönheit, sondern tatsächlich um Verschwinden light, um Abwesenheit in der Anwesenheit – wie ein Vierteltagesjob, den man von zuhause aus erledigt; wie das Gegenteil alles Authentisch-Rockigen, was derzeit auf den Rockbühnen so vorgeführt wird. Die neuen Magergrößen speisen sich scheinbar nicht mehr aus „Wohlstands/Überfluß-Gesellschaft“, wie oft gesagt wurde, sondern können auch als Zeichen für Überflüssigkeit, vielleicht auch Überdruß gelesen werden. Ein Loslösen auch von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen: Diese Krankheit macht ängstlich, panisch, empfindsam bis zur Abstumpfung: der totale Anti-Pop! Im Strudel von Hungern und Sportrausch kann man sowieso kaum noch eigene Entscheidungen treffen. Der Trend ist nicht mehr äußerlich, sondern auch innerlich, wenn Magersucht sich in die Persönlichkeitsstruktur integriert. Scheinbar halten sich aber viele Frauen in der westlichen Welt lieber an schwierigen, als den einfachen Idealen, die es ja zum Glück auch noch gibt, fest. Gerade auch diejenigen, die keine 20.000 Euro im Monat für Fitness-und Ernährungstrainer zur Verfügung haben, die vielleicht sogar weniger als 20.000 Euro im Jahr verdienen. Was Frauen alles für die vermeintliche Schönheit tun: ein Schenkelklopfer, und die Paris Hilton-Witze handeln nicht mal davon. Und begleitet wird all das vom scheinheiligen, seit 20 Jahren immer wieder anklingenden, an keiner Schulhof-Realität orientierten Gejammer über die angebliche Epidemie der „dicken Kinder“, die wohl unser Gesundheitssystem ruinieren. Dabei werden die Kinder gar nicht immer dicker, sondern dünner: die Gefahr eines Herzinfarkts ist bei Magersucht übrigens viel wahrscheinlicher als bei Dickleibigkeit, zumal im Kindesalter. Laut Statistiken bekommen 1,5 % der übergewichtigen Kinder Diabetes und 15 % der extrem untergewichtigen sterben an Magersucht. Denn Herzinfarkt lautet die häufigste Diagnose bei Magersucht. Den Herzinfarkt als Metapher zu lesen, wäre auch zynisch. Trotzdem kann man manchmal über die Herzlosigkeit dieses Schönheitsmythos schon mal beschweren.

CM: Wie autobiografisch ist "Zuckerbabys"? Und beantwortest du diese Frage überhaupt?

KG: Das beantworte ich mittlerweile gerne, ich kann dazu stehen, mit Anfang 20 selbst magersüchtig gewesen zu sein. „Zuckerbabys“ ist ja nicht meine Schicksalsstory, sondern, unter anderem, eine poetische Argumentation zu diesem Thema aus verschiedenen Perspektiven. Die Frage, ob ich magersüchtig war, trifft nur einen Aspekt.

CM: Als Magersüchtige ist man dem Tod irgendwann näher als dem Leben - spielt das Aussehen dann überhaupt noch eine Rolle? Fantasiert man sich selbst als "schöne Leiche"?

KG: Man verdrängt den Tod. Wenn man den Gedanken, „schöne Leiche“ mal fassen könnte, würde man sich vielleicht helfen lassen. Stattdessen versucht man eher noch, sich zu schminken und schön herzurichten. Und da die anderen It-Girls ja auch hungern, fühlt es sich an wie die normale Eintrittskarte in Liebe und Leben. Ich habe schon mit offensichtlich magersüchtigen Frauen über das Thema gesprochen , und die erzählten mir , dass SIE „kein Problem mit dem Essen haben“; und betonten gleichzeitig, wie schön sie es finden,. dass es mal jemand anspricht. Und dann habe ICH – die Romanautorin, die das Thema von allen Seiten dargestellt hat, und auch einfach offensiv mit den „Betroffenen“ darüber redet – aus deren Sicht plötzlich das Problem.
Aber mit ihnen selber, so behaupten sie, hat das nichts tun, allenfalls vielleicht kennen sie das von einer Freundin, sagen sie, und man hört dabei ihren Magen knurren, sieht den abwesenden Blick, die ganze Fahrigkeit; die Symptome. Und wenn man sie weiter anschaut, gruselt es einem manchmal; wie gehetzt, panisch, ängstlich, verbissen, oder zumindest extrem schlechtgelaunt sie oft auch noch ausschauen. Das hat natürlich zynisch, das jetzt zu sagen, auch Auswirkungen auf den Humor. Hungern macht griesgrämig! Witzig ist man da schon lange nicht mehr drauf. Ist ja klar, wenn man gerade dabei ist, zu verhungern. Da erfindet man nicht mehr die Stand-Up-Comedy neu. Aber was noch geht in dem Zustand, ist komischerweise eifrig und fleißig die Schulaufgaben erledigen. Ich wünsche den Magersüchtigen eine gesunde Angst vor dem Tod, damit sie etwas an ihrem Zustand ändern. Und eine gesunde Angst davor, bis zum Rest des Lebens in haltlosen Jobs vor sich hinzuvegetieren. Man braucht einfach sehr viel Energie, um in der gegenwärtigen Ökonomie oder auch in der Familie seinen Platz zu finden.

CM: Haben Magersüchtige das Gefühl, ein tolles Geheimnis zu haben beziehungsweise anderen etwas voraus zu haben (nicht essen zu müssen), oder ist es umgekehrt? Denken Magersüchtige, dass Nicht-Magersüchtige etwas können, was sie selber nicht können?

KG: Sie denken, dass sie´s drauf haben, dass sie wissen, wie´s geht. Und bemitleiden all diejenigen, die´s einfach nicht kapieren, die einfach nicht wissen, wie man´s macht, wie man´s dreht, das Ding mit dem Untergewicht. Gleichzeitig fühlen sie, dass die große Hunger-Leistung, die sie vollbringen, natürlich etwas Besonderes ist und auch besonders bleiben soll – und diese Anstrengung wollen sie ja nicht von allen verlangen. Ganz tief drinnen sind sie natürlich neidisch auf die „normalen“ Frauen: haben die es etwa nicht nötig, sich abzustrampeln? Werden die einfach so geliebt? Haben die vielleicht noch andere Dinge, über die sie sich definieren, die ihnen wichtig sind? Die Hungernden fühlen, dass die „normalen“ Frauen ein besseres, schöneres, einfallsreicheres Leben haben als sie selber. Das macht sie stutzig und eifersüchtig – aber sie glauben, daß sie eben andere Typen sind, daß das Dasein für sie eben diese Prüfung, dieses Ideal erforderlich macht. Und wollen mit den Normalen auch gar nicht tauschen, weil dann wären´s ja nicht mehr sie selber. Im direkten Kontakt mit „normalgewichtigen“ Frauen sind sie milde-bemüht, milde-tolerant, sich nicht anmerken zu lassen, für wie dick sie die halten – weil sie ja auch sich selber permanent für zu dick halten. Sie sind auch deshalb so freundlich, um das eigene kranke Essverhalten zu vertuschen. Trotzdem hindert ihre schwer abgerungene Toleranz sie nicht daran, Frauen oft und gerne von oben bis unten zu anzuschauen und abzuschätzen. Ich kenne das noch aus meiner eigenen Zeit als Magersüchtige – diese Blicke „passieren“ praktisch automatisch. Magersüchtige Mädchen und Frauen wollen damit einen Halt in der körperlichen Präsenz anderer finden; sich ihrer Hunger-Fortschritte vergewissern und ständig neue Vergleichsgrößen finden. Sehen sie einen lebenden Menschen, der dünner ist, als sie sich selbst empfinden, fühlen sie mitunter einen großen Schmerz und neigen zur Nachahmung, so nach dem Motto: das kann ich auch noch erreichen, das geht also doch, man kann das so machen. Diese Eigenschaften haben nahezu alle Magersüchtigen, da mögen sie noch so nette Menschen sein. Das ist ja bei jeder Sucht so: ab einem gewissen Punkt sind sich ja angeblich auch alle Junkies oder Alkoholiker gleich. Und Magersüchtige halt auch. Es ist ein erbärmliches Konkurrenzdenken und die Betroffen können noch nicht mal wirklich etwas dafür, weil sie in der Krankheit gefangen sind, oft auch psychisch. Nachdenklich werden sie eher, wenn sie realisieren, dass viele Männer auf „Arsch und Titten“ stehen. Das können sie sich im Prinzip nicht wirklich erklären. Sie sind so weit davon entfernt, Brüste zu haben, daß sie lieber über ihren kleinen Busen jammern/dazu stehen, sich im Extremfall sogar Silikon einsetzen lassen, als einfach wieder gesund und normal zu essen!

CM: Wen willst/musst du mit deinem Buch erreichen? Bekommst du Briefe von magersüchtigen Frauen, die das Buch gelesen haben? Was schreiben die?

KG: Ich wollte einen anspruchsvollen literarischen Roman schreiben, der das Thema Magersucht aus der jugendzimmergerechten Fallgeschichten-Ecke herausholt und es mit allen Aspekte und Verzierungen als das beschreibt, was es ist: eine der großen menschlichen Tragödien der Gegenwart. Die natürlich auch einiges über unsere Zeit aussagt. So wie „die Glasglocke“ von Sylvia Plath in den 1950er Jahren. Die Glasglocke war eines meiner Vorbild-Bücher; als idyllischeres, optimistischeres Gegenmodell war ich von Banana Yoshimoto beeinflusst.
Die Leser und Leserinnen, die mir schreiben, finden es spannend, einen Roman zu lesen, der einerseits psychologisch motiviert ist, die Ursachen für Essstörungen aber auch in der medialen Bilderwelt sieht – und darüber hinaus lyrische Qualitäten hat. Der Witz besteht ja gerade darin, dass die Protagonistin Sonja den Schönheits- und Popschwindel durchschaut und trotzdem mitmachen will. Und natürlich in der parallel dazu erzählten Geschichte von Sonjas Freundinnen, die einen verblüffend kreativen Umgang mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens haben.

CM: Dein Buch wird vornehmlich in die "Poproman"-Ecke gestellt - ist das in Ordnung für dich oder engt das Rezeptionsrahmen ein?

KG: Die Idee war, einen ernsten Roman als Poproman zu verkaufen. Das war ja nun auch nichts Neues; den Poproman gibt es ja nicht erst seit den 90ern.
Als ich mit dem Buch fertig war, wurde mir schnell klar, dass ich mich ums Image selber kümmern muss. Beim Schreiben hatte ich noch gefühlt, was wohl die meisten Debüt-Autoren fühlen: Wenn es erst mal fertig ist, wird es schon genug Leute geben, die sich dann um alles kümmern! Dieses ganze Kindische, Hilflose. Man denkt, man hätte da so einen Puffer zwischen sich und der Welt. Es wäre ja zu viel verlangt, sich als Künstler auch noch um die Vermarktung zu kümmern! Irgendwelche Experten werden das Genie schon erkennen und in die richtigen Kanäle leiten. Ist natürlich alles Quatsch!
Ich empfand es als große Erleichterung, als mir das klar wurde, und habe mich gerne aus der defensiven Haltung gelöst und beschlossen, mich auf die schwierige Arbeit der Vermarktung wirklich einzulassen. Lieber zur Kunstfigur zu werden und dadurch die größtmögliche Kontrolle zu behalten, als auf doofe Art definiert zu werden. Ich kann sogar verstehen, dass die Leute denken, „Poproman, das ist easy reading, das ist nichts Richtiges“. ICH denk eher, es ist nichts Richtiges, wenn es immer „nur“ innerlich, nur „Vater-Mutter-Kind-ödipal“ wird; habe das also eher genau andersherum empfunden. Es gab zu diesem Zeitpunkt für junge Autoren ja auch nicht so viele Schubladen: die „Judith-Hermann-Schublade“, die „Poproman-Schublade“, dann vielleicht noch „Frauenroman“ oder „Städte-Roman“ und dann noch die „kein Poproman, also womöglich seriös, aber nichtsgenauesweißmannicht“-Schublade. Da fand ich Pop-Roman noch am passendsten. Zumal in der Poproman-Schublade vor allem männliche Autorenstars abgeheftet waren. Und ich dachte, da geh ich hin, das wird lustig! Und die auch noch spannende, Judith Hermann-Schublade war ja so auf Melancholie und Innerlichkeit bezogen, und die Poproman-Schublade bediente die Äußerlichkeits-Zuschreibungen. Und da in „Zuckerbabys“ so viel finsterer innerer Monolog ist, hüpfte mein Herz vor Freude bei der Vorstellung, dahin zu gehen, wo es angeblich um „Äußerlichkeit“ geht. Denn ich wollte in „Zuckerbabys“ ja beschreiben, wie die Bilder in die Körper der Menschen eindringen, und auf der anderen Seite, wie vergleichsweise toll die Musik ist, die dazu gespielt wird, fühlte mich im „Pop“ also irgendwie glücklicher. Zu den üblichen Reibungsflächen wie Freundschaft, Sexualität, Beruf, Berufung addiere ich eben noch die mediale Wirklichkeit, ihre neue Form von Aussehensarbeit zum Beispiel dazu. Ich finde, man muss das mal in seiner Krassheit darstellen. Auch wenn Frauen historisch die Avantgarde der Schönheitsprojektionen darstellen, betrifft das Männer ja auch.

CM: Das Hörbuch mit den prominenten SprecherInnen und MusikerInnen verortet "Zuckerbabys" ganz eindeutig in der Popkultur - willst du damit erreichen, dass Magersucht offener thematisiert wird?

KG: Ja. Denn die Schock-Aufklärung der Boulevard-Medien kann`s ja nicht gewesen sein.

CM: Also sozusagen Popkultur-topic wird?

KG: Es geht halt um Öffentlichkeit, um Popkultur-Topic sowieso. Es ist übrigens verrückt, dass Magersucht nicht schon längst Popkultur-Diskurs-Topic ist. Man muss es zum Beispiel leitenden Redakteuren und Journalisten immer wieder neu erklären. Und es wird gestaunt, was das Zeug hält, vielleicht, um es weiter zu verdrängen, vielleicht weil sie die Tragweite des Themas nicht sehen.

CM: Wie kam Jana Pallaske ins Boot?

Jana Pallaske hatte Texte von mir in der INTRO gelesen, die Interviews mit P.J. Harvey und Peaches. Und auch schon vom Buch gehört. Sie hat selber eine Menge zum Thema Magersucht zu sagen, auch über individuelle Aspekte. Sie hat sich das Buch dann selbst gekauft – sie ist halt auch keines von diesen Püppchen, das sich von fremden PR-Beratern leiten lässt; sondern sehr self-made und cool und sehr süß – und sie hat „Zuckerbabys“ dann an einem Tag durchgelesen, und wollte unbedingt „Sonja“ sprechen. Wir wollten natürlich auch unbedingt, dass sie es macht. Das ist schon ein großer Glücksfall, eine Schauspielerin zu finden, die so genau die Stimme der Protagonistin trifft. Noch präziser und eigenwilliger und schöner, als man es sich vorgestellt hätte!

CM: Wie verliefen die Aufnahmen? Wurde viel über Magersucht/eigene/fremde Erfahrungen gesprochen oder war die Arbeit im Studio ein normaler Job für die Beteiligten?

KG: Alle Beteiligten haben mehr als nur einen normalen Job getan. Ihre Identifikation mit dem Buch und seiner Sprache war ein großes Kompliment für mich, und mir teilweise schon fast unheimlich! Sie haben es sehr lebendig werden lassen, denn es wird ja parallel zur Magersucht auch noch die Gegengeschichte erzählt, die eine von Rock`n`Roll und Freundschaft ist. Auch Laura Osswald, Bernadette Hengst, Nina Friederike Gnädig und Jens Friebe haben sich mit Leidenschaft und Witz eingebracht - und, ebenso wie Jana, auch die Songs, die sie singen, zu ihren eigenen werden lassen! Das sage ich jetzt nicht, um uns alle zu loben. Es war wirklich eine inspirierte, euphorische Atmosphäre im Studio. Über Magersucht hatten wir in den Vorgesprächen schon viel geredet. Es gab ein üppiges Catering im Studio. Die Schauspielerinnen sind ja täglich mit dem „Dünner-als-dünn“-Terror konfrontiert. Die geniale Schauspielerin Nina Friederike Gnädig, die die Rolle der „Melissa“ unfassbar gut gelesen hat – und in ihrem Synchron-Kursen zum Beispiel immer Extra-Applaus bekommt - erzählte mir erst neulich wieder am Telefon, wie traurig sie darüber ist, dass es in ihrem Beruf gar nicht mehr um den Beruf geht, den sie gelernt hat. Am Drehort würde praktisch die gesamte Aufmerksamkeit darauf konzentriert, dass die Darstellerinnen so dünn wie möglich sind – die Kamera macht ja 4,5 Kilo „dicker“ – und so wenig wie möglich essen. Es soll mir also keiner erzählen, dass Magersucht vor allem ein psychisches Problem ist, was mit mangelnder Kommunikation in der Kindheit, oder Liebe, zu tun hat. Man sollte es vielleicht mal andersherum betrachten: nur wenn man die Erfahrungen aus der Kindheit (psychotherapeutisch) verarbeitet hat, bekommt man das Problem, das von außen an einen heran getragen wird, vielleicht in den Griff. Diese Bilder machen schon sehr viele Leute, die eigentlich auch besseres mit ihrer Zeit zu tun gehabt hätten, therapiereif! Aber Therapie ist nur eine mögliche Antwort darauf. Kunst, egal welches Genre, wäre eine andere Alternative. Und dann muss man schon wieder Bilder von sich in die Öffentlichkeit rausschicken …


» www.kerstin-grether.de




Termine:

VIVA widmet den Zuckerbabys am 9.7. EINE Stunde! VIVA Live, 15 - 16 Uhr
Gäste: Jana Pallaske, Nina Friederike Gnädig, Laura Osswald.

LESUNG KERSTIN GRETHER (& Präsentation des Hörspiels), mit Gästen (Linus Volkmann, Jens Friebe)
DOKTORELLA spielen
Do, 16.08.07 Frankfurt - Das Bett / Klappergasse 16 / 60594 Frankfurt /
Beginn: 21.00 h

LESUNG KERSTIN GRETHER (& Präsentation des Hörspiels, mit Gästen, Doktorella (Sandra, solo)
Fr, 17.08.07 München - Vereinsheim / Occamstr. 8 / 80802 München / Beginn:
20.00 h / VVK: 6,00 Euro

LESUNG KERSTIN GRETHER (& Präsentation des Hörspiels), mit Gästen (Jens Friebe u.a.), Doktorella spielen
Sa, 18.08.07 Konstanz - Kantine tbc

Weitere Termine folgen!