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Anja Kümmel, V oder Die vierte Wand. Roman. 380 Seiten, Paperback. 23 x 15 cm. Hablizel Verlag, Lohmar 2016. 18,90 Euro – Das E-Book ist zum Preis von 9,99 Euro erhältlich » Verlag
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Anja Kümmel
V oder Die Vierte Wand
Ein Zukunftsroman, der eigentlich keiner ist: In V oder Die Vierte Wand praktiziert Anja Kümmel ein kreuz und quer wucherndes Erzählen, das einerseits den zeitgenössischen Stand der Dinge zu einer Vision unserer nahen Zukunft hochrechnet, andererseits ausgiebig in Retro-Wehmut schwelgt.
"drüben, auf der anderen seite des hafenbeckens, steht ein gigantischer würfel aus schwarzem glas. undurchsichtig, spiegelhart, wie etwas fälschlich auf die erde gefallenes. etwas, in dem eine rasse bösartiger außerirdischer die wunderwaffe zur vernichtung der menschheit produziert. ich weiß nicht mehr, wohin. ein tiefes brummen geht von dem alien-qauder aus [...]. ungefragt übernimmt der hase die führung."
London, Zukunft. Der Name des Mannes mit der weißen Hasenmaske lautet Squid - das tut nicht viel zur Sache, Squid ist eine der weniger handlungsentscheidenden Figuren, aber er darf gleich zu Anfang eine erzählerische Signalflagge schwenken: Follow the white rabbit ist die Richtung, die Kümmel ihrer Leserschaft und auch ihrer Hauptfigur Mesca weist, indem sie den plüschig kostümierten Squid voranschickt, und jeder, der weiß, wie der Carrollsche Hase läuft, erwartet nun ganz richtig, dass das kommende Geschehen einem Fiebertraum gleichen wird.
Mesca, ein zierlicher Mexikaner, hat sich vom Los Angeles des Jahres 1980 aus nach London aufgemacht, um nach seiner großen Liebe Manolo zu suchen. Nur befindet sich das London, in dem Mesca schließlich gelandet ist, nicht in einer 1980er Gegenwart, sondern in einer unbestimmten Zukunft – einer dystopischen natürlich: Fliegende Kameraaugen erfüllen den Himmel mit dem Dröhnen ihrer Rotoren, jeder Einwohner ist gechipt, innerhalb der Stadt haben sich Parallelgesellschaften gebildet, deren Territorialstreitigkeiten regelmäßig zu blutigen Scharmützeln führen. Anscheinend gehört Europa inzwischen einem Chinesischen Großreich an, die offizielle - weltweite? - Währung heißt Ethercoin; näher ergründet werden die gesellschaftlichen und geopolitischen Zustände aber nicht. Lesend fällt es einem ebenso schwer, sich in dieser neuen Welt und ihrem Vokabular zurecht zu finden, wie dem in der falschen Zeit gestrandeten Mesca.
Was Mesca lange nicht weiß: Er ist nicht der einzige Fehlgezeitete; es gibt außer ihm noch jemanden, der auf der Reise nach London durch einen Riss im chronologischen Gefüge geflutscht ist. Beide irrlichtern sie in einer verkehrten London-Version umher, die für den jeweils Anderen die richtige gewesen wäre. Die Isländerin Fenna, die sich vom hoffnungslosen Leben auf ihrem eisigen Heimateiland verabschiedet hat, um in London einen gut bezahlten Job als Auftragskillerin anzunehmen, findet sich bei der Ankunft in eine für sie fremdartige Vergangenheitswelt versetzt, in der Menschen über Schnurtelefone kommunizieren anstatt über FlexxPads, Tabakzigaretten rauchen anstatt an drip tips zu saugen, in der rechteckige Papier- und runde Metallstückchen als Zahlungsmittel eingesetzt werden und sich nirgendwo Qanuk und Quiesan zur Beruhigung auftreiben lassen.
Dass Fenna und Mesca einander kennenlernen, zusammen feiern gehen und bald gemeinsam einen erbärmlichen, aber sicheren Unterschlupf bewohnen, obwohl sie auf zwei verschiedenen Zeitebenen leben, stiftet erstaunlicherweise keine logische Verwirrung. Anja Kümmel legt die Zeit einfach zusammen wie ein Handtuch, so dass die im ausgebreiteten Zustand von einander entfernt liegende Ecken sich nun überlagern und berühren.
Nicht nur in der Zeit geht es überkreuz und doch parallel. Fenna und Mesca treten sich in scharfkantiger Deutlichkeit als Komplementärfiguren gegenüber. Mesca: klein, schmächtig, dunkel, liebessüchtig, von lateinamerikanischem Temperament, ein Mensch der analogen Welt, gepolt auf Hitze und Schwüle und auf körperliche Nähe, der Geld heranschafft, indem er als Stricher traurige Glücksgefühle verkauft. Fenna: groß, wuchtig, weißblond, zu verheerenden Wuteruptionen neigend, dabei vertraut mit den kalten Temperaturen und von kalter Regung, ein Zukunftsmensch, der zwischenmenschlichen Kontakt bislang nur durch den Digitalfilter erlebt hat, bislang nicht geliebt hat und beruflich frisch eingestiegen ist in die Todesbranche. Mesca zieht Fenna schließlich mit; beide tauchen gemeinsam ab in die wild feiernde Untergrundszene der Stadt, wo man sich zeitlichen Rahmenvorgaben ohnehin verweigert, wo sich individuelles Zeitempfinden in Rausch auflöst und der Dresscode der Feiernden Retro-Bezüge und Futurismen vermischt, so dass sie sich einer zeitlichen Einordnung entziehen. Die V-Night ist eine solche vom Irdischen abgekoppelt scheinende Sphäre. In Anlehnung an die Untergangsstimmung im durch deutsche Vernichtungswaffen bedrohten Weltkriegslondon, wird hier gefeiert, als ob das Gestern und Morgen keine Rolle mehr spielten. Dort verliebt sich Fenna in E., der eine unsichere Ähnlichkeit ausgerechnet mit der Zielperson ihres Killerauftrags aufweist.
Die aus Mescas bzw. Fennas Perspektive erzählten Romanpassagen werden typographisch unterschieden: Fenna erkennt man am Normalschriftbild, Mesca an der durchgehenden Kleinschreibung. Ab und an wird der stetige, oft abrupt erfolgende, Perspektivwechsel durch Zwischenschaltungen in einer anderen Schriftart ergänzt. Richtig: Da ist noch jemand Drittes, um dessen Identität Anja Kümmel viel Vernebelung betreibt.
Die titelgebende Vierte Wand - ein Begriff aus dem Theaterbereich, der die imaginäre Wand zwischen einem auf der Bühne dargestellten Raum und dem Publikum beschreibt - wird nicht etwa dadurch durchbrochen, dass sich Protagonisten des Romans direkt an die Leserschaft wenden würden. Eher ist die Aufhebung der Vierten Wand als Idee zu verstehen, analog zur zunehmenden Öffnung des individuellen Privatraums zu einer kollektiven Öffentlichkeit hin, wie sie sich durch staatliche Überwachungsmaßnahmen einerseits, durch das Aufgehen des privaten Lebens in einem Social-Media-Äther andererseits vollzieht. Die Auflösung der privaten Einheit des Menschen zeitigt auch eine Auflösung seiner inneren, seiner gedanklichen Integrität. Stilistisch umgesetzt wird diese Zerpflücktheit, indem das Erzählen eine kurze Aufmerksamkeitsspanne imitiert, Gedankengänge plötzlich abbrechen lässt, zusammenhanglos einen neuen Gedanken ankoppelt, der wiederum von Zwischengedanken zerrissen wird und so fort. Damit porträtiert Anja Kümmel eindrücklich eine Krankheit unserer Zeit, treibt den Roman aber an den Rand der Lesbarkeit und oftmals darüber hinaus.
Wir wissen alle, dass Major Tom ein Junkie ist, singt die vertaute, hohe Stimme, zugedröhnt im höchsten Himmel und auf direktem Weg zum absoluten Tief//: return [aa&&a.call (window33.65_ret)] major tom? das klingt nicht nur wie bowie... das ist bowie, ¡chin! muss was neues sein... aber wie kann es angehn, dass sich in meinen ohren der losgelöste astronaut in einen melancholischen junkie verwandelt, während vor meinen augen doch grad das gegenteil pa_677%37jk= cl" ging's ähnlich. Eigentlich bis gestern oder so _Ax8IklQ_// function 6. (9klQ) edens stimme. akzentfrei. wie klang sie, da oben im vierzigsten, als er die zwei, drei sätze mir "scr"
Das liest sich wie ein Facebook-Stream auf Drogen, durchsichtig gemacht bis auf die Ebene seiner Algorithmen, seiner digitalen Rechengehirnströme, es ist ein Geratter von Sprach- und Bildfragmenten, die sich kaum noch zu einem Inhalt zusammensetzen lassen. Es bleibt der Eindruck eines Erzählens, das sich selbst abschafft.
Sonja Grebe schrieb für satt.org zuletzt über
Dietmar Dath, Wilhelm Bartsch und Michael Rutschky.