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September 2004
Christina Mohr
für satt.org


England's Dreaming
25 Tracks before during and after Punk, compiled by Jon Savage
Trikont 2004

England's Dreaming
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* England's Dreaming
Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock.
Verlag Klaus Bittermann, Edition Tiamat, Berlin 2003

Jon Savage: England's Dreaming

Aus dem Englischen von Conny Lösch, mit ausführlicher Diskographie und zahlreichen Abbildungen.
544 Seiten, br.,
EUR 14,95
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(Übersetzerin Conny Lösch war mit Savage in Deutschland auf Lesetour unterwegs – wer die Lesungen verpaßt hat, dem sei das Buch an dieser Stelle dringend und wärmstens zur Lektüre empfohlen!)

England's Dreaming.
25 Tracks before during and after Punk, compiled by Jon Savage


Punk ist wieder überall: Spex widmet Punk im Septemberheft ein Special, Ende September findet in Kassel der Kongreß "Punk 2004" statt, in dessen Rahmenprogramm nicht nur alte Recken wie die Buzzcocks oder Jayne County auftreten werden, sondern auch in verschiedenen Diskussionsrunden geklärt werden soll, was Punk war, was Punk wollte und was Punk heute noch oder wieder bedeutet. Wir werden berichten.

Jürgen Teipel hat vor drei Jahren wirklich was losgetreten mit seiner Interviewsammlung "Verschwende Deine Jugend". Das Buch und die daraufhin zusammengestellte CD wurden Erfolge, moderne Klassiker sozusagen und machten den Weg frei für längst fällige Übersetzungen englischsprachiger Bücher wie z.B. Please Kill me von Legs McNeil und Gillian McCain (siehe auch die satt.org-Rezension) und Jon Savages Bibel des britischen Punk, England's Dreaming*. Auch zu diesem Buch gibt es nun eine begleitende CD, zusammengestellt vom Autor selbst. Dabei herausgekommen ist eine Compilation der wirklich besonderen Art: Nicht nur, dass sie extrem schick verpackt ist, nein, auch der Inhalt unterscheidet sich deutlich von den Woolworth-Grabbeltisch-Billo-CDs, mit denen man in den letzten Jahren Häuserdächer schindeln konnte. Es fehlen die sattsam bekannten Stücke der Sex Pistols oder von The Clash, Savage richtete seine Auswahl besonders auf die unbekannten und vergessenen Heroen wie zum Beispiel The Normal oder The Urinals, The Zeros oder The Weirdos (man beachte die "The"-Häufung). Natürlich sind auch Klassiker vertreten wie die Ramones, Wire oder die Buzzcocks. Nicht zuletzt bedingten auch komplizierte Lizenzvergabepraktiken die Zusammenstellung, dennoch erweckt kein einziges Stück den Eindruck eines Lückenfüllers. Die Sammlung beweist, dass auch heute noch, nach bald dreißig Jahren, Entdeckungen zu machen sind, Schätze zu heben sind, obwohl man das Feld längst abgegrast glaubte.



Foto: Jon Savage
Jon Savage

Savage setzt früh an mit Iggy & the Stooges, der ersten Punkhymne überhaupt: "Search & Destroy", der Slogan, den sich Henry Rollins als Rückentattoo aussuchte. Ebenso zu finden sind die Electric Eels, die französische, hier weitgehend unbekannte Band Metal Urbain, Devo mit zwei frühen Liveaufnahmen, die den später entwickelten zackigen, typischen Devo-Sound schon ankündigen. Patti Smith, Siouxsie & the Banshees, Penetration, X-Ray-Spex und The Adverts beweisen eindrücklich, dass Punk doch kein reines Jungsding war. Schön, dass auch die Avengers, die Band um Penelope Houston auf der CD vertreten sind: The Avengers waren Vorgruppe der Sex Pistols bei ihrem ebenso legendären wie desaströsen Winterland-Konzert in den USA, als Johnny Rotten das Publikum mit der zynischen Bemerkung "Ever feel like you've been cheated?" im Regen stehen ließ. Damit war Punk vorbei, meint Punk-Cheftheoretiker Greil Marcus, den Avengers zumindest ist der Schritt in die Popularität versagt geblieben. Penelope Houston erfand sich Anfang der Neunziger Jahre neu mit einer Reihe wunderschöner Folk-beeinflußter Platten wie "The Whole World" oder "Cut You", aber Punk war das nicht. Oder doch? Greil Marcus scheut sich beispielsweise nicht davor, Fleetwood Macs "Tusk" als Punk zu bezeichnen – weil Fleetwood Mac etwas veröffentlichten, was nirgendwo hineinpaßte, ein sperriger Klotz von Platte, monströs und überhaupt nicht lieblich-mainstreamig, wie "Rumours" es noch war. Ich schweife ab---- weiter zu "England's Dreaming": Die Residents sind drauf mit einem hörspielartigen Stück namens "Beyond the Valley of a Day in the Life"; Brian Eno & Snatch (mit einem Track über die RAF – das einzige, worum uns die Engländer jemals wirklich beneideten: Deutschland hatte einfach die coolsten Terroristen ever) würde man auch nicht naturgemäß auf einem Punksampler erwarten, aber spätestens hier zeigt sich, wie ungreifbar und unkategorisierbar Punk ist. Schon der Begriff "England's Dreaming" ist nicht schlüssig, schließlich stammen viele der auf dem Sampler versammelten Bands aus den USA. In Amerika sah Punk anders aus und hörte sich auch anders an als in Great Britain, dennoch lag etwas in der Luft, das die unterschiedlichsten Strömungen vereinte. Die frühen Talking Heads waren genauso Punk wie die Ramones, die Dead Kennedys ebenso wie Blondie, Devo waren Punk und Cabaret Voltaire auch. Die Verwirrung war groß und wird größer, je tiefer man bohrt, je mehr man sich um Definitionen bemüht. Punk wirkt polarisierend, zieht Gräben im eigenen Lager, ist widersprüchlich und inkonsequent – bis heute. Also in erster Linie irgendwie ein state of mind? Oder Mode? Oder Politik? Alles das und nichts davon – geblieben sind jede Menge Vorurteile, Mythen und eine Handvoll Erinnerungen. Conny Lösch schreibt im CD-Booklet, dass es besser sei, dass Punk nun wieder schick ist, also Mode, als in Vergessenheit zu geraten. Da ist was dran – aber dann muss die H&M-Verkäuferin zu jedem Schottenkaromini auch diese CD einpacken.