In der letzten Zeit hatte der Mutter-Liebhaber viel Grund zur Freude. Im vorigen Jahr erschien das großartige, siebte Mutter-Studioalbum „CD des Monats", und auf der diesjährigen Berlinale begeisterte Antonia Ganz’ Mutter-Dokumentation „Wir waren niemals hier“ das Publikum. Rechtzeitig zum bundesweiten Kino-Start in diesem Herbst veröffentlicht das Label Enduro/Staatsakt die Doppel-CD „Das ganze Spektrum des Nichts“, eine knapp zweistündige Werkschau mit 26 Titeln und 2 Kinotrailern.
Compilations und Best-ofs sind so eine Sache. Vor allem wenn sie das Schaffen einer Band darstellen, die, wie Labelmacherlegende Alfred Hilsberg es in „Wir waren niemals hier“ ausdrückt, kompakte Alben schaffen, die wie Felsen in der deutschen Musiklandschaft stehen. Mutters Vielseitigkeit ist ein Teil ihres Konzepts und eine der größten Stärken der Band. Trotzdem sind alle Mutter-Alben auch immer in sich geschlossene Werke – diese Eigenschaft kann eine Lied-Auswahl naturgemäß nicht abbilden.
Der Kenner, der fast immer auch ein Fan der Band ist, vermißt auf Compilations meist den ein oder anderen Titel – mir geht es genauso. Doch „Das ganze Spektrum des Nichts“ mit dem Etikett „IHRE ERFOLGE. 2CD inkl. 4 neuen Stücken. DIGITALLY REMASTERED“ wendet sich vorrangig an Hörer, die keine Liebhaber der Band sind – es nach dem Hören aber hoffentlich werden. Ja, es ist tatsächlich ein ungelöstes Rätsel, das Françoise Cactus in „Wir waren niemals hier“ anspricht, warum Mutter nicht total berühmt und in den Charts sind und ganz viele Platten verkaufen. Mutter sind ehrlicher als Blumfeld, trauriger als Tocotronic, wütender als die Goldenen Zitronen, eigensinniger als die Einstürzenden Neubauten und schlimmer als Rammstein. Dieses „mehr“ und die Gleichzeitigkeit der Gefühle sind höchstwahrscheinlich auch die Antwort auf die obige Frage.
Mutter haben zwei Meisterwerke geschaffen: Das zornig-lärmende Gitarrennoise-Album „Du bist nicht mein Bruder“ aus dem Jahre 1993 und, ein Jahr später veröffentlicht, die poetisch-gefühlvolle Liedsammlung „Hauptsache Musik". Zwischen diesen Polen – Krach und Kunst, Lyrik und Lärm – bewegen sich fast alle Stücke von Mutter. „Das ganze Spektrum des Nichts“ beginnt mit dem verträumten Instrumentalstück „Das Glas ist noch halb voll", als nächstes folgt die schmerzhafte, erbitterte Industrialgitarrenabrechnung „Was“ von Mutters Debütalbum „Ich schäme mich Gedanken zu haben die andere Menschen in ihrer Würde verletzen“ (1989). So geht es weiter, hin und her, ohne Ironie, von einer existentiellen Aussage zur nächsten.
In „Wir waren niemals hier“ sagt Blumfeld-Kopf Jochen Distelmeyer: „Später werden Leute sagen: Das hat kein Schwein wahrgenommen – das ist aber das Geilste gewesen.“ Dem kann man nichts hinzufügen. Doch! Dieser Tage erschien auf dem Nobistor-Label als Doppel-LP mit einem 11minütigen Bonustrack das lange Zeit vergriffene Mutter-Werk „Hauptsache Musik“ – es ist wirklich ein gutes Jahr!