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Oktober 2006
Robert Mießner
für satt.org


Hellwood:
Chainsaw of Life

Munich, Indigo 2006

Hellwood: Chainsaw of Life
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Hellwood:
Chainsaw of Life

Hellwood

Hellwood
v.l.n.r.: Willie B, Jim White und Johnny Dowd
Foto: Kat Dalton,

21st Century Gospel

Thomas Dorsey? Nie gehört? Doch, habt ihr. Auf Johnny Cashs At San Quentin findet sich (There’ll Be) Peace In The Valley, 1937 von Dorsey für Mahalia Jackson geschrieben und eines der frühen Beispiele für Gospelmusik. Ein Song, zu singen nach überstandener Not und schwerem inneren Ringen. Dorsey wusste, wovon er sprach. Mit elf Jahren verlässt der Sohn eines Baptistenpfarrers und einer Kirchenorganistin die Schule, um in einem Vaudeville Theater zu arbeiten. Er ist siebzehn Jahre alt, als er nach Chicago zieht. Um wenig später in einem von Al Capones Etablissements Barrelhouse Piano zu spielen und selber eine Kapelle zu leiten: Ma Rainey and her Wild Cats Jazz Band. Mit Gospel, der Mixtur aus säkularem Blues und geistlichen Texten, haben ihre Auftritte noch wenig gemein. In ihren Songs trauern Frauen um ihre untreu gewordenen Männer, eben diese verfluchen die Frauen, für die sie gerade erfolglos ihren ganzen Wochenlohn ausgegeben haben. Wahrlich nichts für die Kanzel.

Georgia Tom, wie sich Dorsey damals nennt, heiratet und feiert Erfolge. Verausgabt sich und erlebt mehrere Nervenzusammenbrüche. Beschließt, seine Musik nur noch der Kirche zu widmen. Die jedoch vorerst dankend ablehnt. 1932 dann der Schicksalsschlag: Seine Frau Nettie Harper stirbt bei der Geburt ihres gemeinsamen Sohns, das Kind folgt der Mutter in den Tod. Dorsey versucht, am Klavier Trost zu finden. Schreibt Take My Hand, Precious Lord – Mahalia Jackson und nach ihr Elvis Presley machen den Song berühmt; Martin Luther King lässt ihn in der Nacht vor seiner Ermordung spielen, Lyndon B. Johnson wünscht ihn sich zu seinem Begräbnis. Dorsey, der Vater des Gospel, wird 1979 als erster Schwarzer in die Nashville Songwriters International Hall of Fame aufgenommen und stirbt 1993.


Hellwood On Tour:

10. Oktober: Frankfurt a.M. - Sinkkasten
11. Oktober: Geneva - Usine
12. Oktober: Zürich - Rote Fabrik
13. Oktober: tba / Deutschland
14. Oktober: Berlin - Trompete
16. Oktober: Manchester - Academy
17. Oktober: Glasgow - ABC
18. Oktober: London - Mean Fiddler

Web:
www.johnnydowd.com

Johnny Dowds Labelkollegin Dayna Kurtz
wurde auf diesen Seiten bereits zweimal gewürdigt. Wir tun es gerne ein drittes Mal - auch sie ist im Oktober live zu erleben:

10. Oktober: Zandaam - De Kade
11. Oktober: Austerlitz - Beauforthuis
12. Oktober: Ottersum - Roepaen
13. Oktober: Oss NL Groene Engel
17. Oktober: Essen - Katakomben
18. Oktober: Berlin - Petruskirche
19. Oktober: Greiz - Café Lebensart
20. Oktober: Wesel - JZ Karo
21. Oktober: Friedrichsrode - Kunsthof
22. Oktober: Solingen Steinenhaus
23. Oktober: Offenburg - Spitalkeller
24. Oktober: Ingolstadt - Neue Welt

Jetzt bekennt sich Johnny Dowd, Möbelspediteur und scharfsinniger Analytiker des amerikanischen Traums und Albtraums, zu Dorsey. Gemeinsam mit Multitalent Willie B und Songwriter extraordinaire Jim White hat er Hellwood gegründet. Vor nunmehr auch schon neun Jahren sind sich Dowd und White in Austin / Texas, wo sonst, begegnet. Whites Erinnerung liest sich selber wie die Episode aus einem Roadmovie: „Ich sollte abends in der Stadt auftreten. Johnny hatte gerade Wrong Side Of Memphis raus. Ich war großer Fan von ihm und Johnny spielte auf einem dieser Barbecues, da ich stolperte rein. Als ich mich nach dem Konzert vorstellte, schaute er mich regungslos an, sagte: `Mensch, du bist doch der, der tut, was ich auch tue.’ Das machte mich fertig!“ Dowd: „Wie es dann so ist: `Schnell wurde ein Wir müssen mal was zusammen machen’ daraus. Doch nichts geschah, bis …“ „ …wir uns entschieden haben, ein Wall Of Voodoo-Tribute einzuspielen”, lacht White, „und was kam dabei raus? Chainsaw Of Life.

Hellwood sind ein Trio, das über Amerika, das gelobte Land, mehr zu berichten weiß, als es CNN und heute-journal jemals können und wollen. Auf Chainsaw Of Life kommen nicht zu Wort: ehemalige Präsidentenberater, hochdotierte Analysten und Korrespondenten. Stattdessen betrunkene Familienväter, ihnen entfremdete Frauen, Schichtarbeiter (Gibt es noch, glaubt es. Oder glaubt es nicht.), traumatisierte Soldaten, religiöse Spinner, Vergnügungssüchtige und Bindungsunfähige. Kurz, die, die normalerweise nicht mehr reden, und für die es normalerweise auch niemand mehr tut. Und eben Thomas Dorsey aus Villa Rica / Georgia, den Dowd im gleichnamigen Song als Quelle von Trost und Inspiration preist. Um an selber Stelle zugeben zu müssen, dass sein Material dies nicht mehr vermag, Dorseys Gospel der harterkämpften Versöhnung nicht mehr gesungen werden kann. Wo Hellwood Gott danken, und sich dabei des Gospelidioms bedienen, tun sie dies in zutiefst blasphemischer Weise: für Katrina und die New Yorker Twin Towers; für die Erinnerung an die Arche und den Strick Judas’. Chainsaw Of Life ist, so zitathaft und streckenweise ironisch die Mischung aus Folk, Rock ’n’ Roll, Funk und Rhythm ’n’ Blues klingt, eine Reise ins Herz der Finsternis, von der dieses Album detailliert erzählt.

Dem abwesenden Amerika ebenfalls auf der Spur ist Searching For The Wrong-Eyed Jesus, der Film, in dem der britische Regisseur Andrew Douglas Jim White, Johnny Dowd, 16 Horsepower und die Handsome Family den amerikanischen Süden bereisen und eine Welt jenseits von Urbanität und Aufklärung entdecken lässt – am Beginn des 21. Jahrhunderts. White gegenüber der BBC: „Wer arm ist, ist gezwungen, sich irgendetwas zu erfinden, damit es überhaupt noch weitergeht. Wenn das Schiff nicht kommt, wird das Schiff erfunden. Das Schiff, dass sie sich dort im Süden erfunden haben, ist Jesus und die zweite Wiederkehr Christi. Es gibt da unzählige Leute aus der verarmten Mittelschicht, die fest davon überzeugt sind, dass sich in wenigen Wochen oder Monaten die Erde vor ihnen auftut und sich darunter eine Stadt voller Gold und Juwelen befindet, die sie dann besingen können. Für jemanden aus London mag das nach einer Wahnvorstellung klingen, im amerikanischen Süden gilt es als normal.“ Hellwood kommen Mitte Oktober in eure Städte. Douglas’ Film haben sie mit im Gepäck.