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November 2006
Gerald Fiebig
für satt.org


Nichts: Nichts
(4-Track-CD)
2006

Nichts: Nichts (4-Track-CD)
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Nichts: Nichts

„Herzlich willkommen im kollektiven Freizeitpark“
Nichts gegen die Gesellschaft der spektakulären Arbeitslosigkeit – aber mit Musik!

Vor einem Jahr rezensierte ich ein Album der Punkband Companeros Compasos . Zu dem Problem, unsere aktuelle gesellschaftliche Lage in griffige Protestsongs zu fassen, schrieb ich: „Um heute das System zu kritisieren, müsste man so sperrige Begriffe wie ,Kapitalismus’, ,Sozialabbau’ und – als Gegenentwurf – ,Nachhaltigkeit’ und ,Existenzgeld’ singen. Wirklich rocken tut das nicht.“ Wieso eigentlich nicht? Die Goldenen Zitronen haben mit dem Album „Lenin“ ja erst kürzlich wieder bewiesen, dass das sogar ziemlich rocken kann.

In der Rezension hieß es weiter: „Companeros Compasos wagen sich mit nahezu hysterischem Mut dennoch an die Materie heran.“ Dieser Mut hat Sänger und Texter David nun zur Gründung einer neuen Band namens Nichts bewogen, die soeben ihre erste, sehr schön gestaltete EP gleichen Namens produziert hat. Auf dem Tonträger ist die Hysterie etwas gebremst, aber live ist sie ein zentrales Stilelement.

Nichts
Nichts (Foto: nichtsfuereuch.de)

Auf der Bühne: ein Gitarrist, ein Kontrabassist (!) und ein Schlagzeuger mit einem kleinen Elektro-Drumset – alle tragen Schweinemasken und spielen abgeklärt vor sich hin swingenden Standard-Jazz. In scharfem Kontrast zu der anonymen, aber eher harmlosen Musik: Dazwischen, auf der Bühne, vor der Bühne, unmittelbar vor den Gesichtern des Publikums – ein Sänger, der über das smoothe Fundament der Combo seine umso ungehalteneren Texte vorträgt. Die Tatsache, dass die Musik ihn eigentlich beruhigen sollte, scheint seine Wut über Arbeitslosigkeit, Trash-Fernsehen, Bildzeitungs-Leserreporter und blöde Nachbarn nur noch mehr zu reizen, und in kürzester Zeit steigert sich seine Tirade zu agonalem Gebrüll, begleitet von einer zunehmend spastischen Körpersprache. Das Publikum in der ersten Reihe beginnt sich besorgt umzusehen, ob alle Bierflaschen außer Reichweite stehen. Und dann entlädt sich die Spannung zwischen dem Schweine-Jazz und dem armen Schwein von Sänger zum Glück vorübergehend in einem massiven Punkrock-Brett, nur um sich im nächsten Stück wieder bedrohlich vor einem aufzubauen.

Die Ansagen zwischen den Stücken erstaunen durch ihre freundliche Korrektheit. Der Typ hat sich besser unter Kontrolle, als man dachte – ja, er setzt seine Aggression gezielt ein. Sein Amokläufer-Gestus ist ebenso Teil einer Inszenierung wie die Schweinemasken (ein plumpes Gimmick, denkt man zuerst, Mensch vs. Schweinesystem – aber die visuelle Wirkung ist erstaunlich eindrucksvoll, weil es einen eben doch irritiert, die Gesichter der Musiker trotz der Livesituation nie sehen zu können). Dieser Inszenierungscharakter nimmt der Musik aber nichts von ihrem Ernst, eher im Gegenteil: Eine Wut, die nicht einer momentanen Laune entstammt, sondern zu solchen absichtsvollen Strategien in der Lage ist, muss umso tiefer sitzen – wohl, weil sie angesichts der gesellschaftlichen Lage sehr begründet ist.

Dass die eben erwähnten Goldenen Zitronen für diese Band Pate gestanden haben, wird in Gesangsstil und Gestik noch deutlicher als an den Themen der Stücke. (Mit der drittklassigen, zu Recht fast vergessenen NDW-Band Nichts haben Nichts hingegen nichts gemeinsam außer den nur zufällig gleichen Namen.) Für den symbolisch wie musikalisch brillanten Geniestreich, Jazz und Punk-Attitude miteinander kurzzuschließen, ist mir dagegen kein wirkliches Vorbild bekannt. Es wäre zu hoffen, dass wir von Nichts bald mehr zu hören bekommen – und dass sich mehr Bands von ihrer wohldurchdachten Wut infizieren lassen. Nicht nur Bands, eigentlich.