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Wie auch immer die Gretchenfrage Vinyl oder CD beantwortet wird, eins steht fest: Die Silberlinge sind zu lang, entschieden zu lang. Knapp 80 Minuten Musik können sie speichern, und das verleitet. Willie B, der Rhythmusgeber bei Johnny Dowd und Hellwood hört im bürgerlichen Leben auf den schönen Namen Brian Wilson, stimmt zu: “Bands erliegen schnell der Versuchung: Mann, jetzt haben wir über 70 Minuten Platz, warum füllen wir den mal nicht ordentlich. Völlig überflüssig, wenn du 25 Minuten guter Musik hast, ist das viel großartiger. Die Hörer hassen Füllmaterial.” Tzar, dem Duo von Willie B und Michael Stark, Dowds Compagnon an den Tasten, die die Welt bedeuten, Pianist bei Wingnut und Student Jackie McLeans, sind 20 Minuten großartiger Musik gelungen. Den ungewöhnlichen Namen haben sie gewählt, weil er Größe und Stärke repräsentiert. Die technische Zeichnung auf dem Cover ist ein Entwurf eines der ersten russischen Panzer: “Er passt zu unserer musikalischen Philosophie: Etwas, das größer als das Leben, aber aus einfachen, effizienten Teilen gebaut ist. Bass, Schlagzeug und Orgel in unserem Fall.” Tanzmusik für Nichttänzer möchte man ihr selbstbetiteltes Debüt nennen, fünf Instrumentals und ein Gesangsstück zwischen Dub, Space Jazz und Elektro. Aufhorchen lässt schon der Opener – es ist nicht zwingend die Sprache des Rock ‘n’ Roll, in der Eva Revesz, im Hauptberuf bei The Witching auf der Bühne, singt. Don’t Drink The Water basiert auf einem russischen Märchen, intoniert von einer in Russland geborenen Ungarin. Tzar aus Ithaca, New York, spielen europäische Clubsounds, verwandeln sie mit “echten” Instrumenten in eine “organische” Erfahrung – selten war der Gebrauch von Anführungszeichen angezeigter, selten ein Scheinwiderspruch so deutlich: “Ich liebe den Klang natürlicher Drums, den Klang des echten Basses. Und nichts geht über den Sound der Hammondorgel. Aber, spätnachts in diesem holländischen Club, auf Tour mit Johnny, kam ich auf die Idee: Was, wenn wir einen Dance Tune mit organischen Instrumenten spielen? Oder eine geradlinige Orgelnummer mit schrägen Synthesizern? Ich liebe beide Varianten. Wir versuchen immer noch, die Balance zwischen Mensch und Maschine zu finden, wie alle anderen Menschen auch.”
Einer hat es bereits vorgemacht, und er dürfte bei diesem Psychedelic Swing Pate gestanden haben. Willie B: “Ganz sicher, Sun Ra. Für mich verkörpert er die bestmögliche Kombination aus Tradition, Futurismus, Spiritualität, Disziplin und Humor, kurz die Essenz der Musik schlechthin. Der Mann war ein Genie. Seine Musiker lebten gemeinsam, aßen gemeinsam, haben permanent geprobt, sind stets Schüler geblieben.” Dem Schüler Willie B, aufgewachsen in Braintree, einem familienfreundlichen Vorort Bostons, zwanzig Bahnminuten bis zur Metropole, geschehen zwei weitere Erweckungserlebnisse. Er erinnert sich, wie er die Älteren bewunderte, die Anfang der Achtziger als Breakdancer auftraten: “Break Crews waren einfach das große Ding damals. Ich fand es fantastisch, plötzlich gab es Leute, die über ihre Sternzeichen rappten, absolut frisch! Kurz darauf kriegte ich mit, dass es Grandmaster Flash and the Furious Five waren, die diese ganze Szene mit ins Leben gerufen, Rap mit Funk und anderen Dance Styles verknüpft hatten.” Später tritt ein anderer Klassiker in sein Leben. 12 Jahre ist er alt, und hat mit dem Schlagzeugspielen begonnen. Ein Fachmagazin erklärt, nicht völlig abwegig, John Coltranes Drummer Elvin Jones zum Gott – Willie B kauft sich A Love Supreme. Zu Hause, vor den Boxen angekommen, wirft es ihn um: “Mann, ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Mir war völlig unklar, was diese Jungs da überhaupt taten. Aber gerade dieses Rätsel trieb mich an, die Platte wieder und wieder aufzulegen. Aggressiv und wunderschön in einem, so kam sie mir vor. A Love Supreme war wahrscheinlich meine erste spirituelle Erfahrung mit Musik.” Es braucht nicht lange, und Willie B verlässt den Proberaum. Gemeinsam mit seinem Vater und dem älteren Bruder spielt er Bo Diddley-Beat, zwei Stunden pro Abend. Die beste Schule, die denkbar ist. Und im Einklang mit frühen Favoriten: “Nun, mein liebstes Schlagzeug, das war auf den Platten Little Richards, Fats Dominos und Buddy Hollys. Ich liebte dieses ganze frühe Rock ‘n’ Roll-Feeling. Trotzdem habe ich erst mit circa zwanzig Jahren gemerkt, dass es immer der selbe Drummer war, der da spielte: Earl Palmer! Witzigerweise war es damals nicht üblich, den Schlagzeuger auf der Platte überhaupt namentlich zu erwähnen.” Was ihn nicht davon abhält, sich endgültig für das Instrument zu entscheiden. Eine Zeitlang versucht er sich noch an der Gitarre, aber: “Ich hab’s nie hingekriegt, die Finger so zu verbiegen, dass ein vernünftiger Akkord zustande kam, kann es bis heute nicht.” Was die Finger nicht hergeben, leisten die Füße. Willie B brilliert nicht nur als Drummer. Er spielt, bei Tzar mustergültig zu hören, Basspedalen. Klingt erstmal seltsam, hat aber Tradition: “Bei Johnny Dowd standen wir irgendwann vor dem Problem, dass wir keinen Bassisten hatten. Zur selben Zeit war ich von meinem Schlagzeugspiel selber gelangweilt, und suchte etwas Inspiration. Da ich schon lange die klassischen Orgeltrios im Jazz mochte, dachte ich mir: Warum baue ich den Bass nicht in mein Set ein, wie es die Organisten getan haben? Johnny hat mir dann meine ersten Pedalen gekauft, und mir drei Monate Zeit gegeben, für die nächste Europatour Schlagzeug mit Basspedalen zu üben. Ich dachte: Was habe ich hier nur angefangen? Dann gab es kein Zurück mehr.” Jazz- und Indiesnobs werden mit Tzar ihre Schwierigkeiten haben. Was ganz im Sinne der Erfinder ist: Willie B liebt nicht nur Sun Ra und Thelonious Monk, sondern bekennt sich enthusiastisch zu ZZ Top: “Eine meiner absoluten Lieblingsbands. Sollte ich drei Platten empfehlen, wären es, in dieser Reihenfolge: Tres Hombres, Mescaleros und Fandango! ” Soul, Funk, Surf und Rock hat er gespielt. Ist mit Neko Case und der Punklegende Jayne County aufgetreten. Überhaupt, er gerät ins Schwärmen, wenn die Rede auf seine Mitstreiter kommt: “Michael ist einer der besten Musiker, mit denen ich jemals spielen konnte. Obwohl wir nun schon seit Jahren gemeinsam arbeiten, ist es immer noch so, als hätten wir gerade erst angefangen.” Unbedingt weitermachen, sei ihnen über den Atlantik zugerufen. Im Mai treten sie die Reise nach Europa an, Tourdaten in Deutschland inklusive. Das Warten wird nicht zu lang. Denn es steht allen frei, dieses Kleinod zu hören, wo immer es hinpasst, im Club, im Auto oder am heimatlichen Kamin mit einem Whiskey. Willie B empfiehlt: “Legt es auf, wenn ihr vom Club nach Hause fahrt, und spielt es dann noch mal im Schlafzimmer.” Es dürfte eine kurze Nacht werden. Auch für die Repeat-Taste. » www.tzarmusic.com |
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