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24. Oktober 2009

  Die Goldenen Zitronen: Die Entstehung der Nacht
Die Goldenen Zitronen:
Die Entstehung der Nacht

Buback
» die-goldenen-zitronen.de





Eine große überregionale Tageszeitung vermutete unlängst, mit den Alben von Jochen Distelmeyer, Ja, Panik und Die Goldenen Zitronen braue sich der Soundtrack für kommende Revolutionen an. I predict a riot? Tatsächlich haben die drei Platten gemeinsam, dass sie, auf unterschiedliche Weisen, Bezug nehmen auf den Status Quo unseres von der Weltwirtschaftskrise zerschundenen Staates und der davon und von der Wirtschaft im allgemeinen zerschundenen Verbraucherkörper, also unseren. Während Distelmeyer das System von innen aufmischt, indem er schöne Lieder singt, bauen Ja, Panik und Die Goldenen Zitronen auf den Krach, die Dissonanz, das Nicht-Einverstandensein.

Und doch ist die Identifikation unausweichlich, wenn man sich auf die mit feiner Elektronik austarierten Songs der Goldenen Zitronen einlässt. Der Text steht im Vordergrund, wird aber mal psychedelisch umkreist, mal krautrockerisch in den Boden gemeißelt. Was bei Distelmeyer das traurige „Bleiben oder gehen“, das sind hier die „Zeitschleifen“ - ein unsentimentales Totenlied für eine Beziehung. „Börsen crashen/ Knochen brechen“ heißt es dagegen im grandiosen „Börsen crashen“, das ganz konkret und ohne Rumzudeuteln den Zynismus der Finanzjongleure thematisiert, und Sentenzen wie „aber zu viele Möglichkeiten wiederum können sich anfühlen wie allein gelassen werden“ (aus: „Bloß weil ich friere“) sorgen für ein Schauern angesichts dessen, wie da das lyrische Ich die Nöte des kapitalistischen Komsumviehs gruselig auf den Punkt bringt.

Ein Jahr nach dem tödlichen Unfall von Jörg Haider bekommt dieser endlich auch von den Zitronen seinen verdienten Nachruf: in „Des Landeshauptmanns letzter Weg“ wird die eklige Wahrheit nicht unter den Gebetsteppich gekehrt. Und so geht’s auf diesem Album immer weiter, unerschrocken durch den Schlamm der Gegenwart. Neulich las ich bei Oliver Maria Schmitt die schöne Definition, XING sei ein ins Internet verlegter Straßenstrich für all die, die die noch kreativeren, noch kräftezehrenderen Stellen haben wollen: „Einer muss den Job ja machen/ das glitzernde Zeug verkaufen... den Sachzwängen etwas Positives abgewinnen“, sagen die Goldenen Zitronen dazu („Lied der Medienpartner“), derweil in „Aber der Silbermond“ die Heimeligkeitsphantasien der gleichnamigen erfolgreichen deutschen Band und ihrem Song „Irgendwas bleibt“ aufs Erfreulichste in den Dreck gezogen werden – ein Remake wie ein Zerrspiegel.

Auch die bewährten Kooperationen mit befreundeten Musikern werden auf „Die Entstehung der Nacht“ (welch großer Titel!) fortgesetzt: Melissa Logan von Chicks on Speed, Jakobus Siebels von JaKönigJa sind unter anderem mit dabei, und Michaela Mélian von F.S.K. darf Melanies „Beautiful People“ in einer an Nico gemahnenden, erregenden Version darbringen.


Dieser Beitrag erschien zuerst im Titel-Magazin.