Jungen Kreativen gibt man oft den Rat, ihre eigenen Erfahrungen in ihren Werken einzubringen. Der Berliner HFF-Abschlußfilm
Wir hält sich daran und erzählt aus dem mitunter turbulenten Alltag einer Clique junger Leute (etwa Mitte 20), darunter passenderweise auch Studenten, angehende Filmemacher oder eine in Babelsberg tätige Möbeldesignerin.
Trotz episodischer Struktur gibt es eine Hauptfigur, den Schreiner Florian, der per Umzug neu in diese Gruppe eingeführt wird, und mit dessen Augen wir die anderen erleben. Innerhalb eines Sommers erfahren wir von den Zielen und Wünschen dieser Gruppe, aber auch von den Kommunikationsproblemen und Missverständnissen. Florian etwa ahnt nichts von der Veränderung seines Schulfreundes Pit und verliebt sich gegen jede Vernunft in Petronella, die seit vier Jahren in einer festen und glücklichen Beziehung steckt. (Zumindest ist dies der anfängliche Anschein.) Doch neben der eher herkömmlich erzählten Geschichte Florians sind es die kleinen Nebenfiguren, die durch detaillierte Zeichnung und Darstellung den Film ausmachen. Personen, die man am Anfang als Zuschauer kaum beachtet, und die einen für diese Nichtbeachtung später strafen. Etwa die von Brigitte Hobmeier (Identity Kills) gespielte Käthe, die völlig abgeschirmt von der Welt scheint, sich mit illegalen Transaktionen durchs Leben mogelt und insbesondere beim Ausleben ihrer Sexualität eine absurde Herangehensweise frönt, die schließlich in einem gewalttätigen Ausbruch zu kulminieren droht.
Doch man muß es Wir und seinem Regisseur Martin Gypkens hoch anrechnen, daß man eben nicht dem vielverbreiteten Schema anderer Abschlußfilme folgt, indem man dem Film einen unangebrachten spektakulären Höhepunkt aufdrängt, der die Logik des Skripts unterläuft, wie es beispielsweise in Endstation Tanke oder Tolle Lage geschah. Das Ende von Wir bringt die Geschichte nicht zu einem verlogenen , aufgesetzten Klimax, sondern ist die logische Weiterentwicklung des Sujets, die zufällig auch einige der Beziehungsgeflechte während des Films neu umorganisiert, wie es aber im Leben oft der Fall ist, auch wenn der Anlaß (neue Freundin, Umzug) meist unspektakulärer erscheint.
Wir ist kein handlungsorientierter Actionfilm, sondern eine Charakter- und Generationsstudie, wie man sie selten im deuschen Kino sieht. Die Versuche eines solchen Films sieht man oft, etwa Die Klasse von '99 oder brandaktuell Was nützt die Liebe in Gedanken, aber gelungene Beispiele sind rar gesät. Und deshalb verzeiht man dem Film den Paukenschlag am Schluß, der die letztgenannten Gegenbeispiele eher runterzieht, denn man hat zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, als hätte Martin Gypkens die Geschichte nicht auch ohne diesen Paukenschlag zu einem befriedigenden Ende hätte bringen können. Und daß der "Paukenschlag" (sorry, daß ich nicht deutlicher werde, aber ich hasse es, wenn Rezensionen schon die letzte Viertelstunde ausplaudern) der Geschichte sogar noch eine weitergehende Message verleiht, gehört zu den Stärken dieses Films.
Übrigens: Von den sechs abendfüllenden Spielfilmen, die 2003 in der Berlinale-Reihe "Perspektive Deutsches Kino" liefen, ist Wir mittlerweile der fünfte (nach Narren, Wir haben Knut, Science Fiction und Eierdiebe), der im Verlauf von zwölf Monaten zu einem regulären Kinostart kam. Eine bessere Werbung können sich die Initiatoren wohl kaum vorstellen, und ich bin schon gespannt, was einen 2004 in dieser Reihe erwartet.