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Januar 2005
Thomas Vorwerk
für satt.org

Der Wald vor lauter Bäumen
D 2003

Filmplakat

Buch
und Regie:
Maren Ade

Kamera:
Nicolai von Graevenitz

Schnitt:
Heike Parplies

Ausstattung:
Claudia Schölzel

Kostüme:
Gitti Fuchs

Darsteller:
Eva Löbau (Melanie Pröschle), Daniela Holtz (Tina Schaffner), Jan Neumann (Thorsten Rehm), Ilona Christina Schulz (Frau Sussmann), Robert Schupp (Tobias), Heinz Röser-Dümmig (Lutger Reinhardt), Martina Eckrich (Renate Pföhler), Nina Fiedler (Bine)

81 Min.

Kinostart:
27. Januar 2005

Der Wald vor lauter Bäumen


Gerade bei jungen, noch nicht etaiblierten Regisseuren, habe ich ein kleines Geheimnis, die potentielle Streu vom Weizen zu trennen: Ich schaue auf die Lauflänge. Filme wie Lovely Rita oder Mein Stern, die ihre Geschichte in weit unter 90 Minuten erzählen, wirken oft geschlossener, und die Gefahr, langweilig zu werden, ist bei geringer Filmlänge auch weniger groß. Natürlich gibt es bei solchen waghalsigen Theorien auch Gegenbeispiele, aber Der Wald vor lauter Bäumen von der HFF München verdeutlicht meine These sehr gut.

Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene

Obwohl sich die Regisseurin entschieden hatte, auf Video zu drehen, weil dies dem dokumentarischen Charakter des Films zugute kommen würde, und gut 50 Stunden Material dabei entstanden sind, war es für Maren Ade offensichtlich kein Ziel, 90 oder gar 110 Minuten abzuliefern, wenn sich ihre Geschichte auch in 81 Minuten erzählen lässt, ohne dabei zu irgendeinem Zeitpunkt gedrängt zu wirken.

Die junge Lehrerin Melanie verlässt das schwäbische Elternhaus (der Exfreund hilft ihr noch beim Umzug), um in Karlsruhe ihre erste Stelle an einer Realschule anzutreten. Voller guter Vorsätze klingelt sie mit "Selbschtgebranntem" bei ihren neuen Nachbarn und will auch in der Schule "frischen Wind" einbringen. Doch die Kinder durchschauen schnell, daß "Frau Pröschle" wenig Durchsetzungsvermögen hat - oft beschweren sich andere Lehrer über den Lärm bei der neuen Kollegin und ein Schüler schmeißt sogar seine Kaba-Tüte nach ihr. Einem gutmeinenden, aber etwas nervigen jungen Kollegen gegenüber gibt Melanie ihre Probleme nicht zu, und auch im Privatleben geht nicht alles so wie gedacht, denn ein neuer Freundeskreis ist nicht so einfach zu etaiblieren.

Als sie in einer Wohnung gegenüber eine ebenso unglückliche Frau im gleichen Alter mit dem Fernglas beobachtet, und Tina, die Betreiberin einer Boutique später "zufällig" kennenlernt, scheint ein wenig Licht am Horizont aufzutauchen, doch Tina ist auf die Freundschaft mit der mitunter seltsamen Lehrerin nicht so angewiesen wie Melanie, die ihre Nachbarin immer mehr bedrängt und sich in deren Privatleben einmischt, als würden sie sich schon ewig kennen.

Der Wald vor lauter Bäumen ist als Komödie deklariert, daß macht auch das Filmplakat offensichtlich. Doch auch wenn vieles im Film "sauluschtich" ist und man als Zuschauer die peinlichen Momente im Leben der Melanie natürlich ganz anders wahrnimmt als diese, macht schon der unaufhaltsame Niedergang Melanies den Film zu einer Tragikomödie, die allerdings nicht mit einem platten Selbstmordversuch, sondern mit einem poetisch offenen Ende abschließt.

Neben den gut beobachteten Alltagssituation und einem überzeugenden Drehbuch ist es vor allem Eva Löbau in der Hauptrolle, die Der Wald vor lauter Bäumen zu einem Filmereignis macht. Gerne würde man die Hauptdarstellerin in einer anderen Rolle sehen, weil ihr Auftritt als Melanie Pröschle derartig authentisch wirkt, daß der Film wirklich dokumentarisch wirkt. Man fühlt sich an Andreas Dresens Halbe Treppe erinnert, obwohl bei Der Wald vor lauter Bäumen zwar viel improvisiert wurde, aber fast immer ein Drehbuch vorlag.

"Und was ist jetzt?" - "Jetzt seid ihr bitte ganz still, bis die Stunde zuende ist …"