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November 2005 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||
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L’enfantDie 18jährige Sonia lebt von der Sozialhilfe und wird gerade mit ihrem neugeborenen Baby aus dem Krankenhaus entlassen. Sie sucht ihre Wohnung auf, muß aber feststellen, daß ihr Freund Bruno diese inzwischen vermietet hat - er ging davon aus, daß sie erst nach einer Woche wiederkehren würde. Als Sonia Bruno schließlich erreicht und ihm das gemeinsame Kind zeigt, interessiert sich dieser höchstens für den Namen ("Jimmy, wie abgemacht"), ist aber zu sehr mit seinen Machenschaften beschäftigt. Bruno ist der Meinung, daß Arbeiten „nur was für Arschlöcher“ ist, und so lebt er von der Hand in den Mund, ernährt sich durch Betteln, kleine Diebstahlsaktionen, aber auch mal kleine Raubdelikte, für die er zwei unmündige Helfer benutzt, die mit jeweils einem Viertel der Beute zufrieden ist, Bruno ist ja das „Mastermind“ hinter den Aktionen. Sonias Sozialhilfe hat Bruno während des Krankenhausaufenthalts ausgegeben, und wegen der untervermieteten Wohnung müssen die beiden ins Obdachlosenasyl, wo sie auch nur mit viel Glück und aufgrund des Babys einen Platz finden. Es ist schon die Wucht in Tüten, was der junge Mann seiner Freundin so bietet, doch die beiden sind jung und verliebt, tollen immer wieder durch die (noch milde) Natur, und mit seiner (gekauften!) Markenjacke und dem frechen Hut sieht Bruno irgendwie ein bißchen aus wie Jean-Paul Belmondo in A bout de souffle: ein Gauner, den man lieben muss. Nachdem man als Zuschauer Brunos über Handy gut organisierte kleine Raubzüge kennengelernt hat und sein tadelhaft funktionierendes Netz von Hehlern, wird er mit einer ungewohnten Aufgabe betraut: Er soll auf den kleinen Jimmy aufpassen. Zunächst schiebt er das Kind im Second Hand-Kinderwagen durch die Gegend und nutzt den verstärkten Sympathiefaktor fürs Betteln. Doch dann kommt er recht überraschend auf die Idee, auch das Kind zu Geld zu machen, organisiert über seine Hehlerbeziehungen Kinderhändler für illegale Adoptionen, legt Jimmy irgendwo in einer Garage ab und findet an der selben Stelle wenige Minuten später 5000 Euro. Als Sonia davon erfährt, ist sie außer sich, fällt sogar in Ohnmacht, was Bruno offensichtlich unerwartet trifft ("Was habe ich denn getan? Ich dachte, wir machen noch eins …"). Doch durch die Reaktion der Freundin wird er wachgerüttelt und unternimmt alles, den gemeinsamen Sohn wiederzubekommen … Nach Le fils klingt der Titel des neuen Films der Brüder Dardenne, L’enfant, ganz ähnlich, und auch bei der Besetzung haben die Brüder auf bewährte darsteller zurückgegriffen. Jérémie Rénier (Bruno) spielte schon in La promesse mit, Jérémie Segard spielte schon den Jungen in Le fils, und Olivier Gourmet spielt bereits zum vierten Mal in Folge bei den Brüdern mit, diesmal wie schon bei Rosetta aber nur in einer kleinen Rolle. Auch das Sujet, die Protagonisten aus der Unterschicht, der Drehort Seraing an der Mass (10 Kilometer von Lüttich), die immer auf Nähe bedachte Handkamera sind aus den früheren Filmen bekannt, und dennoch funktioniert auch dieser Film wieder - kaum jemand kann den Zuschauer so mitreissen wie die Dardennes, und in Cannes bekamen sie dafür nach Rosetta bereits zum zweiten Mal die Goldene Palme. Ähnlich wie Le fils ist auch L’enfant ein zweideutiger, irreführender Titel, denn eigentlich ist nicht Jimmy sondern Bruno die Hauptfigur, und man merkt sehr schnell, daß er sich wie ein Kind benimmt: impulsiv, kurzsichtig und ohne Reue verschachert er seinen eigenen Sohn, behandelt deren Mutter wie Dreck (nur liebevoller) und reißt mit seinen zwei"Lehrlingen“ sogar noch andere mit ins Unglück, in eine ungesunde Art, zu leben. Was L’enfant aber von seinen Vorgängern unterscheidet, ist das auffallend komplexe Drehbuch, das diesmal sogar Verfolgungsjagden und - man kann es nicht anders nennen - Actionsequenzen (allerdings à la Dardenne) beinhaltet. Das muss einen Film nicht unbedingt besser machen, doch da man hier mit den Protagonisten mitfühlt wie im US-Kino beispielsweise nur in den seltensten Fällen (auch wenn man nicht wirklich versteht, welcher Teufel Bruno reitet), funktioniert auch die Action. Es ist eine Action wie in Ladri di biciclette oder London kills me, vielleicht sogar wie in Lilya 4-ever: Wenn man schon ganz unten ist, kämpft man nur noch ums blanke Überleben, die nächste Mahlzeit oder ein klein wenig Anstand. Daß die Dardennes diesen Kampf, den sie schon in ihren frühen Dokumentarfilmen zum Thema machten, immer noch mitkämpfen, obwohl sie inzwischen wahrscheinlich drehen könnten, was sie wollen (und sicher auch mit höherem Budget oder echten Stars), das zeichnet sie aus. Sie drehen Filme, als ginge es auch ihnen nur um die nächste warme Mahlzeit, und nach einer solchen Erfolgsgeschichte (man sollte auch nicht vergessen, daß sie aus Belgien stammen, einer nicht eben begüterten Filmnation) zeigt das von einer Integrität und Ehrbarkeit, die die Regisseure zu den wahrhaft strahlenden Helden ihrer Filme werden lässt. Ähnliches gibt es momentan nur noch bei dem (nicht annähernd so erfolgreichen) Lukas Moodysson, der vielleicht auch das Filmland Schweden zum Durchbruch führen könnte - doch sein letzter Film hat es noch immer nicht in die deutschen Kinos geschafft, weil er nicht nur integer ist, sondern auch noch risikobereit und provokativ vielleicht zuviel des Guten. Doch solange es Regisseure wie die Dardennes (andere Beispiele wären vielleicht Kim Ki-Duk, Atom Egoyan, Tsai Ming-liang, Gus van Sant oder Hirokazu Kore-Eda) gibt, mag das Weltkino vielleicht am Hungertuch nagen - es ist aber nicht totzukriegen und bekommt immer wieder Nachwuchs. Ein Grund zum Feiern! |
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