Lornas Schweigen
(R: Jean-Pierre & Luc Dardenne)
Originaltitel: Le silence de Lorna, Belgien / UK / Frankreich / Italien / Deutschland 2008, Buch: Jean-Pierre & Luc Dardenne, Kamera: Alan Marcoen, Schnitt: Marie-Hélène Dozo, mit Arta Dobroshi (Lorna), Jérémie Renier (Claudy), Fabrizio Rongione (Fabio), Alban Ukaj (Sokol), Morgan Marinne (Spirou), Olivier Gourmet (Kommissar), 105 Min., Kinostart: 9. Oktober 2008
Mit jedem neuen Film der Dardenne-Brüder scheint sich der filmische Mikrokosmos etwas zu öffnen, scheinen sie einem herkömmlichen Skript etwas näherzukommen, aber die Art und Weise, wie sie dabei dennoch konsequent ihren eigenen Weg beschreiten, wird wohl ausschlaggebend gewesen sein, als sie für Le silence de Lorna in Cannes für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurden.
Anders als ihre letzten Filme mit minimalistischen Titeln, die sich über einen Namen (Rosetta) und zwei zumindest angedeutete verwandtschaftliche Beziehungen (Le fils, L’enfant) mit unterschiedlich zweideutiger Auslegungsmöglichkeit nicht hinauswagten, ist Le silence de Lorna nicht eben ein schweigsamer Film oder seine Hauptfigur eine schweigsame Person. Das Schweigen als innerer Zustand der nicht ausgesprochenen Gedankengänge überträgt sich sowohl auf den Zuschauer als auch auf die Ausdrucksform des Films, die sich diesmal nicht über die oft imitierten Kameraverfolgungen von Rückenpartien definiert, sondern trotz der üblichen und bei den Dardenne-Brüder unumgänglichen Nähe zu den Protagonisten (selten, vielleicht nur bei einigen Waldszenen, zieht sich die Kamera mehr als vier oder fünf Meter von den Figuren zurück) diesmal über ein Stilmittel, das auch zuvor bei den Brüdern Anwendung fand, sich hier aber unübersehbar in den Vordergrund spielt: Die Ellipse.
Die Prämisse des Films, die dem informierten Kinobesucher längst bekannt ist, muss man sich bei der günstigen Ausgangsposition eines Kritikers, der allenfalls den Namen des Films und der Regisseure kennt, erst langsam erarbeiten. Man erfährt, dass Lorna (Beeindruckend: Arta Dobroshi) bald den Status einer Belgierin sicherhat, hört sie dann mit ihrem Freund / Mann / Liebhaber in einer osteuropäischen Sprache telefonieren, bevor sie ihre Wohnung betritt, die sie mit einem anderen Mann namens Claudy (Jérémie Renier aus L’enfant) teilt. Dass dieser ihr Ehemann ist, ein Junkie, der clean zu werden versucht, und mit dem sie eine Scheinehe führt, um sich so den Nationalitätenstatus zu erschleichen, erfährt man erst nach und nach.
Der Film entwickelt sich wie eine Alptraumversion von Green Card, denn damit Lorna baldmöglichst einen Russen heiraten kann, der somit auch bald Belgier werden kann (natürlich gegen hohe Geldbeträge, die vor allem die Organisatoren dieser Transaktionen einstreichen), geht es nun nicht darum, dass der Junkie, der durch die Heimat auch mal schnelles Geld machen konnte, irgendwie auch ein Mensch ist, wie Lorna langsam erfahren hat, sondern eine Überdosis die weitaus schnellere Methode ist, die nächste Heirat in Angriff zu nehmen. Und wo sich nun (innerhalb ihres oft elliptischen “Schweigens”) das Gewissen der zuvor nicht unbedingt sympathischen Lorna zu melden droht, und sie die Pläne der durchaus gefährlichen Drahtzieher zu durchkreuzen droht, da ist der Zuschauer bereits voll in die Geschichte integriert, deren Details er (oder sie) nur so en passant gerade ausmachen konnte. Und die Meisterschaft der Dardennes zeigt sich hier darin, dass es ihnen keinesfalls genügt, somit eine gesellschaftlich brisante Geschichte aufgebaut zu haben, die jeden Tatort an Spannung überbieten könnte, nein, denn gleichzeitig, wie der Zuschauer sich zusammen mit Lorna auf gefährliche Wege begibt, sind es weiterhin die Ellipsen, die den Film ausmachen, die Details, die Lorna nicht ausspricht (weil sie auch keinen Ansprechpartner hat) und die somit bis zum Schluss des Films eine zweifache Ungewissheit des Betrachters installieren. Zum einen darum, wie es Lorna (und anderen Figuren) ergehen wird, zum anderen darum, was sie eigentlich genau vorhat.
Und auch, wenn gerade die letzte Viertelstunde des Films die Zuschauerschaft spalten könnte, und man hier Andeutungen einiger Schwächen ausmachen könnte, die sich erst nach und nach in den über die Jahre komplexer werdenden Geschichten der Dardennes breit machen, so haben die Brüder ihr Sujet mit allen angedeuteten Möglichkeiten doch so sehr im Griff, dass diese “Ausweitung der narrativen Kampfzone” keiner Schwäche gleichkommt. Die einzige Kritik, die ich mir auch in Hinsicht auf spätere Filme der Brüder nicht verkneifen kann, ist der mittlerweile obligatorische Kurzauftritt von Olivier Gourmet, der hier den Zuschauer eher aus der Filmwelt herausreißt, als dass er dem Werk wirklich wichtige Impulse verleihen kann.