Milk
(R: Gus Van Sant)
USA 2008, Buch: Dustin Lance Block, Kamera: Harris Savides, Schnitt: Elliot Graham, Musik: Danny Elfman, mit Sean Penn (Harvey Milk), Emile Hirsch (Cleve Jones), Josh Brolin (Dan White), Diego Luna (Jack Lira), James Franco (Scott Smith), Alison Pill (Anne Kronenberg), Victor Garber (George Moscone), Denis O’Hare (John Briggs), Joseph Cross (Dick Pabich), Lucas Gabreel (Danny Nicoletta), Brandon Boyce (Jim Rivaldo), Jeff Koons (Art Agnos), 128 Min., Kinostart: 19. Februar 2009
Nach seiner filmsprachlich innovativen, in der Narration aber mitunter kryptischen “Todes-Trilogie” (Gerry, Elephant, Last Days) wirkte schon Paranoid Park wie eine Fortsetzung des Themas mit anderen Mitteln. Und mit dem Biopic des ersten offen schwulen Politikers Harvey Milk setzt Van Sant noch einen drauf, und arbeitet seine früheren Ausflüge in den kommerziellen Film (Good Will Hunting, Finding Forrester) sowie die dezidiert und nicht nur unterschwelligen schwulen Themen von My Own Private Idaho oder Mala Noche noch mit ein. Man könnte von einer Kulmination seines bisherigen Schaffens reden, und die Nominierung für den Regie-Oscar (auch, wenn die Chancen auf das Goldmännchen eher gering einzuschätzen sind) ist dann die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.
Das Drehbuch setzt ein mit der Aufzeichnung einer Tonbandaufnahme im Jahre 1978. Harvey Milk (Sean Penn) beginnt seinen den Film begleitenden Monolog mit den Worten “This is only to be played in the event of my death through assassination”, und nach einer kleinen, aber bereits aufschlussreichen Reise durch Archivmaterial aus der Zeit setzt die Handlung am Vorabend zu Milks vierzigstem Geburtstag ein. Der 1970 noch als Versicherungsangestellte tätige Harvey baggert in der New Yorker U-Bahn Scott Smith (James Franco) an, und die beiden beschließen sehr bald, in San Francisco ein neues gemeinsames Leben zu beginnen. Hier kann man bereits auf die eher unscharfen Köpfe als Illustration der ersten Liebesnacht zu sprechen kommen (offenbar hat Van Sant sich dafür entschieden, statt drastischerem Bildmaterial, wie man es auch schon bei ihm gesehen hat, lieber ein größeres Publikum nicht vor den Kopf zu stoßen), und auf die ungewöhnliche “la-la-la”-Musik von Danny Elfman, die wohl die Flower-Power-Zeit evoziieren soll (im folgenden wird der Soundtrack nicht einmal vor klischeebelasteten Schwulen-Hymnen wie “Somewhere over the Rainbow” von Judy Garland zurückscheuen, was aber bei einem erweiterten Zielpublikum auch statthaft und sinnvoll ist).
Harvey und Scott eröffnen im Arbeiterviertel Castro den Fotoladen “Castro Camera”, und die Resonanz der Einzelhandelsvereinigung “Eureka Valley Merchants” dürfte für den weiteren Weg des sich noch als Geschäftsmann, nicht als politischen Aktivist verstehenden Milk nicht ohne Bedeutung sein. Der Repräsentant der illustren Gemeinschaft schüttelt zwar kräftig Harveys Hand, wischt die eigene Hand aber nahezu sofort mit einem Taschentuch ab. Von Schwulen (und Schwarzen) distanziert man sich in der großbürgerlich-merkantilen Vereinigung so subtil wie möglich. Und so sehen sich Harvey und Scott gezwungen, ihr eigenes Netzwerk mit ebenfalls abgelehnten Geschätsmännern aus Minderheiten aufzubauen, wobei durch den stetigen Zufluss von jungen Neukunden, die sich als tolerant und politisch aktiv verstehen, und in San Francisco ein “home away from home” suchen, diese alternativen Geschäfte florieren (now that’s what I call flower power!), und Harvey nach einem großangelegten Boycott der Coors-Brauerei schon bald als “Mayor of Castro Street” durchgeht. Gleichzeitig erlebt man das erbarmungslose Eingreifen der Polizei San Franciscos gegen Hippies, Schwule etc., und es dauert nicht mehr lang, bis aus dem Fotoladen das “campaign center” für Harveys erste Kandidatur für den Stadtrat. Wie sich dadurch Harveys Privatleben verändert, aber auf lange Sicht auch das Gesicht der Stadt, davon handelt der Film.
Trotz der Massenkompatibilität des Films (allein Sean Penn offenbart natürlich eine ganz andere Publikumsschicht als die größtenteils unbekannten Darsteller seiner letzten vier Filme) arbeitet Van Sant nach wie vor mit seinen eigenen Mitteln. So lässt er beispielsweise Milks politischen Freund und späteren Erzfeind Dan White vom aufstrebenden Josh Brolin (No Country for Old Men, W.) spielen, entscheidet sich aber beispielsweise dagegen, eine schillernde Persönlichkeit wie die christliche Sängerin Anita Bryatt (auch eine große Schwulenfeindin) von einer ebenso schillernden Schauspielerin darzustellen, und entlarvt diese ausnahmslos über aussagefähiges Archivmaterial. Manchmal ist die Ellipse halt viel aussagefähiger und verletzender als das impulsive Zurückbeißen.
Auch aus Robert Epsteins oscargekröntem Dokumentarfilm The Times of Harvey Milk (1984), der übrigens passend zum Filmstart eine Wiederaufführung erlebt und auch auf der Berlinale gezeigt wird, bedient sich Van Sant (der Nachspann verweist auch dezidiert auf dieses große Vorbild), und zeigt dabei trotz allem Streben, auch mal wieder mit einem Film im eigenen Land Geld einzuspielen, eine nahegehende Bescheidenheit, denn was hier mit teilweise suboptimalem Bildmaterial den Abschluss des Films bildet, hätten 9 von 10 Hollywoodregisseure mit Statisten oder CGI schwülstig nachgestellt. Und in diesen kleinen Momenten, die trotz allem von den gängigen Prinzipien solcher Filme abweichen (während ich auf die Szene mit der Trillerpfeife lieber verzichtet hätte), zeigt sich die Klasse des Films und seines Regisseurs. Und Sean Penn, selbst oft Regisseur, und sicher an der Besetzung von Emile Hirsch (zuletzt in Penns Into the Wild) nicht völlig unbeteiligt, liefert hier auch eine der drei, vier besten Performances seiner Schauspielkarriere, und wäre nicht The Wrestler, wäre dies ein Selbstläufer als “Film des Monats”.