Enter the Void
(R: Gaspar Noé)
Frankreich / Deutschland / Italien 2009, Buch: Gaspar Noé, Lucile Hadzihalilovic, Kamera: Benoît Debie, Schnitt: Marc Boucrot, Gaspar Noé, Production Design: Jean-Andre Carriere, Kikuo Ohta, Musik: Thomas Bangalter, mit Nathaniel Brown (Oscar), Paz de la Huerta (Linda), Cyril Roy (Alex), Olly Alexander (Victor), Masato Tanno (Mario), Ed Spear (Bruno), Emily Alyn Lind (Little Linda), Jesse Kuhn (Little Oscar), Nobu Imai (Tito), Sakiko Fukuhara (Saki), 162 Min., Kinostart: 26. August 2010
Der neue Film von Gaspar Noé beginnt wie der Prodigy-Video zu Smack my Bitch up: Mit subjektiver Kamera verfolgen wir den Drogenrausch des in Tokio lebenden Oscar (Nathaniel Brown), der schließlich bei einer Razzia der Polizei in einer Toilettenkabine, die es mit dem Rekordhalter aus Trainspotting aufnehmen könnte, sang- und klanglos auf dem Fussboden verstirbt. Hierbei ist positiv anzumerken, dass man sogar das Blinzeln der Augen eingebaut hat, und das Überlappen von Oscars Stimme (und anderer Stimmen) mit seiner »Gedankenstimme« ist ebenfalls eine interessante Idee.
Oscars japanisches Umfeld ist bereits kunterbunt, aber sein Drogentraum ist eine kaleidoskop-ähnliche Animations-Orgie irgendwo zwischen Fantasia und 2001, die Oskar Fischinger sicher gemocht hätte.
So weit, so gut. Doch mit Oscars Ableben sind wir ungefähr bei Minute 25 von 162 angekommen, und während eine Kritikerkollegin bereits nach einer Viertelstunde halblaut meinte »prätentiöser Scheiß - das halt ich nicht aus!«, gibt sich der Film redlich Mühe, auch die übrigen Zuschauer früher oder später zu einer ähnlichen Meinung zu bewegen.
Denn Oscar tritt nun zu einer zweistündigen Out-of-Body-Experience an, bei dem man zunächst annimmt, es ginge darum, inwieweit sein Bekannter Stanley ihn an die Polizei verpfiffen hat (eine Rache aus dem Grab scheint bei Noé nicht das abwegigste).
Auch seinen guten Kumpel Alex, von dem er das »tibetanische Buch des Todes« bekam (das solange in die Kamera gehalten wird, bis noch der letzte Zuschauer merkt, dass es wohl eine Bedeutung haben muss), verfolgt Oscars Geist längere Zeit. Als fliegende Kamera schwebt er über den Kiez (erinnerte mich an einen anderen Video, Protection von Massive Attack, inszeniert von Michel Gondry), wobei die immer wieder mehrere Häuserblöcke überquerenden Kamerafahrten schnell ihre ursprüngliche Faszination verlieren und zu nerven beginnen (das repetetive Element des Films ist zwar klar gewollt und hat seine Funtion, aber das macht es nicht erträglicher).
Doch eigentlich geht es um Oscars jüngere Schwester Linda (Paz de la Huerta, die im Gegensatz zu ihrer Rolle in Limits of Control hier auch manchmal Kostüme vorführen darf), die (und daran ist Oscar nicht unschuldig) ins Rotlichtmilieu und die Drogenabhängigkeit abgerutscht ist, und die Oscar nun beobachtet, womöglich als »Schutzengel«. Linda ist sich Oscars Präsenz manchmal sogar bewusst, und angesichts des Zustands Oscars wird sie nach und nach zur heimlichen Hauptfigur des Films.
Ohne jetzt die doch etwas ausgemergelte Narration des Films im Detail diskutieren zu wollen, gibt es immer wieder Flashbacks (auch mit diversen Wiederholungen und Variationen) zu Schlüsselmomenten der gemeinsamen Kindheit der Geschwister (wobei man hier Oscar sozusagen »über die Schulter« blickt), einige schockierende Einblicke in das Leben Lindas (wer Irreversible gesehen hat, sollte abgehärtet sein) und eine assoziativen stream-of-conciousness Bilderregen irgendwo zwischen »Mein Leben fährt noch mal an mir vorbei« und »wir haben zwei Stunden Zeit, dem Zuschauer die spärlichen Infobrocken zuzuwerfen«.
Ähnlich wie beim Lebensmotto von Frank Booth und Charlie Harper (»I’ll f*** everything that moves«) penetriert das Auge der Kamera hier zwischendurch alles, was irgendwie visuell interessant erscheint und sowas ähnliches wie eine Öffnung besitzt. Rein in die Lampe, rein in die Herdflamme, rein in den Hinterkopf wie bei Oliviers Hamlet, und letztendlich natürlich auch noch rein in die Vagina, immerhin geht es ja um eine Art Wiedergeburt.
Wenn Schauspielerinnen in den 1950ern über sich hinauswachsen wollten (soll heißen: Publikum überraschen und masochistische Ader ausleben), drehten sie mit Alfred Hitchcock. Heutzutage gehen sie zu Lars von Trier oder Gaspar Noé und sind danach entweder für immer von der Schauspielerei geheilt oder preisgekrönt. Enter the Void ist nicht ganz so unerträglich wie von Triers Antichrist, aber Noé ist um einiges prätentiöser, und seinen Film muss man auch nicht einmal gesehen haben, um wenigstens »mitreden« zu können. Außer natürlich, wenn man schon immer mal einen 20minütigen, komplett unscharfen Showdown sehen wollte, an dem der Projektionist diesmal wirklich keine Schuld hat.
Übrigens gibt es zwischen Enter the Void und Map of the Sounds of Tokyo einige schöne Wechselwirkungen. Beide zeigen Tokios Love Hotels und eine bunte Karusselattraktion. Und beim Film von Isabel Coixet ist der Nachspann zu etwa 60% auch unscharf. Aber man hat irgendwie das Gefühl, dass die Spanierin mit ihrer kleinen Liebesgeschichte wirklich etwas erzählen wollte, während der in Argentinien geborene Noé vor allem angeben will. Der Film schreit einen förmlich immer wieder an: »Schaut! Schaut! Schaut, was ich kann!« Doch ähnlich wie bei einem Sechsjährigen, der erstmals freihändig Fahrrad fährt, kann das die Aufmerksamkeit kaum für zweieinhalb Stunden fesseln. Enter the Void hätte ein großartiger 70-Minüter werden können.