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7. Februar 2012 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||
Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet. |
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USA 2011, Buch: Diablo Cody, Kamera: Eric Steelberg, Schnitt: Dana E. Glauberman, Musik: Rolfe Kent, mit Charlize Theron (Mavis Gary), Patton Oswalt (Matt Freehauf), Patrick Wilson (Buddy Slade), Elizabeth Reaser (Beth Slade), Collette Wolfe (Sandra Freehauf), Jill Eikenberry (Hedda Gary), Richard Bekins (David Gary), Mary Beth Hurt (Jan), Kate Nowlin (Mary Ellen Trantowski), Louisa Krause (Front Desk Girl), J.K. Simmons (Mavis's Publisher), 94 Min., Kinostart: 23. Februar
Einiges deutet darauf, dass Jason Reitman nach Up in the Air lieber wieder einen Gang zurückschalten wollte, die Besetzung mit Charlize Theron und Patrick Wilson (sowie dem jedermann bekannten Patton Oswalt, dessen Name nur nicht besonders bekannt ist) wird jedenfalls weniger Zuschauer anlocken - aber vielleicht auch weniger Kritiker eine neue Großtat erwarten lassen. Dass Diablo Cody (Oscar für ihr Debüt Juno) wieder für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, und der Film erneut aus der Sicht einer jungen (und diesmal noch verwirrteren) Frau erzählt wird, ist fast schon das Spektakulärste an dem Film. Wäre da nicht die von Charlize Theron gespielte Hauptfigur, die ihre preisgekrönte Darstellung in Monster in Vergessenheit geraten lässt, und diesmal wirklich von einem außergewöhnlichen Mut der Schauspielerin (die den Film auch mitproduzierte) sprechen lässt.
Mavis Gary ist eine Figur, wie sie in 80% der gängigen Romantic Comedys die Hauptrolle bekleiden könnte: Eine beruflich erfolgreiche ehemalige Cheerleaderin, die selbstbewusst ihr Sexualleben gestaltet. Bei Sex and the City oder den Desperate Housewives wäre sie der Sympathieträger von Millionen von Zuschauerinnen und so was wie ein Idealbild der modernen Frau. Doch dann stellt sich heraus, dass zum einen Mavis selbst mit ihrem Leben nicht zufrieden ist. Eine Massenmail ihres Highschool-Schwarms (Patrick Wilson), der seiner glücklichen Ehe einen Stammhalter zugefügt hat, bringt irgendwas in ihr zum Wanken, und als unvorbereiteter Zuschauer würde man ihr sogar einen Babywunsch unterstellen, so vertraut ist man mit dem Bild der US-amerikanischen Frau, wie die Medien es propagieren.
Doch ihr wirklicher Plan ist umso verdrehter: Sie will sich die ehemalige Liebe, mit der sie wahrscheinlich jahrelang keinen Kontakt hatte, »zurückholen« und ihn aus dem rückständigen Nest, aus dem er im Gegensatz zu ihr den Absprung nicht schaffte, »retten«. Und auch, wenn sich das schon ein bisschen spinnert anhört, im US-Kino gibt ausreichend Beispiele dafür, dass ein solch aktiv-aggressives Verhalten zum Happy End führen kann. So führt es sie zurück in die Vergangenheit, wobei sie natürlich nicht das geringste Interesse daran hat, ihre Eltern zu besuchen (zu dumm, dass sich in Kleinstädten solche Informationen wie die Rückkehr einer vermeintlichen Highschool-Queen sehr schnell verbreiten). Und falls man als Betrachter die Fassade der Hauptfigur noch nicht durchschaut hat, so bröckelt diese reichlich. Ausgerechnet ein körperlich behinderter Mitschüler (Patton Oswalt), an den sie sich nicht einmal mehr erinnert (»you're the hate crime guy«), wird (in Maßen) ihr Vertrauter - und ist auch der einzige, der ihren reichlich blödsinnigen Plan irgendwie verhindern will.
Soweit soll die Inhaltsangabe reichen, der Filmtitel Young Adult bezieht sich übrigens auf Mavis' Karriere als Schriftstellerin. In einer ehemals erfolgreichen Buchreihe, die eingestellt werden soll, ist ihr Name noch nicht einmal auf dem Cover der Bücher zu lesen, doch wie so vieles anderes verdrängt sie diesen Makel an ihrer Karriere. Bei der Arbeit an der (überfälligen) aktuellen Ausgabe hat sie offenbar Startschwierigkeiten, und - abermals wie in unzähligen US-Filmen - sie versucht, das Buch während ihrer »Mission« zuende zu führen, wobei immer klarer wird, dass sie im Grunde genommen das komplett verdrehte Selbstbild auf ihre Jugend gepaart mit aktuellen Einflüssen als größte Inspirationsquelle ausschöpft, wenn sie das Leben ihrer Heldin Kendall Strickland beschreibt.
Das Großartige an diesem Film ist (abgesehen von der Musik, die ziemlich genau in meine »Young Adult«-Phase passt), wie er durchweg gegen den Strich gebürstet ist und das Publikum eigentlich ziemlich allein stehen lässt, sobald dieses begreift, dass die Hauptfigur sich nicht wirklich zur Identifikation eignet, während der dickliche linkische Patton Oswalt, der hier gewissermaßen seine Figur aus King of Queens weiterführt (wobei aus den dortigen Schwulenwitzen hier ein ganz konkretes Problem wird) sich ziemlich schnell trotz Losertum und Geekiness als großer Sympathieträger erweist. Und wie weit Cody, Reitman und Theron dies weiterführen, ist das Spannende an diesem Film über die dunkle Seite der Medaille des modernen Frauenbilds, die »psychotic prom queen bitch«, wie sie meines Erachtens wahrscheinlich verbreiteter ist als die strahlende Reese Witherspoon-Variante. Oder aber - noch wahrscheinlicher und verstörender - hinter dem Äußeren der Strahlefrau lauert auch nur diese »seelisch verweste« Horrorgestalt.
USA 2011, Regie: Bob Anderson, Buch: Dan Vebber, mit den Stimmen von Yeardley Smith (Lisa Simpson), Dan Castellaneta (Homer Simpson), Nancy Cartwright (Bart Simpson), Julie Kavner (Marge Simson, Patty / Selma Bouvier), Hank Azaria (Moe Szyslak, Professor Frink), Harry Shearer (Principal Skinner / Lenny), Neil Gaiman (Himself), Andy Garcia (Slick Publisher), 21 Min.
»Dad! Follow that dinosaur!«
»I waited my whole life to hear that...«
Bei der bombastischen Bühnenshow »Sitting with Dinosaurs« entdeckt Lisa, dass es sich bei einer der SaurierdarstellerInnen um T. R. Francis handelt, die Autorin einer Buchserie für »junge Erwachsene« (Angelica Button and the Half-Blood Pudding usw.). Zur Rede gestellt, offenbart die Schauspielerin, dass sie nur ihr Aussehen für das Foto auf dem Buchumschlag hergegeben hat, T. R. Francis und ihre inspirierende Lebensgeschichte fiktiv sind und die Bücher von verzweifelten LiteraturstudentInnen rausgehauen werden, während die Buchverlage die fette Kohle damit abzocken.
»Everything I believed about young adult literature is a lie!«
Zuhause erzählt Lisa die Geschichte ihrem Vater, doch der versteht vor allem »a million bucks«, »five idiots« und »the perfect crime«, und der Rest der Episode ist ganz im Stil von Heist Movies gehalten, mit vielen Split Screens und Anspielungen auf Reservoir Dogs, Ocean's Eleven und dergleichen. Nachdem Homer seine Crew zusammengestellt hat, erfährt Lisa davon und nimmt sich vor, ebenfalls ein Buch zu schreiben, doch unerwarteterweise sind die sieben Idioten (u.a. Skinner, Moe und Neil Gaiman) schneller fertig, überreden Lisa als Autorin zu posieren und der Million-Dollar-Deal mit einem Verleger (Gaststimme: Andy Garcia) steht. Doch aus der vermeintlichen innovativen Geschichte um eine Trollschule wird - der Markt verlangt es - eine Vampirgeschichte. Die Autoren sind entrüstet. Gaiman, der zwar kein Wort geschrieben, aber den Thunfischsalat angemacht hat, erklärt das Phänomen.
»What you're feeling is called pride of authorship. You thought you only cared about money, but you actually care more about what we created together.«
»British Fonzie is right.«
Um das Verbrechen am Troll-Meisterwerk ungeschehen zu machen, folgt dann ein tatsächlicher Heist, inkl. Doppelagenten und vertauschten USB-Sticks, doch am Schluss hat sich Neil Gaiman erneut einen Platz in den Bestsellerlisten erschlichen und schlürft seinen Cocktail am Strand von Shelbyville - übrigens eine Szene, die erstaunlich an das Ende von Gaimans A Season of Mists erinnert, wo Lucifer in einem sehr ähnlichen Klappstuhl den australischen Sonnenuntergang bestaunt.
Deutschland 2010, Int. Titel: Before Tomorrow, Buch: Oliver Schmaering, Kamera: André Götzmann, Schnitt: Joachim Schönfeld, Ann-Sophie Schweitzer, Andreas Radtke, Robert Hentschel, Musik: Richard Wagner, Almut Lustig, Ingo Frenzel, Claus Erbskorn, mit Axel Buchholz (Wagner), Axel Sichrovsky (Zippolt), Christoph Grunert (Siegfried), Regine Zimmermann (Corinna), 83 Min.
Vorführungen:
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Ein Prolog ordnet seine fünf Kapitelüberschriften von links nach rechts auf der schwarzen Leinwand an. »Der Auftakt«: Ein nächtlicher Wald, untermalt von philharmonischer Musik. Die Kamera schwenkt langsam eine Reihe von auf den Betrachter gerichtete Taschenlampen entlang. Schließlich ein Schnitt auf eine Frauenleiche, die von den Lichtkegeln untersucht wird.
»Der Held«: Ein stämmiger Mann sitzt an einem Fenster, betrachtet draußen Tauben. Dazu laute Wagnermusik. Später erfahren wir, dass Wagner auch sein Rufname ist. Er setzt gar zu einer Arie an, schaltet dann aber die Stereoanlage aus.
Es folgen »Der Kollege«, »Die Frau« und »und die Welt«, wo man einen kleinen Lastwagen durch eine Radarfalle rauschen sieht, der Fahrer aber bremst und den Kamerakasten mit einer Kettensäge fällt.
Gegen Morgen ist ein sehr präziser Film, was wahrscheinlich auch damit zusammenhängt, dass er unabhängig produziert wurde. Insbesondere bei den doch recht zahlreichen Szenen in einem Schwimmbad fragt man sich irgendwann schon, warum das Becken meistens bis auf Wagner und seinen Kollegen leer ist.
Gleich zu Beginn erfahren wir, dass der Frauenmörder (»Siegfried«) gefasst wurde, aber wegen eines Verfahrensfehlers und eines cleveren »Arschwalts« entlassen werden musste. Wagner und Kollege werden als »Personenschutz« abkommandiert, denn jeder im Viertel, wo Siegfried gleich gegenüber von dem ermordeten Mädchen wohnt, weiß Bescheid. So sitzen die beiden Polizisten größtenteils im Auto und betrachten die Wohnung, wobei der Kollege seine zahlreichen Theorien über die Welt zum besten gibt.
Die wenige Handlung des Films ist lakonisch mit leichtem Hang zum Absurden. Wagner findet auf dem Boden des Schwimmbeckens einen Ring, den er zwei ausnahmsweise anwesenden Synchronschwimmerinnen geben will. Stattdessen schaut er ihnen beim Duschen zu und nimmt den Ring mit. Siegfried bekommt mal auf offener Straße Schläge mit einer Handtasche und wird später auf einer öffentlichen Toilette fast totgeschlagen. Was Wagner und Kollege aber kaum interessiert. Stattdessen üben sie seltsame Formen der Staatsgewalt aus (»Fahr mal hinten drauf!«) und nehmen Siegfried irgendwann sogar mal mit ins Auto, Taxi-Service sozusagen.
Der Kollege jammert über seine festgefahrene Ehe mit Corinna, bestellt stattdessen Zwillingsprostituierte und ein Buch, um wieder Horn zu spielen. Und Wagner lernt Corinna kennen, gemeinsam freuen sich an einer bei einer zu schnell überfahrenen Verkehrsberuhigung verlorenen Radkappe.
Wo andere Film manchmal elliptisch erzählen, bietet Gegen Morgen viele kleine Vignetten, die jeweils mit Schwarzblenden unterbrochen sind. Man muss (oder besser: kann) sich einiges zusammenreimen. Den Namen vom Kollegen erfährt man meines Erachtens nicht im Film, »Wagner« und »Siegfried« kann man als Namen nur bedingt ernstnehmen, und die Familie des Kollegen besteht aus mehreren eher unwichtigen Figuren, die sich tatsächlich mit »Onkel«, »Tante«, »Neffe« und »Nichte« ansprechen (obwohl gar keine Nichte dabei ist).
Um den Mordfall (»Der Auftakt«) oder den Personalschutz scheint es nicht wirklich zu gehen, eher darum, dass »Der Held« »und die Welt« miteinander klarkommen müssen, was in den seltsamen Verhaltensweisen des Polizisten und der behutsamen Annäherung zwischen Wagner und Corinna (aufgrund ihres Namens fast das einzig »Wirkliche« in diesem Film, die menschliche Entsprechung des spärlich verteilten Sonnenscheins).
Gegen Morgen und Die Vermissten (ebenfalls Perspektive deutsches Kino, Kritik folgt) ähneln sich irgendwie. Auch in der Rezeption (was man so aus Gesprächen mit Kollegen erfahren hat). Beide haben das Potential zu durchaus auch mal unfreiwilligem Humor, bei Die Vermissten wurde aber mehr (über, nicht mit dem Film) gelacht. Wahrscheinlich einfach deshalb, weil dort nicht über den prätentiösen Prolog und die Orchestermusik gleich klargestellt wurde, dass der Film ernstgenommen werden will. Ich glaube, einige nahmen Gegen Morgen sogar zu ernst. Die Vermissten hat mich hingegen in seine Geschichte viel tiefer hineingerissen. Völlig unabhängig davon, dass sie viel unglaubwürdiger war. Es muss halt jeder für sich entscheiden, ob er einen Film auslachen will oder sich mit ihm befassen. In diesen beiden Fällen war meine Wahl »damit befassen« und bei Die Vermissten hat es sich mehr gelohnt.
USA 2011, Kamera: David Quantic, Schnitt: Philip Harrison, Musik: Miriam Cutler, mit Charles Russo, Phyllis Antonellis, Rob Epstein, Jeffrey Friedman, Lily Tomlin, Michael Schiavi, Armistead Maupin, Richard Barrios, Richard Berkowitz, Reverend Malcolm Boyd u.v.a. Lenny Bloom, Jay Blotcher, Joseph Brewer, Michael Denneny, David Ehrenstein, Arthur Evans, Jim Fouratt, Jon Gartenberg, Howard Grossman, Robert Hawk, Karla Jay, Arnie Kantrowitz, Larry Kramer, Steve Krotz, Michael Lumpkin, Lou Maletta, Eric Marcus, Tommi Avicolli Mecca, Hal Offen, Jenni Olson, Marcia Pally, Felice Picano, Denise Romanello, Howard Rosenman, Gabriel Rotello, James M. Saslow, F. Allen Sawyer, Michelangelo Signorile, Jeffrey Sosnick, Nancy Stoller, Sean Strub, Mark Thompson, Bruce Vilanch, Rich Wandel, John Morgan Wilson, 93 Min.
Vorführungen:
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Vito dokumentiert das Leben von Vito Russo, eines US-amerikanischen LGBT-Aktivisten der ersten Stunde (streng genommen gab es den Begriff LGBT noch nicht einmal zu Russos Lebzeiten, denn er verstarb 1990 an AIDS). Am bekanntesten wurde Vito durch sein Buch The Celluloid Closet (1981), in dem er filmgeschichtlich die lange Zeit ziemlich einseitige Darstellung von größtenteils schwulen, aber auch anderen LGBT-Figuren analysierte. Zu diesem Buch gab es 1996 auch eine preisgekrönte gleichnamige Dokumentation von Rob Epstein und Jeffrey Friedman, die übrigens wie Vito im Auftrag des Senders HBO erstellt wurde. Einiges am mittleren Teil von Vito erinnert stark an diesen Film, doch zum einen haben Epstein und Friedman sich damals nicht so auf den Autor ihrer Vorlage konzentriert, und zum anderen war der Vito-Regisseur Jeffrey Schwarz (der auch Filme über den schwulen Pornostar Jack Wrangler und den Horror-Regisseur William Castle drehte) bei The Celluloid Closet schon als Schnitt-Auszubildender dabei, was ihn bereits vertraut machte mit dem Leben Russos und nun mit einiger Verspätung zu diesem Filmprojekt führte, für das Schwarz noch zusätzliches, spektakuläres Filmmaterial auffand und neben Familienmitgliedern Vitos (vor allem sein Bruder und eine Cousine) etwa Ausschnitte aus einer bahnbrechenden schwulen Nachrichtensendung (Our Time von 1983), die Russo damals schrieb, produzierte und mitmoderierte.
Bei der Schilderung von Vitos Jugend und seinem Coming Out ist der Film zwar eine Spur sensationalistisch (Vitos frühe Begeisterung für das Kino wird durch einige Filmzeitschriften bebildert, die etwas einseitig Anthony Perkins, Montgomery Clift und Rock Hudson als Titelhelden zeigen), aber im Geiste des Gesamtbildes ist dies durchaus vertretbar. Für das weniger informierte (oder HBO-)Publikum bietet der Film einige erstaunliche Einsichten etwa in die frühe US-Politik bezüglich GRID (gay related immunity deficiency, der spätere Name der Krankheit setzte sich durch) und die Proteste gegen die Reagan-Administration, die die Erforschung der »Schwulen-Seuche« aus offensichtlichen Gründen eher gemächlich vorantrieb. Sowohl Russos Lebensgefährte, der publicityscheue Jeffrey Sevcik, als auch Russo selbst starben an AIDS, aber zuvor kämpfte Vito seinen Kampf für die Rechte der Community noch mit letzter Kraft. Was auch zu Aufrufen führte wie »If I can be at that demonstration, you can be at that demonstration«, denen sich selbst die phlegmatischsten Vertreter der Bewegung nicht guten Gewissens verschließen konnten.
Der Film ist eine handwerklich und auch sonst gutgemachte Dokumentation, die ein rundes Bild der Titelfigur und der frühen amerikanischen Schwulenbewegung bietet. Wenn bei einer Schwulendemo etwa Minderheiten der LGBT-Bewegung ausgebuht wurden, stellte sich Vito schützend vor sie, und wenn manchmal gar keine Verständigung innerhalb der vielgestalteten Gruppe möglich war, zauberte Vito auch mal Bette Midler herbei, die einen Song sang, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten. Wer darauf besteht, könnte Vito Russo vielleicht mit Rosa von Praunheim vergleichen, doch ein nicht zu unterschätzender Punkt für Vito ist, dass er beispielsweise in eher schüchterner Weise an den USA sehr bekannte Komikerin Lily Tomlin herantrat, ob sich diese nicht für TV und Zeitung von ihm interviewen lassen möchte, und diese dann selbst entschied, diese Gelegenheit für ein Coming-Out zu nutzen. Was die öffentliche Diskussion seinerzeit auf nicht-aggressive Art vorantrieb und ausnahmsweise für den »American Way« anstelle der gutgemeinten Denunziation spricht.
Int. Titel: Love is in the Air, Dänemark / Schweden 2011, Buch: Peter Birro, Simon Staho, Kamera: Sebastian Winterø, Schnitt: Anders Villadsen, Kostüme: Anja Vang Krag, mit Emma Sehested Høeg (Lina), Gustav Hintze (Daniel), Victoria Carmen Sonne (Therese), Anton Honik (Stefan), Daniel Petersen (Boy in the shower #1), Dar Salim (Benny), Birgitte Hjort Sørensen (Camilla), 84 Min.
Vorführungen:
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Wenn ich bei Young Adult begrüße, dass sich die Hauptfigur nicht als Sympathieträger eignet, so muss ich es hier bedauern. Das liegt daran, weil ich befürchte, dass es nicht von den Filmemachern beabsichtigt ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich fast dreimal so alt bin wie die Protagonisten, aber wie sich Lina, die Figur, die auch das Plakat dieses Films mit ihrer behaupteten Lebensfreude bestimmt, bereits in den ersten Minuten benimmt, versagte mir das »Hineinkommen« in den Film auf lange Sicht. Um einem angesagten (und ziemlich oberflächlichen) Rockmusiker eine CD mit ihren Songs zukommen zu lassen, steigt die angehende Sängerin erst mal mit irgendeinem Bouncer ins Bett, inszeniert dort trotz ihrer jungen Jahre innerhalb kürzester Zeit eine große Sirup-Sauerei, und als sich dann herausstellt, dass der Bouncer Diabetiker ist, nutzt sie die Sirupflasche als Waffe (wenn auch nur zur Drohung) und lässt den Hilfebedürftigen dann extrem kaltherzig zurück. Ähnlich wie das komplett unreflektierte Drogenverhalten oder eine spätere Szene, wo jemand in einem Einkaufswagen sitzend einfach irgendwo runtergeschubst wird, soll dies wohl eine typisch jugendliche Einstellung verdeutlichen, die, ganz in der spaßigen Gegenwart verankert, schon die naheliegenden Konsequenzen in wenigen Minuten komplett ausblendet. Das kennt man auch aus diversen anderen Jugendfilmen, selbst aus Klassikern, aber so lieblos und rücksichtslos wie in Magi i luften ist es mir länger nicht mehr über den Weg gelaufen.
Im Verlauf einer Nacht wird jede Menge Hormondrang visualisiert, Therese will etwa zu ihrem 16. Geburtstag »endlich« ihre Jungfräulichkeit loswerden, ein Junge hat sein Coming-Out, und sogar Lina (»All I have is my pussy and my music«) ist mitunter zu ernstgemeinten Gefühlsäußerungen bereit, wenn die Selbstliebe allein (so die Deutung ihres Verhaltens laut Pressetext) sie nicht glücklich macht. Die jugendliche Ekstase und Euphorie ist natürlich das Thema dieses seltsamen Musicals, das wie ein Zentner Glibberbibb in diversen Farben schillert. Ob die Szene in einer Discothek oder irgendwo draußen spielt: Bis auf zwei Einstellungen ziemlich zum Schluss gibt es kein Bild, das nicht durch Filter oder bunte Scheinwerfer in irgendeinen grotesken Bonbonfarbenregenbogen getüncht wäre. Das entspricht zwar größtenteils auch der Vorliebe junger Menschen für Pink, Türkis und Hastenichtgesehen, verursacht im Kinosessel aber recht schnell Augenkrebs. Ähnlich wie die größtenteils zum Lächeln verdammten jungen Protagonisten, denen man die Freude beim Drehen zwar abnimmt (noch dazu in Kostümen zwischen Torero und Prinzessin), nur - sie überträgt sich nicht. Und die zahlreichen Songs, die hier geträllert werden, haben durchgehend den geringfügigen Nachteil, dass sie im skandinavischen Raum wahrscheinlich Tophits waren, außer zwei Sommerhits von Laid Back (und einer davon eher im Hintergrund) kannte ich persönlich aber nichts davon.
Laut Magi i luften ist der ultimative Liebesbeweis, wenn einem der oder die Angebetete ins Gesicht furzen kann, man sie aber dennoch liebt. Leider liebe ich diesen Film nicht so sehr, dass ich mir die visuelle Umsetzung davon auch nur für 84 Minuten gefallen lasse.
Besonders schade daran ist, dass ich vom Regisseur Simon Staho nach seinem Beziehungsdrama Himlens Hjärta / Heaven's Heart (Berlinale Special 2008) weitaus mehr erwartet hatte.
Frankreich 2011, Int. Titel: Atomic Age, Buch: Héléna Klotz, Kamera: Héléne Louvart, Schnitt: Cristobal Fernandez, Marion Monnier, Musik: Ulysse Klotz, mit Elliot Paquet (Victor), Dominick Wojcik (Rainer), Mathilde Bisson (Cécilia), Niels Schneider (Theo), Luc Chessel (Rainers Tanzpartner), Clémence Boisnard (Rose), Arnaud Rebotini (Rausschmeisser), Cécilia Ranval (Mädchen in der Disco), 67 Min.
Vorführungen:
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Hineingelockt wurde ich in diesen Film, weil er mit Robert Bresson und Gus Van Sant verglichen wurde. In gewisser Weise kann ich diese Vergleiche auch nachvollziehen, aber beide »Vorbilder« waren nie so prätentiös und auf ihren eigen Bauchnabel fixiert wie dieser Film. Victor und Rainer fahren mit dem Zug ins nächtliche Paris, Victor will in der Disco ein Mädchen aufreißen, bei Rainer ist schnell klar, dass er vor allem an Victor interessiert ist. Schon die Bahnfahrt ist ganz auf die beiden fixiert, sie mischen ihren Red Bull mit Hochprozentigem, verhalten sich aber immer eine Winzigkeit intelligenter als vergnügungssüchtige Teenager. Zumindest suggerieren ihre Dialoge dies, sie unterhalten sich über Poesie oder die Stone Roses (ein seltsamer Anachronismus, ausgehend von einem Handy dürften die beiden gerade geboren sein, als die Band ihren kurzen Moment im Scheinwerferlicht hatte). Oder sie singen ein paar Zeilen aus In The Ghetto, was sicher irgendwie bedeutsam sein soll.
Nach dieser Intro geht es in die Disco, wo es größtenteils Zwei-Personen-Diskussionen gibt, für die man im Pressematerial den Begriff »klaustrophobisch« benutzt. Das heißt aber nur, dass die Kamera mit Untersicht die durch bunte Lichter angestrahlten Protagonisten mit minimalem Hintergrund zeigt, und während die Musik eher unterschwellig im Hintergrund wummert, kann man mit klarer Brillanz die Gespräche verfolgen, die leider nicht immer so brillant sind, wie sie es sein sollen. Die Disco erschließt zwar eine Art Traumbereich (wie später auch der Wald), und erinnerte mich an Magi i luften, einen anderen Berlinale-Beitrag (Generation 14plus), doch den fand ich genau so überflüssig. Victor lässt sich trotz Warnung von Rainer auf ein vermeintlich naives Mädchen ein, nur um verletzt zu werden, er heult Rotz und Wasser und merkt überhaupt nicht, dass sein Freund zwar auch Anmachversuche startet, aber bei Männern.
Dann geht es vor der Disco weiter. Man macht sich volltrunken über andere lustig, getreu dem wenig überzeugendem Motto »Du stinkst und ich trage teurere Klamotten als Du«. Das sehr verlangsamte Abrutschen in eine Schlägerei ist die größte inszenatorische Leistung des Films, im Grunde hat man diesen Affentanz aber auch schon vor vier Jahrhunderten bei Shakespeare gesehen: »Do you bite your thumb at us, Sir?« (womit auch die Van-Sant-Anleihe überdeutlich wird).
Der kurze Pressetext suggeriert eine Charakterwandlung, die ich nicht nachvollziehen kann, und selbst das Unverständnis des Betrachters wird clevererweise bereits antizipiert, denn auch die Regisseurin Klotz »gibt nicht vor, ihre [Figuren] ganz zu verstehen - es bleibt immer etwas Fundamentales und Geheimnisvolles, das sich uns entzieht, aber uns einlädt, Dinge und Menschen genauer zu betrachten.« Da wage ich zu widersprechen.
Für mich ließ sich der Film eher in einer erdachten (Produktions-) Vorgeschichte zusammenfassen: »Ich habe zehn bunte Scheinwerfer und einen Gedichtband geerbt - Lass uns einen Film drehen!« Und der deutsche Verleih riss mich zum abschließenden Statement hin: »Wenn das 'Pro-Fun' war, will ich Contra-Fun nie erleben.«
Coming soon in Cinemania 77 (Berlinale, die zweite):
Voraussichtlich Kritiken zu Les adieux à la reine (Wettbewerb), Formentera (Forum), König des Comics (Panorama), Kronjuvelerne (Generation 14plus) sowie zu Don - The King is Back (Berlinale Special) oder Nuclear Nation (Forum).
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