Fraktus
Das letzte Kapitel
der Musikgeschichte
(Lars Jessen)
Deutschland 2012, Buch: Studio Braun, Sebastian Schultz, Ingo Haeb, Lars Jessen, Kamera: Oliver Schwabe, Schnitt: Sebastain Schultz, Musik: Carsten »Erobique« Meyer, Studio Braun, Grafik & Musik Artwork: Felix Schlüter, Typeholics, mit Devid Striesow (Roger Dettner), Jacques Palminger (Bernd Wand), Heinz Strunk (Torsten Bage), Rocko Schamoni (»Dickie« Schubert), Kenny-David Baehr (Bernd Wand jung), Rafael Weitzel (Torsten Bage jung), Marcus Engelhardt (»Dickie« Schubert jung), Jürgen Rißmann (Roland Spremmberg), Blixa Bargeld, Dieter Meier, Stephan Remmler, Marusha, Westbam, H. P. Baxxter, Peter Illmann, Jan Delay, Peter Urban, Alex Christensen, Hans Nieswandt, Steve Blame (sie selbst), Piet Fuchs, Anna Bederke, Hannes Hellmann, Jasmin Wagner, 95 Min., Kinostart: 8. November 2012
»Techno - eine der größten Massenbewegungen des letzten Jahrtausends«. Was mit solch vollmundiger Erzählerstimme beginnt, ist zumindest in den ersten zwanzig Minuten die beste »mockumentary« seit Woody Allens Zelig.
Die fiktive, aus Brunsbüttel stammende Band »Fraktus« hat es in ihrer Karriere zwar nur für eine Woche in die Top30 der deutschen Charts geschafft, war also quasi unbekannt im eigenen Land, soll aber nicht nur den Techno vorweggenommen haben, sondern mindestens jenen Status in der Musikgeschichte innehaben, den man sonst höchstens Kraftwerk zugesteht. Westbam, internationale Großkonzerne und New Orders »Blue Monday« haben sich bei den Kompositionen des erfolglosen Trios bedient, von Stephan Remmler über Dieter Meier bis Blixa Bargeld werden Lobgesänge angestimmt, Marusha fühlt sich gar »musikalisch entjungfert« von den Innovatoren des avantgardistischen Elektropops. Doch spätestens, wenn sich die Schere zwischen dem erfundenen Großmeisterstatus und den vermeintlichen Zeitdokumenten auftut, ist das Gelächter groß. Allein für den Auftritt bei »Formel Eins«, bei der die Band ähnlich deplaziert am Maschendrahtzaun steht wie einst Fad Gadget, habe ich den Film tief und innig in mein Herz geschlossen.
Daran ändert der weitere Verlauf des Streifens nur wenig. Ein findiger Dokumentarfilmer (Devid Striesow) spürt die nicht mehr taufrischen Musiker auf und will eine Reunion, ein Comeback initiieren. Das ist dann nicht so konzentriert großartig wie der Beginn des Films, einige Gags zünden weniger gut, doch - und das ist eine nicht geringe Auszeichnung - wenn in Deutschland mehr Filme wie Fraktus entstünden, bräuchten wir keinen Sacha Baron Cohen mehr. So gelungen wie Borat und Brüno ist Fraktus allemal.
Und ähnlich wie bei Cohen bietet es sich an, den Film nicht nur als eigenständiges Werk zu betrachten, sondern auch das Drumherum als Teil eines Gesamtkunstwerks aufzufassen. Regisseur Lars Jessen hatte schon in Keine Lieder über Liebe sein Faible für das halbdokumentarische gezeigt. Damals wurde eine Dreiecksgeschichte mit einer tatsächlich auf Tour gehenden Fake-Band verbandelt. Diesmal trat das Komikertrio »Studio Braun« (die Leute hinter Fraktus) vor laufender Kamera vor einem großen Publikum auf - gar nicht unähnlich zu den als besonders »mutig« bewunderten Passagen in den Cohen-Filmen. Und zur Promotion des Kinostarts gibt es eine kleine Tour.
Ebenfalls Teil des Gesamtkunstwerks: Die Website www.fraktus.de und die Wikipedia-Seite. Dort erfährt man wie im Presseheft (mit Bravo-Interview!) noch mehr über die Band, und ich hoffe stark, dass die DVD mit reichlich Bonusmaterial aufwarten wird.
Vielleicht sollte man Fraktus einfach selbst entdecken, denn erklären kann man dieses Phänomen nicht. Das familiäre Kammerspieltrio Fraktus 2, die Frisur von Bernd Wand, die Panflöte von Torsten Bage (der sehr an DJ Ötzi erinnert), die minimalistischen Texte irgendwo zwischen Grauzone, Holger Hiller und Trio, die Wandlung des enigmatisch-androgynen Frontmanns zum Betreiber eines Internet-Cafés (»Surf 'n Schlurf«), die epochale Single »Big Bell«, die »sublime« Anti-Drogen-Message, Bages Sohn, der Moment des Wiedersehens oder »Rodelius«, der elektrische Dudelsack!
Wenn man mich nach einem Vergleichsfilm befragen würde, der nichts mit Sacha Baron Cohen zu tun hat, so würde ich Muxmäuschenstill benennen, der einen ähnlich improvisierten Tonfall hat, unendlich viel Potential, aber auch einige misslungene Momente, bei denen man mit dem Kopf schüttelt. Wenn die Filmemacher (also insbesondere »Studio Braun«) sich ein halbes Jahr länger Zeit gelassen hätten für den Film, hätte ein echtes Meisterwerk draus werden können. So, wie der Film jetzt ist, mag er manchen enttäuschen, aber im Nachhinein bin ich mir sicher, man muss ihn gesehen haben. Und wer sich nur ein bisschen für die deutsche Musikgeschichte und die 1980er interessiert, der wird eh schon ein Kinoticket in der Hintertasche haben. Denn auch, wenn ich mir noch etwas ausgefallenere Interview-Partner gewünscht hätte, das Gespür für die Musikinhalte, für das Zeitkolorit, das Platten-Artwork usw. ist um Klassen besser als alles, was beispielsweise bei Brüno etwas mit der Modeszene zu tun hat. Wer's nicht glaubt, soll auf fraktus.de gehen!