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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




2. April 2014
Thomas Vorwerk
für satt.org

Cinemania-Logo 113:
Whan that Aprill with his shoures soote

Sechs Aprilstarts (abgesehen vom Monatsnamen besteht kein besonderer Bezug zum Chaucer-Zitat), also fast die Hälfte des Outputs dieses launischen Monats. Zwei Filme legten besonderen Wert auf eine Pressesperre (traditionell ein Hinweis auf besondere Gurken) und werden deshalb erst im nächsten Cinemania besprochen.

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  Ida (Pawel Pawlikowski)


Ida
(Pawel Pawlikowski)

Polen / Dänemark 2013, Buch: Pawel Pawlikowski, Rebecca Lenkiewicz, Kamera: Ryszard Lenczewski, Lukasz Zal, Schnitt: Jaroslaw Kaminski, Musik: Kristian Selin Eidnes Andersen, mit Agata Trzebuchowska (Anna / Ida), Agata Kulesza (Wanda Gruz), Dawid Ogrodnik (Musiker), Joanna Kulig (Sängerin), Adam Szyszkowski (Feliks Skiba), Jerzy Trela (Szymon Skiba), Artur Janusiak (Militiaman), Marek Kasprzyk (Man in Bar), Halina Skoczynska (Mother superior), Anna Grzeszczak (Neighbour of Krzysztof Skiba), Artur Majewski (Wanda's lover), 80 Min., Kinostart: 10. April 2014

Pawel Pawlikowski kennt man vor allem über seine beiden britischen Produktionen Last Resort (2000) und My Summer of Love (2004), letzterer brachte immerhin die Entdeckung von Emily Blunt mit sich, mittlerweile ein veritabler Superstar. Pawlikowskis nächster Spielfilm, hierzulande als »Die geheimnisvolle Fremde« nur auf DVD herausgekommen, war schon eine Co-Produktion zwischen Polen, Frankreich und dem Vereinigten Königreich, mit Ida kehrte der Regisseur jetzt in seine polnische Heimat zurück.

An das Jahr 1962 hat der Regisseur nur einige Kindheitserinnerungen, die hoffentlich etwas fröhlicher sind als das nüchtern bis depressiv in schwarz-weiß gehaltene Polen, das er in Ida im altertümlichen Format 1,37:1 zum Leben erweckt.

Zunächst schildert er das ärmliche Klosterleben voller Entbehrungen der gerade mal volljährigen Anna (Agata Trzebuchowska), die mit der Außenwelt bisher kaum Kontakt hatte, der die Oberin aber nahelegt, sie solle vor ihrem Gelübde doch mal ihre einzige Verwandte, eine Tante namens Wanda (Agata Kulesza) aufsuchen. Diese wirkt zunächst eher abweisend und entspricht einem komplett anderen Lebensstill: Statt strenger Tracht steht sie mit lässiger Zigarette und geblümtem Morgenrock in der Wohnungstür, ein Lover verkriecht sich und eine der ersten Fragen Wandas (»Was haben sie über mich gesagt, über meine Arbeit?«) bringt zunächst einmal Assoziationen, die trotz einer späteren Äußerung (»Ich bin eine Nutte und du eine kleine Heilige«) immer vage bleiben, dann Wandas eigentliche Berufskarriere ist weitaus zwielichtiger: Einst war sie vehemente Staatsanwältin und später Richterin, der Spitzname »Rote Wanda« zeugt schon von einer gewissen Härte, und nur, weil sie dann wohl (reine Spekulation) irgendwo angeeckt ist oder gar ein Gewissen gezeigt hat, wurde sie zu einer reichlich unspektakulären Position degradiert (sieht eher aus wie ein Schöffengericht, aber was weiß ich schon über das polnische Gerichtswesen von 1962?)

Doch das ist alles nur Hintergrundgeschichte, eigentlich geht es in dem Film um die Offenbarung, dass Anna eigentlich Ida Lebenstein heißt und ihre jüdische Familie in den letzten Kriegsjahren wohl eines unnatürlichen Todes starb (um es mal böse zu euphemisieren und die Geschichte des Films nicht ihrer Grundlage zu entziehen). Das wirft Idas bisherigen Lebensentwurf natürlich ein wenig durcheinander (warum die Oberin über die Tante des vor einer Kirche abgestellten Waisenkindes so gut Bescheid weiß, habe ich noch nicht ganz durchdrungen), und die beiden ungleichen Frauen machen sich zunächst auf, das Grab von Wandas Schwester und Idas Mutter zu finden. Neben der etwas gräuslichen Detektivgeschichte am Rande (Wanda weiß sich immer noch durchzusetzen und es geht auch um illegale Enteignungen etc.) lernt Ida jetzt aber auch die Außenwelt kennen, beispielsweise Jazzmusik oder einen Saxofonisten, der ähnlich wie Wanda der Meinung ist, dass ein Klosterleben für die sehr attraktive junge Frau eine arge »Verschwendung« wäre (das hört sich jetzt etwas durchtriebener an, als es soll – der Musiker ist eigentlich durchaus Schwiegersohn-Material).

Nach etwa 20 Minuten ist mir übrigens aufgefallen, dass der Film oft viel Raum über den Köpfen der Figuren freilässt, dafür aber manchmal sogar ein Kinn unten abschneidet. Ein Prinzip, das dann wieder bei anderen Szenen (etwa gewissen »Erdarbeiten«) umgekehrt wird, und für eine detaillierte Analyse sicher viel Stoff bietet.

Wie in Kreuzweg oder Cristian Mungius Jenseits der Hügel steht auch hier die Kirche im direkten Kontrast zur »normalen« Entwicklung einer jungen Frau, wobei Ida (der Film) hierbei fast noch den versöhnlichsten Weg einschlägt, nebenbei aber ausgerechnet die »Ausweglosigkeit«, die in den anderen zwei Fällen zum überflüssigen Tod führt, geradezu doppelt betont. Und nebenbei geht es natürlich um jene tabuisierte Phase polnischer Geschichte im Spannungsfeld zwischen Antisemitismus, (von oben verordneten) Sozialismus und Katholizismus. Schwer zu verdauen sind alle drei Filme, Ida bietet die größte Spannbreite an Hintergrund und immerhin eine Handvoll Optimismus (den man aber auch sehr zynisch interpretieren kann), Jenseits der Hügel kombiniert auf tragische Weise Homophobie mit Exorzismus, und Kreuzweg geht an die Fragen vor allem als filmgestalterisches Experiment heran. Jede Kombination von zweien dieser drei Filme ergäbe ein interessantes Double-Feature, aber sie sprechen allesamt die selben Zuschauerschichten an: Entweder Hardcore-Filmkunst-Enthusiasten (das beinhaltet auch jene Filmkunst, die nicht komplett überzeugt) oder Personen, die sich bevorzugt mit der kritischen Auseinandersetzung mit der Kirche befassen.

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  Molière auf dem Fahrrad (Philippe Le Guay)


Molière auf dem Fahrrad
(Philippe Le Guay)

Originaltitel: Alceste à bicyclette, Frankreich 2013, Buch: Philippe Le Guay, Co-Buch: Emmanuel Carrère, Idee: Philippe Le Guya, Fabrice Lucchini, Kamera: Jean-Claude Larrieu, Schnitt: Monica Coleman, Musik: Jorge Arriagada, Production Design: Françoise Dupertuis, Art Direction: Lionel Mathis, Etienne Rohde, Set Decoration: Véronique Melery, mit Fabrice Luchini (Serge Tanneur), Lambert Wilson (Gauthier Valence), Maya Sansa (Francesca), Camille Japy (Christine), Ged Marlon (Meynard, Makler), Annie Mercier (Tamara, Gauthiers Agentin), Stéphan Wojtowicz (Taxifahrer), Josiane Stoléru (Raphaëlle La Puisaye), Laurie Bordesoules (Zoé), Édith Le Merdy (Mme Bichet), Patrick Bonnel (Roussel), Philippe du Janerand (Theaterdirektor), 104 Min., Kinostart: 3. April 2014

Die Idee zu diesem Film regte Hauptdarsteller Fabrice Luchini (Dans la maison, Confidences trop imtimes, La discrète) an, im Film selbst ist es sein Kollege, der Fernsehserien-Chirurg Gauthier (erschreckenderweise sieht Lambert Wilson hier wirklich wie Sascha Hehn aus), der einen in Ruhestand auf der abgeschiedenen Île de Ré lebenden Molière-Experten zu einer kleinen Theater-Tournee überreden will. Es dürfte für Serge Tanneur kein Problem sein, in die Rolle des »Menschenfeinds« zu schlüpfen (der französische Originaltitel benennt auch die dort allgemein bekannte Dramenfigur Alceste, während man für die deutsche Entsprechung einfach Molière selbst auf das Fahrrad setzte), viel eher droht das Projekt an Eitelkeiten und Prinzipien zu scheitern. Und durch das Auftauchen einer jungen Porno-Aktrice und einer Italienerin auch noch an Eifersuchtsszenen und nicht immer subtilem Hahnenkampf.

Hilfreich zur Überwindung der zahlreichen psychologischen Probleme ist das Üben mit vertauschten Rollen (es gibt da noch den Philante, eine »Nebenfigur mit fünf Szenen«, wobei man individuell per Münzwurf entscheidet), es entsteht dadurch auch ansatzweise so etwas wie eine Freundschaft, doch Fettnäpfchen und regelrechte Tretminen lauern überall. Teilweise arbeitet der Film mit ganz leisen Mitteln, aber auch für Slapstick und ein Fahrrad ohne Rücktrittbremse ist man sich nicht zu schade. Wobei die subtilen Ansätze weitaus interessant sind, etwa die Analyse von Gauthiers Fernsehrolle und seine dazu passende Langzeitfreundin (eine Chirurgin). Oder seine ursprüngliche Ausrede, auf der Insel nach einer für ihn passenden Immobilie zu suchen, die je nach Situation wieder vergessen oder auch mal (unabsichtlich?) von Serge vorangetrieben werden. Im Zweifelsfall entscheidet man sich aber immer eher für die offensichtlichere Form des Humors, selbst wenn es vermeintlich geringfügige Details wie ein klingelndes Handy oder ein verhunztes Versmaß geht. Zur Not wird ein Gag solange wiederholt, bis er noch dem unaufmerksamsten Betrachter auffällt.

Wenn man auf den gelegentlichen Haudraufhumor verzichtet hätte, wäre der Film sicher interessanter geworden, denn oft reichen nur kleine Blicke (etwa die wie von Magnetismus geleiteten Blicke der beiden Herren, sobald sich eine Frau im Raum befindet) aus, um mir Amüsement hervorzurufen als Handgemenge. Ein wenig fühlt sich das Ganze an, als hätte Agnes Jaoui einen Film mit Pierre Richard gedreht. Oder ein Woody-Allen-Projekt, bei dem Adam Sandler und Jim Carrey Death of a Salesman oder Waiting for Godot aufführen wollen – mit wechselnden Rollen.

Wenn man Französisch spricht und den Film im Original schaut (und dazu noch einen gewissen Einblick in das Werk Molières hat), könnten sich auch ungeahnt tiefe Einsichten offenbaren, vermutlich ergibt auch die seltsame Mixtur Kasperletheater und Tragikomödie (zwischenzeitig geht es auch mal um eine Vasektomie und Depression) dann mehr Sinn. Aber ich hege da so meine Zweifel, auch und insbesondere angesichts des »Schlussgags«.

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  The Invisible Woman (Ralph Fiennes)


The Invisible Woman
(Ralph Fiennes)

UK 2013, Buch: Abi Morgan, Lit. Vorlage: Claire Tomalin, Kamera: Rob Hardy, Schnitt: Nicolas Gaster, Musik: Ilan Eshken, Kostüme: Michael O'Connor, mit Felicity Jones (Ellen »Nelly« Ternan), Ralph Fiennes (Charles Dickens), Joanna Scanlan (Catherine Dickens), Kristin Scott Thomas (Mrs. Frances Ternan), Tom Hollander (Wilkie Collins), Michelle Fairley (Caroline Graves), John Kavanagh (Rev. William Benham), Tom Burke (Mr. George Wharton Robinson), Perdita Weeks (Maria Ternan), Amanda Hale (Fanny Ternan), Michael Marcus (Charley Dickens), Susanna Hislop (Mary), Tommy Curson-Smith (Geoffrey), Charlotte Hope (Young Prostitute), James Traherne (Policeman), 111 Min., Kinostart: 24. April 2014

Ralph Fiennes Regiedebüt, die Shakespeare-Adaption Coriolanus, habe ich verpasst, aber nach diesem »Ich und Dickens«-Biopic, bei dem der schauspielende Regisseur selbstverständlich die Rolle des neben J.K. Rowling vermutlich bekanntesten britischen Romanautor übernimmt, habe ich auch kein gesteigertes Verlangen, dies nachzuholen. Die Haupt- und Titelrolle des Films bekleidet Felicity Jones, und die Kamera klebt geradezu an ihr. Doch gelingt es der unbestritten gutaussehenden jungen Darstellerin nur selten, die eigentliche Tragödie ihrer Figur auszudrücken. Und man bekommt recht eindeutig den Eindruck, dass das an der Ziellosigkeit der Regie liegt.

Das beginnt schon mit der zunächst bildgewaltigen, aber letztendlich verschenkten Rahmenhandlung, in der Miss Jones als »Nelly« anfänglich in wallenden Gewändern energisch über einen britisch-kühlen Strand schreitet, als hätte sie sich aus The Piano oder Shakespeare in Love in diesen Film verirrt. Dann inszeniert sie mit Kinderdarstellern ein wenig bekanntes Stück von Wilkie Collins, das – wer hätte es gedacht? – später noch eine gewisse Rolle spielt, und man setzt die erste diverser Parallelhandlungen an, als man sie selbst (»some years earlier«) als leidlich begabte Ersatzschauspielerin kennenlernt, die offensichtlich einen großen Eindruck auf Dickens (hier in der Rolle des Theaterregisseurs) macht.

In irgendeiner Inhaltsangabe auf imdb heißt es, Dickens sei zu diesem Zeitpunkt »bored with his intellectually unstimulating wife«, und wenn es dem Film gelungen wäre, die Affäre zwischen Charles und Nelly als Seelenverwandtschaft zwischen einem großen Autoren und seinem »größten Fan« umzusetzen, wäre das auch komplett in Ordnung gewesen. Doch stattdessen zeigt der Film zunächst einmal, dass Frau Dickens (Joanna Scanlan, die mit Abstand beste Darstellerin des Films) nach der jahrelangen Unterstützung ihres Gatten und dem Austragen diverser Kinder etwas »aus der Form geriet«, und Dickens' Interesse an der jungen Frau sich doch offensichtlich auf augenscheinlichere Vorzüge stützt. Was der Film dieser armen Dickens-Gattin alles so zumutet, angefangen mit einer unwürdigen Nacktszene bis hin zu einer erzwungenen Demütigung, macht sie zur eigentlichen tragischen Figur, während Dickens, der in seinen Romanen oft auf der Seite der Armen und Missgünstigten stand, hier zu einem veritablen Scheusal wird, dessen unvernünftiges Faible, verbunden mit einer wirtschaftlichen Vereinbarung (»if I can be of assistance in any way ...«), im Endeffekt gleich zwei Frauen erniedrigt (auch wenn Nelly das vermutlich nicht so ausdrücken würde). Leider kann weder die seltsame Liebesgeschichte noch die Geheimhaltung (»rumours can always be denied«) oder die vermeintliche »Progressivität« der Beziehung (für die Rolle des Wilkie Collins scheint vor allem wichtig, dass er in »wilder Ehe« lebt) ein wirkliches Interesse evozieren. Vor allem merkt man sehr eindeutig, dass Regisseur Fiennes (vielleicht haben auch die Romanvorlage von Claire Tomalin oder das Drehbuch von Abi Morgan schon einiges vermurkst) eigentlich nicht weiß, was er eigentlich erzählen will. Da gibt es zwar gute Ansätze, wozu ich auch die bemerkenswerte Szene beim Pferderennen zähle (»Mauerschau« im Studio, irgendwo ist da eine Aussage versteckt), aber im Endeffekt fehlt dem Film die Stringenz in der Erzählung. Die der wirkliche Dickens übrigens noch über fette Wälzer hinweg aufrechterhalten konnte, die damals in wöchentlichen Häppchen erstellt und publiziert wurden.

Wie ein kompletter Kontrast zur Mauerschau-Szene gibt es etwa einen aufwendig umgesetzten Eisenbahnunfall, der (ungeachtet seiner historischen Basis) wohl nur dafür da ist, um zu zeigen, wie unbarmherzig Dickens seine Liebe verleugnet. Und selbst eine beliebige Manuskriptseite scheint ihm wichtiger als die verletzte junge Frau, die er doch angeblich so sehr liebt. Wenn man zu irgendeinem Zeitpunkt des Films das Gefühl gehabt hätte, man wüsste, was Fiennes durch seine inszenatorischen Entscheidungen eigentlich aussagen will, dann hätte dies vielleicht ein sehenswerter Film werden können. Doch The Invisible Woman macht zu keinem Zeitpunkt den Anschein einer durchdachten Ambivalenz. Sondern nur einer unfassbaren Beliebigkeit. Nahezu jede Szene, für sich betrachtet, zeugt von einer gewissen Aussage (etwa die lange verschobene Sexszene zwischen Charles und Nelly, das französische Picknick, die Unschärfen und Malick-Anleihen, der subjektiv eingesetzte Ton), doch gemeinsam fügen sie sich zu keinem kohärenten Ganzen. Wie ein farbenprächtiges Beispiel für Pointillismus, das bereits aus drei Metern Entfernung wie graubrauner unförmiger Dreck aussieht.

Und dann kehrt der Film irgendwann zur Rahmenhandlung zurück (»George is a good man«), schlägt zwar über die Wiederaufnahme derselben Szene aus dem Collins-Theaterstück einen Bogen (»This is a tale of woe ...«) und befasst sich auch mit der Geheimhaltung und der erstaunlich unspektakulären »Aufdeckung« des Geheimnisses, kommt aber nach wie vor zu keinem emotionalen oder dramaturgischen Punkt, das Konzept bleibt neblig bis verworren, und auch die Entscheidung, Nelly im Alter von 18 exakt genau so darzustellen wie mit 43 (mal von geringfügigen Kostümvariationen abgesehen), wird nur dadurch gerechtfertigt, dass der Film auch bei der Chronologie der Ereignisse reichlich schwammig bleibt. Dies aber immerhin mit einem klar erkennbaren Ziel.

Felicity Jones' wirkliches Alter liegt übrigens mit 30 ziemlich exakt in der Mitte. Immerhin etwas.

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  Sunny Days (Nariman Turebayev)


Sunny Days
(Nariman Turebayev)

Originaltitel: Solnetchniye dni, Kasachstan 2011, Buch: Nariman Turebayev, Kamera: Boris Troshev, Schnitt: Aizhan Bisimbinova, Musik: Almat Baizakov, mit Erlan Utepbergenov, Inkar Abdrash, Asel Kaliyeva, Yuri Radin, 101 Min., Kinostart: 3. April 2014

Ein Titel wie Sunny Days klingt derart krass nach »heile Welt«, dass man schon fast davon ausgeht, dass eher in die entgegengesetzte Richtung geht, und in diesem Fall liegt man damit auch richtig. Wenn es wortwörtlich um »sonnige Tage« gehen würde, hätte man auch lieber einen Jahresurlaub mit dieser Umschreibung und keinen Spielfilm, und folgerichtig kann man hier die Sonne am Himmel manchmal kaum erkennen, so trübsinnig ist das Wetter. Die namenlose Hauptfigur (Erlan Utepbergenov) wünscht sich aber zumindest im übertragenen Sinne mal – zur Abwechslung – ein paar schöne Tage. Im Amerikanischen könnte er seinen Wunsch an das Universum als »Gimme a break!« formulieren, denn das Leben gibt es ihm knüppeldicke und ohne Rücksicht: Weil er mit den Zahlungen nicht nachkommt, wird ihm gleich zu Beginn mitgeteilt, dass er demnächst seine Wohnung verliert, eine Woche bliebe ihm noch, die Schulden zu begleichen. Und auf dem Weg dahin werden auch noch Strom und Heizung abgestellt werden, was im russischen Winter auch kein Spaß ist. Und – to add insult to injury – fällt die Deadline auch noch auf seinen 25. Geburtstag.

Die fehlende Lebensperspektive ist hier in mannigfaltiger Weise allgegenwärtig, sogar bis hin zum Detail, dass auch aus der Zahnpastatube fast nichts mehr zu holen ist. Und der kasachische Alltag wirkt ähnlich depressiv, der Film beginnt mit einem Verkaufsgespräch, es geht um Fische. Mit eher gespieltem Stolz preist der Händler seine Waren an: »Der Wobla kostet 100, aber der ist frisch!« Wenn das frischer Fisch sein soll, will man den alten niemals sehen. Geschweige denn riechen.

Mit seinem besten Kumpel sitzt unser vom Leid geplagte Protagonist am Tisch irgend einer dunklen Kneipe (allein schon dieser eher angedeutete Drehort macht es klar, dass das Budget sehr sehr niedrig gewesen sein muss), alter Fisch und schales Bier (für Biertrinker ist dieser Film sehr schmerzhaft) sind die wenigen verbleibenden Freuden des Lebens, später sieht er von draußen einer Trainingsstunde irgendwo zwischen Jazzgymnastik und Judo zu und macht von der Straße aus mit, und der große euphorische, optimistische Höhepunkt des Films besteht dann darin, dass er sich dazu durchringt, die junge Frau hinter dem Tresen seines Stammkiosks endlich mal anzusprechen: »Mich quält eine Frage: wie heißt du?«, doch als er sich auch noch gentlemanlike anbietet, sie des Nachts bis vor ihre Haustür zu begleiten, kommt es leider so, dass er längst zu besoffen für diese Dienstleistung (den Heimweg!) ist und es so dazu kommt, dass sie ihn zu seiner Wohnung bringt und hübsch zudeckt. Das könnte der Beginn einer großen Liebe sein, doch am nächsten Tag kann er sich an die Vorgänge oder ihren Namen kaum mehr erinnern.

Neben seinem dauerbetrunkenen besten Freund und seiner genauso dauergeilen Freundin Anel (das gibt Stress, soviel steht fest) gibt es auch noch einen Nachbarn namens Asis, der – wie fast jeder in diesem Film – den vermeintlichen Helden wohl sehr ins Herz geschlossen hat und ihn schüchtern zu einem Tee einlädt. Ausnahmsweise frisch gekocht und nicht der kalte Rest in irgendeiner Tasse.

Und während man anhand eines Wandkalenders erbarmungslos den Countdown der Tage immer wieder ins Gedächtnis gerufen bekommt, ergattert unser nichtsnutziger Sympath tatsächlich einen Job als Fahrer. Doch auch dieser führt ihn nur in das selbe Bierlokal, in dem er schon mit seinem Kumpel strandete, die ganze Existenz wirkt hier so aussichtslos, dass man auch als Zuschauer eher aus Verzweiflung lacht.

Dieser (angedeutete) lakonische Humor könnte ja den filmischen Charme eines Kaurismäki haben, wenn nicht die filmische Gestaltung genau so jämmerlich wäre wie das Leben des Protagonisten. Das am schlechtesten umgesetzte Filmende des Monats geht im April (kurz vor Miss Sixty) klar an Sunny Days, und strafverschärfend kommt noch dazu, dass man in beiden Fällen ein Freeze Frame als filmische Universallösung für fehlende Inspiration wählt. Wäre nicht die letzte halbe Minute des Films (ich rede jetzt nur von der filmischen Umsetzung, nicht von der Handlung!) gewesen, hätte ich vielleicht noch Gnade walten lassen, in dubio pro reo oder so was, aber selten war ein Filmschluss so erbärmlich wie hier und zieht in seiner (inszenatorischen) Hilflosigkeit auch noch die positiven Aspekte zuvor herunter. Nur für Leute, denen das eigene Leben noch nicht elend genug ist …

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  Auge um Auge (Scott Cooper)


Auge um Auge
(Scott Cooper)

Originaltitel: Out of the Furnace, USA / UK 2013, Buch: Brad Ingelsby, Scott Cooper, Kamera: Masanobu Takayanagi, Schnitt: David Rosenbloom, Musik: Dickon Hinchliffe, Kostüme: Kurt and Bart, Production Design: Thérèse DePrez, mit Christian Bale (Russell Baze), Casey Affleck (Rodney Baze Jr.), Woody Harrelson (Harlan DeGroat), Zoe Saldana (Lena Taylor), Sam Shepard (Gerald »Red« Baze), Willem Dafoe (John Petty), Forest Whitaker (Chief Wesley Barnes), Bingo O'Malley (Rodney Baze Sr.), 116 Min., Kinostart: 3. April 2014

Es gibt Plakatdesigns zu diesem Film, die nicht nur den Schriftzug, sondern die komplette Motivgestaltung quasi von Scott Coopers Debüt Crazy Heart übernehmen, doch es fällt einem schwer, Gemeinsamkeiten zwischen den Filmen zu finden. Auf den ersten Blick geht es in beiden Fällen um Milieuschilderungen und Arbeiterschicksale, etwas trashig, aber mit großem Staraufkommen umgesetzt. Doch dann, und hier nimmt der deutsche Titel einiges vorweg, wird aus Out of the Furnace eine alttestamentarische Rachenummer, die allen Realismus fallen lässt und sich einzig bei hartgesottenen Genrefans anbiedert.

Inszenatorisch im interessantesten ist noch eine nächtliche Autofahrt von Russell (Christian Bale), die dazu führt, dass er nach einer hübschen Schnittkante im Gefängnis landet. Sein gebrechlicher Vater, der neue Freund seiner großen Liebe Lena (Zoe Saldana) oder sein aus dem Krieg zurückgekehrter kleiner Bruder Rodney (Casey Affleck) – als dies wären Ansätze, um aus dem Film ein hartes Sozialdrama zu machen – doch stattdessen geht es um Wettsucht, illegale Boxkämpfe und den zum gefühlt zwanzigsten Mal einen »ganz fiesen Typen« spielenden Woody Harrelson, bei dem der taffe »soldier boy« natürlich alle Warnungen in den Wind schlägt (natürlich geht es mal wieder um einen »arrangierten« Boxkampf und die Mannesehre), weshalb sich Christian Bale dann mit den selben Crack-Dealern, Killern und »inbreed mountain folks« herumschlagen muss – mit einer nicht sehr spannenden Spannungsdramaturgie und einigen überflüssigen Opfern.

Dass Bale mit einem Blumenstrauß zum einstigen Unfallort zurückkehrt oder Forest Whitaker als etwas hilfloser Sheriff außerdem der Vater von Lenas ungeborenem Kind ist – mit allen möglichen Implikationen und Konflikten – solche Aspekte werden nur am Rande angerissen. Obwohl sie sicher interessanter sind als eine Menge Selbstjustiz oder Macho-Allüren, die darin gipfeln, dass man, wenn man den Gewehrlauf schon vor der Nase hat, immer noch »Fuck You« entgegnen sollte.

Out of the Furnace ist eine seltsame (und irgendwie überflüssige) Mischung aus einer Shakespeare-Tragödie, in der möglichst alle Hauptfiguren sterben müssen, angereichert mit Dialogen aus Groschenheften wie »This one last fight and then I'm done. I promise« oder »If the locals would know what you're up to, they would zip you up in the next bodybag«. Nur was für echte Männer, die sich dabei auch noch einbilden, dass sie einem kulturell und politisch wertvollen Ereignis beiwohnen. Doch nur, weil Christian Bale statt Sylvester Stallone die Hauptrolle spielt und zumindest die Aufnahmen heruntergekommener Wohngebiete und Fabriken etwas vom amerikanischen Niedergang erzählen, ist dieser Streifen nicht unbedingt besser als ein beliebiger Actionfilm, der wenigstens stolz darauf ist, dass sein Publikum aus »Grand Theft Auto«-Süchtigen, Möchtegern-Gangstern oder gar »inbreed mountain folks« besteht – und nicht etwa aus taz-Abonnenten, die es auch mal ein bisschen krachen lassen wollen.

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  Miss Sixty (Sigrid Hoerner)


Miss Sixty
(Sigrid Hoerner)

Deutschland 2014, Buch: Jane Ainscough, Kamera: Matthias Fleischer, Schnitt: Mona Bräuer, Musik: Max Knoth, mit Iris Berben (Luise Jansen), Edgar Selge (Frans Winther), Carmen-Maja Antoni (Doris Jansen), Björn von der Wellen (Max Winther), Jördis Richter (Romy von Cramm), Götz Schubert (Prof. Bernhard Minsk), Kisten Block (Marlies Heffner), Michael Gwisdek (Dieter Düncker), Nikolai Will (Kollege Luise), 98 Min., Kinostart: 24. April 2014

Miss Sixty dreht sich nicht um den Damenbekleidungs-Sechziger-Stil, sondern um die mit 60 in den Ruhestand geschickte Molekularbiologin Luise (Iris Berben), die plötzlich aufdreht und aufgrund ihrer eher zufällig entdeckten tiefgekühlten Eizellen auf die Idee kommt, einen oft als zentral aufgefassten Aspekt eines Frauenlebens – das Kinderkriegen – nachzuholen. Überdeutliches männliches Gegenstück im Drehbuch-Versuchsaufbau ist der Galerist Frans (Edgar Selge), der sein gleich hohes Alter eher verleugnet und mit seiner jungen Angestellten Romy (Jördis Richter) physisch anspruchsvollen Sex auf einer Leiter hat, nur um dann mit Hexenschuss im Park von Luise »gerettet« zu werden – ein geriatrisches meet-cute, das in der Ambulanz endet.

Die Gegensätze werden noch deutlicher. Während Luise oft Fernsehabende mit ihrer im Nachbarstock lebenden Mutter Doris (Carmen-Maja Antoni) verbringt, lebt Frans mit seinem Sohn (nicht immer zu dessen Gefallen) zusammen. Was Anlass zu neuen Pointen gibt. Frans fragt Luise bei besagter Krankenfahrt »Ihre Mutter lebt noch?« und sein Sohn Max (Björn von der Wellen) kommentiert die stolze Präsentation der »großen Liebe« Romy (»Ist sie nicht fantastisch?«) mit der unfairen Entgegnung »Sie ist 12!«

Wem das noch nicht reicht: Luise hatte auch mal was mit ihrem Vorgesetzten, und die Kollegin, der sie einst den Daumen brach, ist beim werten Herrn Professor nun sozusagen die »Nachfolgerin« (auch, wenn der Film diese Umstände eher verschenkt). Und Luises avisierter Samenspender ist natürlich niemand anderes als Max.

Bis sich dieses Kuddelmuddel zumindest ansatzweise nach den Regeln einer Romantic Comedy auflöst, erzählt der Film vor allem in lose zusammenhängenden Episoden von Jugendwahn und Altersbeschwerden, offensichtlich für ein weibliches Zielpublikum zwischen 35 und 100. Vielleicht klappt die Besetzung des früheren Fernsehstars Berben (Sketchup, Das Erbe der Guldenburgs, beides auch schon drei Jahrzehnte her) ja so gut wie jüngst Frau Ella.

Berben und Selge haben beide keine Probleme damit, sich vor laufender Kamera lächerlich zu machen (auch, wenn es schon etwas seltsam wirkt, dass die Altersspanne zwischen Tochter Luise und Mutter Doris im Film zwar 21 Jahre, bei den Darstellerinnen aber nur 5 Jahre beträgt), doch manchmal hat man den Eindruck, der Film versucht mit Comedyformaten wie Knallerfrauen mitzuhalten, wenn die ihre Mutterschaft austestende Luise sich eine »Trainings-Baby-Puppe« oder den Enkel ihres Ex-Lovers ausleiht, nur um sich in kürzester Zeit bestens mit dem Kind zu verstehen und das ungeachtet des kleinen Zwischenfalls auf dem Spielplatz mit der Rutsche und einer an Werbeclips erinnernden »Testflüssigkeit«, die wohl den Mageninhalt eines Kindes darstellen soll, das sich offenbar bevorzugt von Himbeerjoghurt ernährt.

Die besten Witze spielen sich eher unauffällig ab, etwa Frans' Bemerkung gegenüber Luise »Sie heißt Romy. Ich geh' erst mal auf Toilette, etwas den Druck weg machen...« Aber leider ist allzuviel in diesem Film fremdschäm-peinlich und weit entfernt davon, subtil zu sein. wenn der Ex-Vorgesetzte und Ex-Lover Luises beim Salatfuttern etwas im Bart hat und sie es nicht schafft, ihn darauf hinzuweisen, ist das zunächst noch ganz amüsant – unabhängig davon, dass der Loriot-Gag noch aus Zeiten vor Sketchup stammt. Doch als Running Gag quetscht man diese Situation noch ein halbes Dutzend mal aus, bis der Scherz wirklich komatös und nicht mehr wiederzubeleben ist.

Vielleicht liegt meine Altersmilde den Film betreffend nur an einer kleinen Szene, die trotz etwas vermurkstem CGI-Effekt sehr schön auf Kubricks zu »An der schönen blauen Donau« rotierenden Raumstation anspielt: Selbe Musik, aber diesmal ist es eine Gebisshälfte, die sich im Seniorenbad scheinbar schwerelos in Zeitlupe dreht. Doch von den immerhin drei Komödien, die allesamt am 24. April auf das Frühlingspublikum losgelassen wurden, würde ich, mit einem Revolverlauf an meiner Schläfe, zu einer Entscheidung gezwungen wie in Sophie's Choice, vermutlich Miss Sixty noch am ehesten überleben lassen. Auch wenn die letzte Minute des Films das vermutlich schlimmste Debakel seit langem ist, Debütregisseurin Sigrid Hoerner ein striktes Zeitlupenverbot ausgesprochen werden müsste und ich befürchte, dass sich Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten mit der Entscheidung, ein Duett mit Iris Berben aufzunehmen, quasi eine Eintrittskarte in die Hölle besorgt hat.

Demnächst in Cinemania 114:
Ai Weiwei The Fake Case (Andreas Johnsen), Für immer Single? (Tom Gormican), Irre sind männlich (Anno Saul), Muppets Most Wanted (James Bobin), Watermark (Jennifer Baichwal, Edward Burtynsky) und Words and Pictures (Fred Schepisi).