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14. September 2016
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Viva (Paddy Breathnach)


Viva
(Paddy Breathnach)

Irland 2015, Buch: Mark O'Halloran, Kamera: Cathal Watters, Schnitt: Stephen O'Connell, Musik: Stephen Rennicks, Production Design: Paki Smith, mit Héctor Medina (Jesús), Jorge Perugorría (Angel), Luis Alberto García (Mama), Laura Alemán (Cecilia), Luis Manuel Álvarez (Cindy), 100 Min., Kinostart: 15. September 2016

Wenn im Alter schon mal das Gedächtnis nachlässt, ist man umso stolzer, wenn sich absurde kleine Details verzweifelt in den Windungen festkrallen und man Namen zuordnen kann, die jeder andere längst vergessen hätte. So auch beim Namen des Drehbuchautors zum irischen, aber komplett spanischsprachigen und in Havanna spielenden Film Viva. Im Presseheft verschwendet man keinen Gedanken daran, aber Mark O'Halloran war mir augenblicklich ein vertrauter Name, denn er schrieb die Drehbücher zu den ersten beiden Filmen von Lenny (Room) Abrahamson, Adam and Paul sowie Garage. Ferner spielte er auch noch den Adam in erstgenanntem Film. Vom schwarzhumorigen Stil dieser beiden Filme erkennt man zwar in Viva nichts wieder, aber mich hat es gefreut zu hören, dass O'Halloran weiterhin als Drehbuchautor tätig ist - und noch dazu mit solch einem durchaus exotischen Projekt. Ich habe keinen Schimmer, wie gut sich Mark O'Halloran auf Kuba oder in der beschriebenen Szene (von mir aus auch im irischen Äquivalent) auskennt, aber für mich ebenfalls Außenstehenden wirkte das Ganze sehr authentisch. Vermutlich hätte ich aber die beiden Hauptfiguren nicht Jesús und Angel genannt, auch als José und Alberto hätten sie ohne Probleme die selbe Ausdruckskraft besessen.

Ich suchte mir den Film aufgrund des naheliegenden Vorführkinos und der exotischen Kombi Irland/Kuba aus, hatte aber abgesehen vom einschlägig beschiedenen Verleih Salzgeber keine Ahnung, was mich erwartete. Und ich muss zugeben, dass ich in den ersten zwanzig Minuten das Gefühl hatte, in einem Film zu sitzen, zu dem ich keinen Zugang finden würde.

Viva (Paddy Breathnach)

Verleih: Salzgeber

Der junge Jesús (Héctor Medina) arbeitet mit seinen etwa Anfang Zwanzig als Friseur (!), sowohl bei den alten Damen aus seiner Nachbarschaft, die dem schüchternen Jünglein oft weniger geben, als er verdient hätte, als auch bei einer Drag-Show. Gleich zu Beginn des Films sehen wir, wie er fasziniert die Bühnenshow betrachtet. Sein sehnlichster Wunsch ist es, auch ein Bühnenstar zu werden - auch, wenn er vorerst nicht annähernd die Gaben dazu besitzt.

Wir erleben Jesús auch bei seinem Alltagsleben, das sich zum Beispiel darin erschöpft, dass er seine spärliche Wohnung der reichlich notgeil wirkenden Cecilia für ein Schäferstündchen mit ihrem Stecher ausleiht - wobei deren Dankbarkeit (oder die ihres Macho-Lovers) sich wirklich in Grenzen halten. Ich erwähne dies vor allem als weiteres Detail, warum ich durchaus Probleme hatte, mich mit den Schicksalen dieser Figuren anzufreunden. Es kam zunächst alles zwei bis drei Spuren zu dick, aber ich hatte keinen Schimmer, wo es hinführen sollte. Und Filme über südamerikanische Homophobie mit tragischem Ausgang hatte ich dieses Jahr schon über Gebühr gesehen.

Viva (Paddy Breathnach)

Verleih: Salzgeber

Den befürchteten Trend bewahrheitete dann auch die nächste, zentrale Szene, bei der Jesús endlich sein Bühnendebüt feierte - nur um von einem Gast des Lokals sehr aggressiv angegriffen zu werden. Dass es sich bei dem Angreifenden ausgerechnet um Jesús' Vater Angel (Jorge Perugorría) handelt, den Jesús 15 Jahre nicht gesehen hatte und deshalb auch nicht auf Anhieb erkannte, fordert vom Zuschauer schon ein wenig ... ähm, wie sagt man es ... »Bereitschaft zur Mithilfe« vielleicht!?!

Dass der Vater, kirchenmausarm, aber zu Alkoholismus und Prügel neigend (er war mal Boxer), dann gleich bei Jesús einzieht und ihm gleich erst mal verbietet, wieder in Frauenkleidern aufzutreten, ist jetzt auch nicht unbedingt ein Punkt, an den man als Zuschauer sofort anknüpft, aber ab hier wurde Viva für mich ein wirklich bemerkenswerter Film, denn diese aggressive Hass-Liebe zwischen Vater-und-Sohn-Figuren, wie ich sie jüngst ähnlich in Desde allá erlebt hatte, funktionierte hier wirklich erstaunlich gut, und plötzlich war ich auch gewillt, Emotionen in diese Figuren zu investieren, mit denen mich reichlich wenig verbindet.

Viva (Paddy Breathnach)

Verleih: Salzgeber

Ziemlich clever ist hierbei die Verbindung der so unterschiedlichen Männer über Jesús' verstorbene Mutter, die einst sang. Der melodramatische Frauengesang ist dadurch etwas, wofür auch Angel zugänglich ist, und auch, wenn er mit dem ganzen Tunten-, Transen- und Schwulenkram als traditionelles Alphamännchen nichts anfangen kann, spürt er so doch den Kern seiner verstorbenen Frau in seinem vermeintlich missratenen Sohn wieder.

Überhaupt geht es viel um Männlichkeitsbilder. Wenn man den Macho Angel neben die (ich formuliere das mal etwas provokant ...) Tunte Jesús stellt, spricht überhaupt nichts dagegen, dass Angel auch der egoistische Versager ist und Jesús der opferbereite Ernährer, der für seine Familie Opfer auf sich nimmt. Wenn man Angel darauf hinweisen würde, bekäme man höchstwahrscheinlich eine gescheuert, aber als Kinozuschauer hat man ja jenen Abstand von den Figuren, der einem auch die Konstellationen und Widersprüche genauer vor Augen führt.

Viva (Paddy Breathnach)

Verleih: Salzgeber

Zum Gelingen des Films trägt der Soundtrack immens bei. Nicht nur die schwülstigen Liebeslieder aus vergangenen Epochen, die mit großer Camp-Leidenschaft bei aller Revolution auch die Tradition feiern, auch eine Erasure-ähnliche Technoversion von House of the Rising Sun hat mich begeistert. Und die Figuren, die mir zunächst so unrelatable erschienen, haben alle viel Herzblut - und das Drehbuch weiß, wie man sie aufeinandertreffen lassen muss, um den Film zum Kochen zu bringen. Wie eine Art missglückte Synthese von Vater und Sohn erscheint mitunter die Figur Mama, die man liebevoll als »Puffmutter« vorstellen könnte. Mama wirkt ohne Make-Up deutlich maskuliner als all die Zöglinge, um die Mama sich kümmert. Da verschmelzen die Gegensatzpaare.

Die Auflösung des Film geriet für meine Verhältnisse zwar eine Ecke zu gefällig, aber es ist ja auch mal ganz nett, wenn nicht alles immer als Tragödie enden muss. Einzig ein Teilaspekt des Endes hat mich ein wenig gestört, weil ich Alkoholkonsum in manchen Situationen so gar nicht gutheißen kann - und das hier marginalisiert bis ignoriert wird statt thematisiert. Aber ich glaube, wenn ich irgendwann mal auf einen Film treffen sollte, wo alles so läuft, wie ich es bevorzugen würde, fände ich den Streifen auch sterbenslangweilig.