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7. Februar 2019 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||||
Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet (bei mehreren Titeln ist das der erste). |
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Vorführungen:
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Norwegen 2018, Buch: Karsten Fullu, Kamera: Morten Skallerud, Janne K. Hansen, Musik: Knut Avenstroup Haugen, mit den Originalstimmen von Kari-Ann Grønsund (Solan Gunderson), Trond Høvik (Ludvig), Per Skølsvik (Reodor), Christine Hope (Nyhetsoppleser), Hege Schøyen (Enkefru Stengelføhn-Glad), Ingar Helge Gimle (Vigfus Skonken), Kåre Conradi (Frimand Pl√Πser), John Brungot (Melvind Snerken), Fridtjov Såheim (Ollvar O. Clifford), Bjarte Hjelmeland (Olram Slåpen), Steinar Sagen (Emanuel Desperados), 80 Mon., empfohlen ab 7 Jahren
Dies ist bereits der dritte Flåklypa-Film der aktuellen Reihe, und den ersten, in dem es um eine Schneemaschine geht, kann man auch längst als deutsche DVD erhalten, die ich als Purist aber ablehne, weil sie nur die deutsche und englische Tonspur enthalten soll. Ich spreche zwar kein Wort Norwegisch, aber mich nervt es schon ausreichend, dass in den Untertiteln des Film komplett andere Namen der Hauptfiguren stehen (in Film 2 Solan og Ludvig - Herfra til Flåklypa hießen »Louis & Luca« übrigens noch »Louis & Nolan« - What the Fuck?), die man wohlweislich auch im (zugegebenermaßen englischsprachigen) Presseheft übernommen hat. Dankenswerterweise heißen Solan & Ludvig laut deutschem Titel authentisch Solan & Ludvig, die Berlinale versucht diese idiotische Anglifizierung einfach zu ignorieren (wobei mich wirklich interessieren würde, wie die deutsche Einsprecherin bei den Vorführungen agiert - doch wegen des Sprachfehlers einer anderen Person muss die vermutlich ohnehin ein detailliertes Skript nutzen, selbst ein talentierter Simultandolmetscher wäre vom Übergang von den englischen Untertiteln zur deutschen Einsprache vermutlich überfordert).
Bei der Mondreise sind auch die meisten Nebenfiguren wie der suspekte Käseproduzent Vigfus Skunken oder der etwas tumbe Gorilla Emanuel Desperados wieder dabei, und nachdem die Rakete endlich gestartet ist, entsteht durch die Mehrbelastung durch mehrere (!) blinde Passagiere tatsächlich Lebensgefahr. Beim Vorgängerfilm fühlte ich mich stark an die Comics von Carl Barks erinnert, ein Sujet wie eine Mondreise hat Barks natürlich auch mehrfach durchgenommen, aber der »SciFi«-Teil des Films orientiert sich eher an filmischen Vorbildern, während die Fernsehübertragungen in der ersten Hälfte ganz den satirischen Grundton des Films um das Käserennen wiederaufnehmen.
Als langjähriger Filmkenner erkennt man natürlich, wie so ein Film aufgebaut wird, die später notwendigen Probleme und Lösungen müssen jeweils vorbereitet werden, aber wenn hier mehrfach das Außenklo etabliert wird, dass dann bei einem Raketenstart mit viel inszenierter Verzögerung plötzlich »verschwunden« scheint, so ist dies vom Timing her schon famos gemacht.
Die Vorbereitung zur Mondreise nimmt hier (noch deutlicher als bei Barks) einiges an Zeit in Anspruch, was natürlich durchaus realistisch ist und durch einige köstliche Scherze angereichert werden. Sehr amüsiert hat mich etwa eine russische Matruschka-Rakete, bei der statt verschiedener Zündstufen tatsächlich aus größeren Puppen kleinere hervorkommen, bis das Prinzip quasi »verbrannt« ist und man nur noch ein »Nyet!« auf der Tonspur vernimmt.
© Maipo Films
Das Thema des Nationenkampfs um den Mond, bei dem auch Norwegen wegen veränderter Gesetzeslage unbedingt dabeisein will, wird auch reichlich gemolken, statt Satelliten-Müll sieht man etwa ökopolitisch durchaus pädagogisch wertvoll im All mal eine Wodka-Flasche neben einer Burgerverpackung schweben. Man kann nie früh genug damit anfangen, den Kindern die Dummheit der Menschheit vor Augen zu führen: »The universe will be the landfill of tomorrow!« Dass der US-Astronaut wegen Übergewicht scheitert, ist verglichen damit fast ein cheap shot.
Viele der Gags finden auch eher am Rande des Geschehens statt, hübsch etwa, dass der avisierte Astronaut, die Elster Solan, als Helm ein Goldfischglas benutzt, woraufhin Igel Ludvig besorgt um den früheren Bewohner des Gefäßes ist. Solans lapidare Antwort: »Dem geht's gut, aber benutze heute nicht deinen Nachttopf!«
Das Grundtempo des Films ist eher gemächlich, aber das heißt hier nur, dass man möglichst viel aus der Prämisse herausholen will. Für die Raketeneffekte stützt man sich für meinen Geschmack zu sehr auf CGI, statt ganz auf Stop-Motion-Knete zu vertrauen, aber alles in allem ist der Film schon sehr old school, was man auch am Einsatz einer Wasserwaage erkennt (ich glaube, zu dem Zeitpunkt befand man sich schon im All, was den Witz wegen der Schwerelosigkeit nur noch verstärkt).
An passender Stelle stützt sich die Filmmusik natürlich auf die schöne blaue Donau vom Walzerkönig Strauss, aber man zitiert nicht nur 2001 - A Space Odyssey, sondern hat offensichtlich auch Deep Space Homer, eine meiner Lieblingepisoden der Simpsons, gesehen. Etwas später vermeinte ich dann musikalische Entlehnungen aus Philip Glass' Soundtrack zu Koyaanisqatsi zu vernehmen, doch ein Kollege meinte, das sei aus Interstellar übernommen. Sämtliche musikalischen cues habe ich übrigens im Nachspann vergeblich zu entdecken versucht.
Auch zwei, drei Töne aus Alien (Jerry Goldsmith) hat man übernommen, und wenn man dann an Bord der Rakete einen unerwarteten zusätzlichen blinkenden Punkt bei der radarähnlichen Übersicht sieht, ist das Ganze auch ähnlich gruselig aufgebaut (als Erwachsener weiß man ziemlich genau, worin die Überraschung besteht). Eine echte Hingabe an die Hommage zeigt sich aber, als das »unheimliche Wesen«, das sich an der Decke verbirgt, eine »schleimige« Bananenschale fallen lässt, die mit passendem Soundeffekt auf dem Boden landet.
Wer glaubt, ich hätte jetzt schon jeden guten Gag des Films ausgeplaudert, den kann ich beruhigen - abgesehen davon, dass man es gesehen haben muss, ist auch noch vieles im Film verborgen, auf die aufdringliche Lokalpolitikerin von der »socian nabour party« (wie gesagt, ein Sprachfehler) oder die Nachrichtenleserin (Nyhetsopleser) mit dem Gebahren einer KZ-Aufseherin darf man sich weiterhin freuen.
Im Film scheint mir sogar ein Utensil aus einem frühen Film von Wallace & Gromit versteckt zu sein, aber vielleicht habe ich die Ähnlichkeit auch überinterpretiert.
Månelyst i Flåklypa ist zwar »nur« ein Kinderfilm, aber dabei unterhaltsamer als 90% der Filme, die ich so sehe (und ich gebe mir zunehmend Mühe, den blöden Mist wirklich auszulassen, wodurch dieses Urteil ein noch größeres Kompliment ist). In meiner Work-in-Progress-Jahresliste setzte sich der Film vorerst auf Platz 3, nur Green Book und If Beale Street could talk haben mich aktuell noch mehr begeistert.
Vorführungen:
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Finnland / Dänemark / Bulgarien 2019, Buch: Tonislav Hristov, Kaarle Aho, Lubomir Tsvetkov, Kamera: Alexander Stanishev, Schnitt: Anne Jünemann, Tonislav Hristov, Musik: Petar Dundakov, Dramaturgie: Anne Fabini, mit Veera Lapinkoski, Ville Oksanen, Asta Tikkanen, Slava Doycheva, Heikki Oksanen, Mike Pohjola, Mikael Saarinen, 86 Min.
Der Überraschungs-Hit des Generation-Programms war eindeutig dieser Doku-Hybrid. Die 25jährige Veera geht auf in ihrer LARP-Figur V. »She's a junior, her emotions change quickly, she doesn't take things personally, is mostly happy.«.
Als Betrachter fällt vor allem auf, dass V häufig die Haarfarbe wechselt und die Dokumentarfilmer sich dadurch keine Chronologie der Ereignisse aufdrängen lassen.
Bei ihrem Live Action Roll Playing macht Veera keine großen Unterschiede, ob sie nun in mittelalterliche Gefechte verwickelt wird oder in einer postapokalyptischen Welt gegen Mutanten antritt (letzteres Szenario scheint auch eigens für den Film hinzugefügt zu sein). So nach und nach kapiert man als Zuschauer, dass das Hobby nicht bloß Freizeitbetätigung ist, sondern auch wie eine Therapie eingesetzt wird.
Bei einem Ritual um ein Lagerfeuer befreit man sich von schädlichen Einflüssen. Dort werden Nachtmahre beschworen, hier wird ein Foto zerrissen (»I have a picture of hin, but he's not part of my life anymore!«)
Wenn man sehr aufmerksam ist, merkt man bereits, dass einige Details später im Film noch eine Rolle spielen werden: »An important fact about dealing with demons is sometimes you lose...«
Bei Veera geht es um Kindheitserinnerungen. Sie wuchs zusammen auf mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Ville, wegen dessen geistiger Behinderung waren die beiden aber lange Zeit »on equal footing«, wodurch die Beziehung auch sehr innig wurde.
© Alexander Stanishev
Dann kommt Veeras Vater ins Spiel, der Zeit seines Lebens Alkoholprobleme hat, in alten home videos wird dazu eine dezent gruselige Musik eingespielt. Villes Gesundheitszustand könnte auch mit Alkohol zusammenhängen, Veera hat vor zehn Jahren ihren Nachnamen ändern lassen... nach und nach setzen sich die Puzzleteile zusammen.
Der assoziative Schnitt, das chronologische Vor- und Zurückspringen sowie die Veränderungen von Vs Haarfarben passen auch irgendwie als Aspekte ihres »magischen Lebens«. Die weniger magischen, sondern traumatischen Aspekte kommen aber auch zum Vorschein: wenn der Vater angetrunken war, ließ er sich schnell provozieren, so etwas wie Vertrauen gab es eigentlich gar nicht in Veeras Kindheit. Auch Ville wurde Opfer seines Vaters, wie auch »des klassischen Gürtels«.
Bis er dies an einem Vatertag vor den Augen der Mutter tat - und die Ehe ruckzuck vorbei war (»der letzte Strohhalm«).
Zum dramaturgischen Schlusspunkt des Films gehört Veeras Wiedersehen mit dem Vater, der unter anderem als Grund für seinen Alkoholismus, in den er auch seinen Sohn hineinzuziehen droht (beide sind unterschiedlich clever mit ihren Verleugnungen und Ausreden), angibt, dies sei sein Mittel gegen Frustration, denn das Leben ist langweilig.
Da wirken Vs Rollenspiele plötzlich unendlich hilfreicher, den Teilnehmern wird etwa erklärt, dass es vor allem darum geht, dass alle zu guten Kameraden werden. Wenn die Mutanten mal gewinnen, ist das okay, solange alle ihren Spaß haben. Und man kann Veeras Freude beim Spiel, bei Gesprächen mit anderen Spielerinnen, aber auch, wenn sie sich mit Ville befasst, spürbar erfahren. Nur wenn bei Aktivitäten wie einem »Lichtzauber«, einem »Lumos«, etwas zu nah an ihre Realität herangerät, sieht man sie mal ein paar Tränen wegwischen.
Wie ein seltsames Hobby, über das ich zuvor eher mit Augenrollen reagiert habe (und ich bin Donaldist, die sind mitunter auch ziemlich spinnert), über die emotionale Anbindung zu einem veritablen »way of life« wird, hat mich schon ein wenig ergriffen, muss ich sagen. Aber wie oft in solchen Filmen funktioniert dies auch vor allem über die Identifikation mit den Protagonisten. Definitiv empfohlen, ob man sich schon vorher mit Rollenspielen befasst hat oder eigentlich kein Stück dafür interessiert.
Vorführungen:
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Frankreich 2018, Buch: Marine Atlan, Kamera: Benoît Bouthors, Marine Atlan, Schnitt: Guillaume Lillo, Musik: Jonas Atlan, mit Théo Polgár, Madeleine Follaci, Tristan Bernard, Aurélien Gabrielli, Emmanuelle Cuau, 60 Min., empfohlen ab 10 Jahren
Das Regiedebüt der Kamerafrau Marine Atlan hat die Feministinnen in meiner Sitzreihe etwas (mehr als etwas!) erbost, weil es im Film eine Szene gibt, in der der zehnjährige Daniel eine gleichaltrige Mitschülerin beim Umkleiden betrachtet, wobei das Kind sowohl in den Augen eines Erwachsenen als auch im gedachten Point-of-View von Daniel sexualisiert wird, wo dann bei vielen Menschen alle Alarmleuchten angehen.
Die Problematik war der Regisseurin sicher bekannt, vermutlich musste man das gezeigte auch exakt mit den Eltern der Darstellerin durchsprechen, aber auch, wenn ich ausreichend sensibilisiert bin für solche »No-Gos«, muss ich doch sagen, dass mir diese drei bis fünf Einstellungen nicht den gesamten Film »versauen« konnten, denn da gab es auch viel Schönes zu betrachten (okay, die Wortwahl war jetzt irgendwie doof).
© bathysphere
In dem einstündigen Film geht es um eine Tanzprobe, die zusammenfällt mit einem Testalarm, der die Schüler auf mögliche Amokläufer sensibiliseren soll. Vielleicht weniger sensibilisieren, sondern mehr vorbereiten. Man sieht das ganze mit den Augen von Daniel, ein bisschen ähnlich wie letztes Jahr in Allons enfants, wobei dort die Kinder noch kleiner und die Erwachsenenproblematik mehr im Hintergrund war.
In Daniel fait face wird das Stadium der »Schwellenkinder«, wie es vor allem in den Dokus des diesjährigen Programms der Generation Kplus unübersehbar ist, wohl am durchdachtesten / sensibelsten umgesetzt (ja, trotz der einen Aufreger-Szene). Die Kinder werden konfrontiert mit Poesie, Kunst, Naturschönheit, Sexualität und Terror - und sie kommen damit erstaunlich gut klar, eigentlich geht es ja darum, dass die (kindlichen) Zuschauer anhand des Films an diese Themenbereiche herangeführt werden.
Man könnte sagen, dass Zehnjährige von diesem Film überfordert sein könnten, vielleicht nur an der falschen Stelle zu kichern beginnen, doch selbst das fände ich durchaus interessant, als psychische Verdrängungsmechanismen. Als ich noch recht klein war (vielleicht 11 oder so?), habe ich oft die Filme des »Gruselkabinetts« im Dritten sehen dürfen, wenn ich dafür »vorgeschlafen« habe. Die Filme begannen glaube ich um 21 Uhr 45 oder so und meistens gab es Schwarz-Weiß-Klassiker wie Dr. Cyclops etc. Aber ich habe auch einen Großteil der Hammer-Dracula-Reihe in jungen Jahren gesehen oder, ein Paradebeispiel, Rosemary's Baby, bei dem ich damals längst nicht alles begriffen habe, den ich aber dennoch sehr interessant fand. Und offensichtlich habe ich dadurch auch nächtelang an Alpträumen gelitten, weil ich das alles ziemlich gut wegstecken konnte (wenn ich nach japanischen Monsterfilmen vom Kino die vielleicht 400 m nach Hause gegangen bin - ich musste nur eine Straße überqueren - fand ich das bei einsetzender Dunkelheit weitaus beeindruckender, auch, weil ich dabei immer an einer Stelle ohne Haus vorbei musste, wo durch den Blick über die Weser plötzlich immer ein großes Stück »Himmel« frei war und man sich gut vorstellen konnte, dass da jetzt Godzilla oder einer seiner Spießgesellen um die Ecke greifen könnte).
Anyway, ich habe keine Kinder und kann sie somit auch nicht durch meine Erziehung versauen, aber ich glaube, dass man sie nicht vor der Realität »verstecken« kann, genauso wie ich es absurd finde, jeden einzelnen Keim mit einer gezückten Sagrotan-Flasche zu verfolgen. Früher hieß es »Dreck reinigt den Magen«, wenn ein Kind auf dem Spielplatz einen selbstgemachten »Sandkuchen« zu verspeisen drohte (der Scheiß schmeckt ja auch nicht, spätestens da schaltet sich das Hirn ein).
Und bei Daniel fait face werden vielleicht die wenigsten Kinder eine Sensibilität für Tanz, ein Gedicht oder eine unberührte Schneefläche entwickeln, aber man sollte den Kindern durchaus mal die Chance geben, solche Erfahrungen zu machen. Durchaus auch in einem gesicherten Umfeld, wenn man dann später darüber sprechen kann. Da habe ich schon ganz andere, eher als »gefährlich« zu bezeichnende Filme in meinen Jahren mit der Generation erlebt.
Und übrigens: Ich finde, dass man diese Voyeur-Szene - im Gegensatz zu manchen Szenen in Rosemary's Baby - auch nicht ohne weiteres als elliptische Mauerschau hätte umsetzen können. Die angedeutete Rundung einer Mädchenbrust ist auch einfach viel exakter als das Kopfkino, das seine eigenen Bilder erzeugt hätte. Und auch, wenn Daniel etwas ungeschickt mit der Situation umgeht - am Schluss hat er sich immerhin entschuldigt, ihn als »dirty pervert« (UT) zu beschimpfen ist dann doch etwas weit hergeholt.
Ich finde zwar, dass die »Verbarrikadierung« gegen die virtuellen Eindringlinge im Film etwas realitätsfern wirkt (wurde aber vielleicht mit Absicht verharmlost), doch man sollte sich - gerade als Erwachsener, der nicht nur zur Unterhaltungsberieselung ins Kino geht, mal im Nachhinein Gedanken darüber machen, wie clever hier die verschiedenen Themen des Films ineinandergreifen. Das blutende Kätzchen und Daniels Nasenbluten, der im Gedicht erwähnte Attentäter und die unsichtbaren Personen, die von außen an den Türen rütteln, der Federsaum des Ballerina-Kleides und die Schneeflocken: Liebe und Tod, Schnee und Blut, Poesie und Perversion - oder was Kinder dafür halten. Frühpubertät in den Zeiten des Terrors.
Die anrührendste Szene des Films ist übrigens die, wo eines der Mädchen dem offenbar überforderten Tanzlehrer Trost spendet. Und selbst diese, sehr optimistische Szene einer Kindheit wird im Film in einen Kontrast mit beginnendem Bullytum gesetzt. Man kann mir sagen, was man will, Daniel fait face ist ein toller Film mit ein paar kleinen Schwächen. Und er wird auch, wenn man (noch) nicht alles versteht, eine Erfahrung bedeuten, die eher bereichert als verstört. (Man soll ja auch keine Vierjährigen dahin schleppen.)
Vorführungen:
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Estland / Lettland 2019, Co-Regie, Production Design: Heiki Ernits, Buch: Janno Põldma, Heiki Ernits, Andrus Kivirähk, Schnitt: Janno Põldma, Musik: Sven Grünberg, Songs: Sven Grünberg, Renars Kaupers, mit den Originalstimmern von Evelin Võigemast (Lotte), Helmi Tulev (Roosi), Sepo Seeman (Adalbert), Mait Malmsten (Karl), Elina Reinhold (Viktor), Anu Lamp (Sonja), 78 Min., empfohlen ab 5 Jahren
Der erste von bisher drei Filmen um die Zeichentrickabenteuer des Hundemädchen Lotte lief bereits 2007 auf der Berlinale, und entwickelte sich in Estland zu einem solchen Erfolg, dass es dort mittlerweile einen eigenen Themenpark »Lotteland« gibt.
»Lotte 3« beginnt mit einer etwas angespannten Szene, deren Grund man erst mit Verspätung erfährt. Lotte und ihr Vater Oskar warten auf etwas, gehen aufgeregt im Kreis, ehe es sich offenbart, dass Lotte ganz frisch eine kleine Schwester namens Roosi bekommen hat. Weil Windelwechseln und Rumschreien nervt und auch narrativ eher unergiebig sind, spricht Roosi sofort und darf ohne Probleme von ihrer Schwester durch die Gegend getragen werden bzw. in ihrem Fahrradkorb Platz nehmen. Während das Quasi-Wunderkind bereits laufen kann und bei einem Arztbesuch ohne vorherige Schulung die Temperatur ihres Onkels Eduard messen kann, tauchen zwei Wissenschaftler in Gadgetville (so heißt Lotteland für das internationale Publikum, der erste Film spielte bekanntlich im »Dorf der Erfinder«) auf. Der eine, Karl, erweist sich mit Verspätung als (reichlich großgewachsener) Waschbär, seinen eher skeptischen Kollegen mit Namen Viktor trägt Karl praktischerweise in seiner Brusttasche, von wo aus Fisch Viktor Kommentare abgibt oder sich mit einem Buch oder einem Kopfkissen die Zeit vertreibt.
Die beiden Akademiker wollen für einen (natürlich streng wissenschaftlichen!) Wettbewerb Volksweisen sammeln, wobei es eigentlich um die bloße Anzahl geht, man aber für den Fall, dass man ein Lied der ältesten Spezies des Landstrichs, der feuerspuckenden Drachen, akquiriert, augenblicklich der Gewinner des Wettbewerbs werden könnte. Viktor macht aber keinen Hehl aus seiner Ansicht, dass er die Drachen für Märchenfiguren hält.
Es dauert natürlich nicht lange, bis Lotte und Roosi sich auf die Suche nach den Drachen machen, wobei das seltsame Maulwurfspaar John und James ebenso eine Rolle spielen wie Tante Sophie, die aufgrund ihrer Hasenohren einen interessanten Familienstammbaum andeutet.
© Eesti Joonisfilm / Rija Films
Die Figuren sind kindgerecht old-school-Zeichentrick mit angenehmen Farben, für die Hintergründe hat man indes aufwendige Computeranimationen, oft im Collagen-Stil, gewählt. Ich bilde mir ein, dass dies im ersten Lotte-Film auch schon so war, nur mit deutlich geringerem graphischem Anspruch.
Die eigentliche Geschichte ist bis auf den historischen Anstrich, der Hand in Hand mit einem nationalen Jahrestag arrangiert wurde, eigentlich eher konventionell und selbst für Fünfjährige keine große Herausforderung. Was den Film ausmacht, sind die hübschen kleinen Ideen. Geradezu verliebt habe ich mich in die typischen Körperhaltungen (man beachte vor allem die Arme) eines Volksstamms, der zoologisch so in Richtung eines Possums geht (erinnert sich noch wer in die tolle Sterbeszene von William Shatner in Over the Hedge?), aber auch der Moment, wo ich am liebsten mein neu gelerntes Wort »wickegaren« (deutsch: Regenbogen) durchs Kino geschrieen hätte, war ganz toll.
Weil ich die ganze Zeit auf Themensuche zwischen den Generation-Filmen war, fand ich auch toll, wie ein ritueller Tanz rund um Drachenhosen wie eine Fortführung des Hauptthemas von The Red Phallus war und man hier wie dort erstaunlich viel Geschirr in der Küche zerdeppert.
Ich spielte zwischenzeitig sogar mit dem Gedanken, einen eher satirischen Themenartikel zum Spaß zu erstellen, bei dem das Zitat »It's not really terrible if you close your eyes« einen Ehrenplatz als Überschrift eingenommen hätte. Über ein eher durchsichtiges Ballerina-Kleid hätte man auch den Faden aus Daniel fait face wieder aufnehmen können, aber weil die Tänzerin nur gezeichnet war, stört sich daran natürlich niemand.
Dass man zwischendurch Songs anstimmt à la United States Marine Corps in Full Metal Jacket, (»I don't know but I've been told / an [rassistischer Begriff] [frauenfeindlicher Begriff] is mighty cold«) ist eher so ein Detail für die Großen.
Der Film endet übrigens mit einem ähnlich charmanten Anachronismus wie er begann. Während sich die Drachengroßeltern nicht mehr an die Hochzeit vor hundert Jahren (Herzlichen Glückwunsch, Estland!) erinnern können, haben die Enkel, die mittlerweile gerade mal ihre Milchzähne verloren haben (!), ihre Omis und Opis sofort wiedererkannt.
So läuft das halt in Kinderfilmen: die Kleinen sind super aufgeweckt, die Alten eher stark verkalkt.
Demnächst in Cinemania 198:
Weitere Berlinale-Rezensionen 2019: Cleo (Erik Schmitt, Generation Kplus), A Dog called Money (Seamus Murphy, Panorama), Mijn bijzonder rare week met Tess / My Extraordinary Summer with Tess (Steven Wouterlood, Generation Kplus) und noch etwas.
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