Emilia Pérez
(Jacques Audiard)
Originaltitel: Emilia Pérez, Frankreich / Belgien 2024, Buch: Jacques Audiard, unter Mitarbeit von Thomas Bidegain, Nicolas Livecchi & Léa Mysius, Lit. Vorlage: Boris Razon, Kamera: Paul Guilhaume, Schnitt: Juliette Werfling, Musik: Clément Ducol, Camille, Kostüme & Art Direction: Virginie Montel, Choreographie: Damien Jalet, Production Design: Emmanuelle Duplay, Set Decoration: Sandra Castello, mit Zoe Saldana (Rita Moro Castro), Karla Sofía Gascón (Manitas Del Monte / Emilia Pérez), Selena Gomez (Jessica / Jessi), Adriana Paz (Epifanía), Édgar Ramírez (Gustavo Brun), Mark Ivanir (Dr. Wasserman), Eduardo Aladro (Berlinger), Emiliano Edmundo Hasan Jalil (Gabriel Mendoza), Gaël Murguia-Fur (Angel as a Teen), Tirso Rangel Pietriga (Diego as a Teen), Théo Guarin (Angel as a Child), Lucas Varoclier (Diego as a Child), Xiomara Ahumada Quito (Woman in Black), Magali Brito (La Ponchis), Jarib Zagoya (Chaplain), Sébastien Fruit (El Flaco), Alejandra Reyes (Rosa / Courtroom Cleaning Lady), Anabel Lopez (Berlinger's Secretary), Daniel Velasco-Acosta (Edgar, Emilia's Driver), Nathalie Saucedo, Marysol Cordourier, Monica Ortiz (Emilia's Maids), 132 Min., Kinostart: 28. November 2024
Ich vermeide es ja gern, in meinen Texten bereits den kompletten Film vorwegzunehmen, aber manchmal muss man auch akzeptieren, dass man nicht um alles herum reden kann. Deshalb habe ich mich mal für eine andere Herangehensweise entschieden, die man Konfrontationstherapie nennen könnte.
Auf dem Plakat von Emilia Pérez wird Le Monde wie folgt zitiert: »Übertrifft alles, was man sich vorstellen könnte«. Hmm, das will ich doch mal hinterfragen. Stellt euch vor, man hätte Pedro Almodóvar gebeten, ein Remake - NEIN, eine komplette Neuinterpretation von Mrs. Doubtfire zu drehen, die nicht nur keine Komödie sein soll, sondern das Ausgangsmaterial komplett auf links dreht. Das hilft nur sehr eingeschränkt, sich den Film Emilia Pérez vorzustellen, und wenn ich dann noch nebenbei fallen lasse, dass es sich hier ohne weiteres um ein Biopic einer in Mexiko sehr bekannten Persönlichkeit handeln könnte, und dass Regisseur Jacques Audiard (De battre mon cœur s'est arrêté , La rouille et d'os, Un prophète oder zuletzt Les Olympiades, Paris 13e) sich dafür entschieden hat, den Stoff als Musical umzusetzen, dann hat man so eine vage Idee, was einen erwarten könnte...
© Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany
Zunächst was zum Genre Musical: für mich ist bei der Erstsichtung eines Musicals wichtig, dass die Songs schon beim ersten Mal eingängig sind (alle Musicals wie Mamma Mia, bei denen man die Songs bereits kennt und mitsingen kann, lasse ich hier mal außen vor, die haben andere Stärken oder Probleme). Einen Song schon beim ersten Hören mitsummen zu können, bedarf eine sehr eigentümliche Art von Komposition, die außerhalb dieser Aufgabenstellung nicht unbedingt zu einem besonders gelungenen Musikstück führen würde. Also ein Drahtseilakt ohne Netz, der beim Erfolg oder Nichterfolg eine große Rolle spielt.
Die Songs in Emilia Pérez sind größtenteils in Spanisch, einer Sprache, zu der ich nur einen sehr eingeschränkten Zugang habe. Jüngst habe ich den Gorillaz-Song Tormenta entdeckt, der einen prominenten Rap-Part von »Bad Bunny« auf Spanisch hat, den ich selbst mit sehr viel Training nicht ansatzweise mitsingen könnte. Aber anhören tue ich es mir gerne. Die Songs in Emilia Pérez sind zum Teil sehr emotional bewegend, und selbst, wenn man die Untertitel nur überfliegt und nicht aufmerksam seziert, versteht man schnell, um was es in den Songs geht, und kann sich ganz auf die Darbietung konzentrieren, die das »Melo« von Melodie in Melodrama aufblitzen lassen (die etymologische Recherche bei den Begriffen habe ich mal weggelassen). Neben der Emotionalität mancher Songs ist aber auch die Präsentation ganz unterschiedlich.
© Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany
Gleich beim ersten Song (sorry, falls ich hier mal nicht korrekt mitgezählt habe) geht es mehr darum, einen Aspekt des Lebens in Mexiko nahe zu bringen, dann begleitet man die Rechtsanwältin Rita (Zoe Saldana) dabei, wie sie ein Plädoyer vorbereitet, an dessen Aussage sie nicht glaubt, das sie aber dennoch kraftvoll auf den Punkt bringt. Dabei durchschreitet sie typische mexikanische Straßen, die nicht unbedingt malerisch wirken, sondern authentisch. Und vermeintlich zufällige Passanten nehmen quasi ihre Gedanken auf und zeugen in einer subtil choreographierten Darbietung davon, wie gelungen sie später den Verlauf ihres Falls manipulieren könnten. Mit solchen Begleitumständen fällt es leicht, sich auf diese Songs einzulassen. Das Material zieht Nutzen aus der Darbietung, und die Theatralik, die manche Leute bei Musicals nervt, ist hier nicht aufgesetzt, wenn man nur im geringsten die Gabe hat, sein Herz wie eine Saite klingen zu lassen (kein Ahnung, woher dieser Spruch jetzt kommt... Erika Fuchs?, aber er passt ganz gut), dann wird die Musik in diesem Film einen erreichen.
Und ich saß durchaus schon in (Film-)Musicals, die mich komplett kalt ließen, zuletzt etwa Annette oder The Greatest Showman.
© Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany
Für die ungewöhnliche Erzählung ist Rita (Zoe Saldana), die junge Anwältin, die erst an der Korruption in Mexiko fast zerbricht, sich dann aber neu erfindet und eine ganz andere Rolle in ihrem Leben findet, eine kolossale Wahl, die vieles im streng chronologisch erzählten Film erst möglich macht. In der (eher frei interpretierten) Romanvorlage war dies noch ein älterer Anwalt, aber die weibliche Figur hat viel mehr Möglichkeiten, und Saldana als bekanntestes Leinwandgesicht (Star Trek, Guardians of the Galaxy) trägt nicht nur den Film mit, sie hat vermutlich auch großen Anteil daran, dass meine dritte aufeinander folgende Filmkritik in drei Monaten sich erneut um einen aktuellen Cannes-Gewinner dreht: erst kam der Drehbuchgewinner The Substance, dann der »Große Preis der Jury« Anora und nun der Film, für den die vier Hauptdarstellerinnen (Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und Adriana Paz gemeinsam ausgezeichnet wurden.
Zum dritten Mal dreht Audiard in einer fremden Sprache und erschafft Mexico City auf einer Pariser Soundstage neu. Er bleibt seinen vorherrschenden Themen Gewalt und Leidenschaft treu, erzählt auch wieder von Außenseitern, doch diese können auch zu überlebensgroßen Heldenfiguren werden, sich dabei aber ihre brüchige Fragilität erhalten.
© Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany
Ich mag nicht mehr über den Film sagen, Stabangaben und Szenenfotos verraten schon genug, und gerade jene Zuschauer, für die dieser Film den Wohlfühlbereich verlässt (und zwar nicht wegen der Gewalt, sondern wegen der Menschlichkeit!), sollten sich einen Ruck geben.
Na gut, es geht größtenteils um Frauen, es wird ziemlich melodramatisch - und dann ist das ganze auch noch ein Musical in einer Sprache, die nicht jedem liegt! Aber dieser Film ist ein Großereignis, und für mich ist Emilia Pérez schon jetzt eine größere Heldin für Latein- und Südamerika als Evita Perón!