Scheitern als Chance
Mutter und Milch … Wer diese beiden Gruppen in den Neunzigern zu seinen Lieblingsbands zählte, erntete in Gesprächen oft Achselzucken oder sogar Unverständnis. Das hat sich heutzutage geändert: Vielerorts werden Mutter und Milch als Ikonen der populären deutschsprachigen Musik der letzten Dekade wenig gehört, aber immerhin eingeordnet. Doch für solche Historisierungen ist es zu früh, denn Mutter wie auch Milch produzieren in Nischen weiterhin außergewöhnliche, zeitgemäße und großartige Musik. Dabei werden alte Pfade verlassen oder konsequent zu Ende beschritten. Im Sommer letzten Jahres erschien auf dem Raritätenlabel Vinyl on Demand Mutters siebtes Studioalbum, die Schallplatte heißt "CD des Monats" und zählt zu den kraftvollsten und eigenwilligsten Krachrockalben der letzten Jahre. Auch Milch hat sich jüngst eindrucksvoll zu Wort gemeldet. Der beachtliche Erfolg der letztjährigen Debütplatte "Vorher Nachher Bilder" (WSFA) von Jens Friebe, der als "Rettung der deutschsprachigen Popmusik" und als "Ton, Steine, Scherben des Geschlechterkampfes" tituliert wurde, ist vor allem auch auf die Produktion von Milch-Kopf Armin von Milch zurückzuführen. Und mit der neuen Maxi "Europa" (Scheinselbständig) zementiert das Duo seine Ausnahmestellung. Mutter und Milch … nie war es leichter, diese beiden Gruppen zu seinen Lieblingsbands zu zählen.
Eine Parallele zwischen den Bands besteht in der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen. Bei einem Mutter-Konzert weiß man im Voraus oft nicht, ob man sich auf einen romantischen Abend mit Kerzenscheinmusik oder einen Stehplatz zwischen Headbangern einstellen muß. Und wer sich durch die Platten von Milch hört, glaubt sogar, es mit den Schaffenshöhepunkten von vier verschiedenen Interpreten zu tun zu haben.
Ralf Maria Zimmermann, Armin von Milch
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"Roswitha" heißt das 1990 erschienene Debütalbum des Duos Milch, bestehend aus dem Schlagzeuger Ralf Maria Zimmermann und dem Gitarristen, Texter und Sänger Armin von Milch. "Roswitha" ist eine ungestüme jauchzende Jackpunkrockplatte, größtenteils ohne Bass aufgenommen, mit dunkler, fragmentarischer Lyrik und vielen wilden Einfällen – etwa wenn der Sänger sich eine Live-Aufnahme anhört, sich dabei ein Bier öffnet und das eigene Lied wie ein angetrunkener Fan mitspricht. Der Zauber von Milch beruht zum großen Teil auf Armin von Milchs toller Popstimme, die den Schalk Rocko Schamonis und das Erhabene des 1996 verstorbenen Die Erde-Sängers Tobias Gruben vereint, und die zwei Jahre später auf dem Nachfolgealbum "Frauenhände" voll zum Tragen kommt. "Frauenhände" ist mit Mutters "Hauptsache Musik" (1994) die beste und womöglich einzige progressive deutsche Schlagerplatte, fernab vom Pathos und der Rückständigkeit eines Xavier Naidoos oder von Rosenstolz, pulsierend und lebendig, mit wabernden Coverversionen von Karat und DAF und schönen, verrätselten Versen: "Lügen/Straft mich Lügen/Gegenwinden nur ein Jahr/Und heute sagen Nein Weiß Ja/Schwerelos waren Worte/Füllen heute einen Saal/Und wiegen 7000 Tonnen Stahl".
In der Folgezeit wenden sich Milch der Housemusik zu und legen 1994 mit "500" einen weiteren Meilenstein der deutschen Popmusik vor. "500" ist ein fluffiges House-Album zum Durchtanzen mit reduzierten, hymnenhaften Refrains: "Mensch, überall hängen Bilder von Adolf/Er meint, das wären Deutschland-Euroschecks/Deutschland-Euroscheckschreck/Hurra, hurra, Papi hat wieder Arbeit/Hallo Wessiesau". Milch sind inzwischen von München nach Hamburg umgezogen und beim Hamburger Indie-Label L’age d’or (Die Sterne, später: Tocotronic) untergekommen. Dort erscheint noch im gleichen Jahr eines der ersten reinen deutschen Remix-Alben, – "505" mit Minimal-Techno-Variationen der Milch-Stücke "Housefrau" und "Gott ist doof" von Szene-Größen wie Kotai, Acid Jesus und Whirlpool –, für das L’age d’or eigens das bis heute noch erfolgreiche Sublabel Ladomat gründet.
Bis hierhin liest sich die Milch-Karriere als großer Aufstiegsroman, der seine Fortsetzung und Krönung erfahren soll, als das Duo 1995 einen Plattenvertrag mit dem Major-Sublabel Motor abschließt. Die langjährige Erfolgsgeschichte des Berliner Polygram-Ablegers wiederum ist eng mit dem Namen Tim Renner verbunden, der eine Bilderbuchkarriere macht, als Motor-Chef die Rammstein-Plage übers Land bringt und später zum Musik-Chef von Universal-Deutschland aufsteigt. Nacheinander ziehen Milch nach Berlin, die Arbeit an dem vierten Milch-Album "Sozialpark" beginnt und als Appetitmacher erscheint 1995 bei Motor die Milch-Maxi "Kinderbrei". Als Produzent für "Sozialpark" wird Harold Faltermeyer verpflichtet, der 1984 mit dem Beverly-Hills-Cop-Titelsong "Axel F" einen Welthit hatte, und in den nächsten Monaten entsteht die aufregendste deutsche Tanzplatte der 90er Jahre. Ein großartiges Album mit Charts-Qualitäten, direkt am Zeitgeist – cool, ironisch und zukunftsweisend. Daß dieses Album nie bei Motor veröffentlicht wird, ist eine der großen Tragödien der deutschen Popgeschichte.
Über die Gründe wird bis heute spekuliert. So soll es rechtliche Probleme gegeben haben, weil Ralf Maria Zimmermann die Band verlassen hatte und später durch Katrin Katarakt ersetzt wurde, andere sprachen von Rücksichtnahmen gegenüber der hauseigenen Konkurrenz. Tim Renner selbst führt heute Qualitätsgründe für die damalige Entscheidung ins Feld: "Produzent Harold Faltermeyer hat leider einen Job gemacht, der allen Respekt, den ich für ihn hatte, ruinierte." Diese Einschätzung Renners, der letztes Jahr seinen Posten als Universal-CEO niedergelegt hat und sich mit seinem Buch "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm" und der Gründung des Radiosenders motor.fm zum Förderer der unabhängigen Musikmacher aufschwang, verblüfft angesichts des großartigen Resultats. Hart ins Gericht mit Renners Urteilsfähigkeit geht Inga Humpe vom Projekt 2Raumwohnung: "Der [d. i. Tim Renner] arbeitet an seiner eigenen Legende, nach dem Motto: Die deutsche Musik wird nicht mehr gefördert, deshalb verlasse ich den Konzern. Und alle glauben das. In Wirklichkeit ist er rausgeflogen, weil er viele Millionen Euro an die Wand gefahren hat. Ich kenne so viele Musiker, die sich mit ihm im Rechtsstreit befanden, dessen Karrieren er beendet hat. Und gerade der bastelt an seinem Image als Edelmann. Das ist verlogen." Unbestritten ist, daß Tim Renner das Erscheinen von "Sozialpark" bei Motor verhinderte.
Als "Socialpark" erscheint das Album dann 1999 auf dem unbekannten Label saas fee – mindestens drei Jahre zu spät, nahezu unbemerkt und überholt von der Zeit. In dem hervorragenden Protokollbuch "Minusvisionen. Unternehmer ohne Geld" (Suhrkamp 2004) erzählt Armin von Milch seine traurige Version der Geschichte – und in den biographischen Notizen zum Autor heißt es lapidar: "Armin von Milch ist seit Herbst 2000 Gruftie". Dieser vielgescholtene Begriff charakterisiert treffend Armin von Milchs vorläufig letzten musikalischen Stilwandel.
Auf dem Sampler "Politronics" (Onitor) veröffentlicht Milch 2003 das herzzerreißende, an "Eisbär" von Grauzone erinnernde Lied "Warum", ein reduzierter, kühl-elektronisch gewandeter Song, gepreßt und inbrünstig vorgetragen, mit viel Kraft und Seele: "Warum muß ich immer weinen/denk ich an dich/kommen mir die Tränen". Einflüsse der NDW-Kälte und des Dark-Wave-Bombasts finden sich auch auf der aktuellen Milch-Maxi "Europa/Zeus in Love": "Wer steht hinterm Gartenzaun/Bombenterror – Wiederschaun/Denn ich hab einen Geist gesehen/Wir sehen in die toten Augen von Europa". Von Anfang an hat Milch Einflüsse aus den unterschiedlichsten Pop-Sphären miteinander verwoben, bei "Europa" spürt man einerseits KLF-Anklänge, der Refrain wiederum erinnert an Foyer des Arts "Die toten Augen von Deutschland", dennoch ist das Stück klasse, eigensinnig und ungehört.
Seit mehr als fünfzehn Jahren produzieren Milch wie auch Mutter stets frische und großartige Musik, diese Schaffenskraft ist schier unglaublich. Ungeheuerlich ist allerdings die Tatsache, daß dies immer noch weitestgehend unbemerkt und im Abseits geschieht. Es wird höchste Zeit, daß man ihre Musik dem Pop-Olymp entreißt und sie zahllosen Ohren zuführt … bestenfalls über eine tägliche Mutter- und Milch-Radioquote. Vielleicht kann Antonia Ganz’ bewegende und spannend erzählte Mutter-Dokumentation (BRD 2005), die im Panorama-Programm auf der Berlinale 2005 zu sehen war, dabei helfen. Für Fans von Milch und der deutschsprachigen Tanzmusik bleibt allerdings nur zu hoffen, daß die Wartezeit von der Milch-Maxi zum Milch-Album nicht wieder wie zuletzt vier Jahre dauert. Dieser Gedanke ist zu schauerlich.