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Mai 2007 | Thomas Vorwerk für satt.org | |
Das Mädchen, das die Seiten umblättert
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Originaltitel: La tourneuse de pages, Frankreich 2006, Buch: Denis Dercourt, Jacques Sotty, Kamera: Jérôme Peyrebrune, Schnitt: François Gédiger, Musik: Jérôme Lemmonier, mit Déborah François (Mélanie), Catherine Frot (Ariane), Pascal Greggory (Mr. Fouchecourt), Clotilde Mollet (Virginie), Xavier de Guillebon (Laurent), Antoine Martynciow (Tristan), Julie Richalet (Mélanie, 10 Jahre), 85 Min., Kinostart: 3. Mai 2007
Nicht nur Filme über (zumeist berühmte) Musiker, sondern insbesondere über Pianisten (größtenteils fiktive) scheinen in den letzten Jahren in Mode gekommen zu sein. Haneke und Polanski erklärten sie zu Titelhelden, und bei diesen beiden Regisseuren schwingt natürlich schon etwas morbides mit. Romain Duris und zuletzt Hannah Herzsprung traten den Beweis ein, das die sensible über die Tasten huschenden Finger auch mal brutal zuschlagen können, und auch in Blueprint mit Franka Potente hatte die Karriere zweier Pianistinnen tragische Züge.
La tourneuse de pages tritt hier in jeder Hinsicht erstmal zwei Schritte zurück. Wie immer in diesen Filmen spielt die Musik - auch die nicht-diegetische Filmmusik - eine große Rolle. Wenn eine feingliedrige zehnjährige Klavierspielerin zum Vater einen grobschlächtigen, kahlen Metzger hat, so klingen auch in der Begleitmusik Disharmonien durch. Für Mélanie (Julie Richalet) bedeutet die Aufnahmeprüfung alles, doch man ahnt bereits schnell, daß die Vorsitzende der Aufnahme-Jury (Catherine Frot) ihr zum Verhängnis werden könnte. Vor der Prüfung wird sie um ein Autogramm gebeten, und hat wohl die zehn Sekunden Zeit nicht übrig (“Passt gerade schlecht”), was bereits eine negative Charakterisierung einleitet. Daß die Autogrammjägerin jedoch ausgerechnet während Mélanies Prüfung einen zweiten Versuch startet, und Madame Fouchecourt diesen Moment als geeigneter empfindet, und einige Meter vom jungen Prüfling nun unterzeichnet, bringt dis bis dato makellose Spiel von Mélanie zum Erliegen. “Du hättest doch nicht aufhören müssen. Spiel weiter, meine Süße!” Doch nach der Unterbrechung schleichen sich immer mehr Fehler ins Spiel ein, ohne Worte verlässt Mélanie den Raum und lässt einen Traum hinter sich.
Wenn draußen weitere Hoffnungsträger noch üben, und sie bei einem anderem Mädchen hierbei den Tastenschutz zuklappt, wird man an Hanekes Klavierspielerin erinnert, doch - wie bereits angedeutet - in La tourneuse de pages wird nur selten auf solche direkte Gewaltanwendung zurückgegriffen.
Zehn Jahre später tritt Mélanie (Déborah François aus L’enfant) ein Praktikum bei einem angesehenen Anwaltsbüro an, in dessen Verlauf sie davon hört, daß der “Maitre” jemanden bräuchte, der auf seinen Sohn achtgibt. Und während Mélanie an einem verlassenen Bahnhof wartet, und die Kadrierung die Aufmerksamkeit auf ein parkendes Auto leitet, kann der Zuschauer raten, ob sich nun eine Zufallsbegegnung mit der Jury-Präsidentin ankündigt, oder Mélanie das Ganze von langer Hand geplant hat.
Verglichen mit den ebenfalls in jüngster Zeit sehr populären Rache-Streifen von Regisseuren wie Tarantino oder Park wird in La tourneuse de pages nur sehr wenig Blut vergossen. Auch die inszenatorischen Mittel sind hier eher subtil, doch die Wirkung des Films, der einen Sog entwickelt wie Claude Chabrol zu seinen besten Zeiten, lässt die internationalen Rache-Experten wie Schlachter dastehen, während der junge Franzose Denis Dercourt wie ein filigraner Virtuose erscheint. Das zeigt sich zum Beispiel im relativ ähnlichen Erscheinungsbild der beiden Frauen, die unter anderen Umständen vielleicht ein ganz ähnliches Leben geführt hätten. Auch gibt es hier nach der für den Zuschauer (trotz der Bekanntheit von Catherine Frot) doch sehr subjektiven Sicht auf die verpatzte Prüfung keineswegs eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, nach und nach stellt sich heraus, daß die an einem Wendepunkt ihrer Karriere stehende Ariane weitaus verletzlicher (und somit auch sympathischer) ist als die nur selten in ihrem Mienenspiel die Abgründe andeutende Mélanie. Und mit Arianes Sohn Tristan, der etwa in dem Alter ist, in dem wir Mélanie am Anfang des Films kennenlernten (natürlich will auch er Pianist werden), gibt es ein weiteres, noch unschuldigeres potentielles “Opfer”, und wie der erfrischend kurze und geradlinige Film hier bis zuletzt die Balance hält und alle Möglichkeiten offenstehen lässt, ist etwas, was man bei Park und Tarantino, deren Dramaturgie oft von Leiche F zu G führt, völlig vermisst.
La tourneuse de pages sollte die Fans eher drastischer Filme durchaus bei der Stange halten, ohne die Anhänger subtiler, leiser Filmkunst zu verschrecken - Kurzum: ein Film, der jeden begeistern dürfte, auch wenn der schlichte Titel natürlich nicht die Werbewirksamkeit eines Kill Bill hat.
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