Anzeige: |
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |
1. März 2009 | Thomas Vorwerk und Daniel Walther für satt.org | ||||||
|
60:
|
Hauptpreisträger der Berlinale 2009, Teil 1: Goldener Bär für den Besten Film:
|
Gigante gewann nicht den Hauptpreis, den goldenen Bären, aber wie während der Preisverleihung der Regisseur immer wieder auf die Bühne gerufen wurde, um den Preis fürs beste Erstlingswerk, den Alfred-Bauer-Preis und schließlich auch noch den "Großen Preis der Jury" entgegenzunehmen (spätestens beim dritten mal fehlten ihm wirklich die Worte), das machte Gigante zum großen Gewinner dieser Berlinale, für den ich am letzten Tag tatsächlich auch noch zu später Stunde zur Urania fuhr und mit sechs Filmen anderthalb bis dreimal soviel wie an jedem anderen Tag dieser Berlinale sah.
Und es hat sich gelohnt.
Gigante ist ein kleiner, ungemein sympathischer Film. Jara (Horacio Camandule), ein stämmiger Sicherheitsangestellter eines Supermarkts, verbringt die Nächte zumeist an seinen Monitoren, mit denen er den Markt überwacht, in dem nachts natürlich fast nur Putzfrauen unterwegs sind. Jara wirkt zunächst auch etwas bedrohlich mit seinen schwarzen T-Shirts (Biohazard, Motörhead) oder einem Totenschädel als Tattoo, doch für den Zuschauer wird schnell klar, dass Jara (die Kollegen verniedlichen seinen Namen als Jarita, nehmen ihn nicht für voll) ein herzensguter und einsamer Mensch ist.
Auf einem seiner Monitore fällt ihm eine der Putzfrauen auf, feingliedrig und sicher zehn Jahre jünger als er, aber irgendwie auch etwas ungeschickt. Als ein Vorarbeiter, der Julia schon einmal verwarnt hatte, weil sie eine Produktpyramide umstieß, sich in ihre Richtung bewegt, als sie gerade etwas zerschmissen hat, greift Jara ein und lässt den Vorarbeiter über Lautsprecher ausrufen - auf den Parkplatz, wo natürlich bei seinem Eintreffen weniger als nichts los ist. Fortan versucht der schüchterne Jara Kontakt aufzunehmen, was sich aber eher in ein ausgeprägtes Stalking entwickelt (als sie ihren "Labello" verliert, sammelt Jara diesen natürlich auf und behütet ihn fortan wie einen Schatz). Julia, die nicht nur beim Wischen, sondern fast immer mit Kopfhörern unterwegs ist, wird fortan in der Bushaltestelle oder im Internetcafé von Jara beobachtet, er beäugt argwöhnisch und eifersüchtig die Kontaktaufnahme eines Kollegen oder verteidigt in einer vom Timing her wahrlich großartigen Szene auch mal Julias Ehre, wenn sie von einem Taxifahrer unfein angequatscht wird, die Kamera sie weiter verfolgt, man als Zuschauer fast subliminal ein leises Hupen vernimmt und erst beim Schnitt zu Jara zurück sieht, wie dieser gerade den Kopf des Taxifahrers unsanft auf dessen Lenkrad heruntersausen lässt.
Wenn Jara bei seinem Nebenjob als Türsteher in einem Club namens Molotiv eine Chance hätte, Julia ganz harmlos kennenzulernen, versteckt er sich lieber, der Film ist eine immens humorvolle Beobachtung dieser Person, bei der alle Möglichkeiten, zutiefst filmische Themen wie Verfolgung oder Überwachung inszenatorisch umzusetzen, dankbar aufgegriffen werden.
Einmal verfolgt Jara seine Angebetete in ein Kino, weiß aber nicht, welchen von zwei Filmen sie besucht. Einer heißt "Amor" und ist offenbar eine typische romantische Komödie, doch erst, als Jara ein zweites Ticket löst, findet er sie in einem an Hulk erinnernden Film namens "Mutant" wieder, was sicher ein gutes Omen ist. Als sich dann auch noch herausstellt, dass Julia auf ihrem Kopfhörer die ganze Zeit Heavy Metal hört, es also tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen den beiden gibt und nicht nur eine einseitige Obsession, ahnt man, dass auch Gigante (die Ähnlichkeit zum Titel "Mutant" ist offensichtlich) wie eine Romantic Comedy enden könnte. Ob dies aber wirklich geschieht, wird an dieser Stelle nicht verraten ...
[Rezension von Thomas Vorwerk]
Int. Titel: It's Not Me, I Swear!, Dt. Titel: Ich schwör’s, ich war’s nicht !, Kanada 2008, Buch: Philippe Falardeau, Lit. Vorlage: Bruno Hébert, Kamera: André Turpin, Schnitt: Frédérique Broos, Musik: Patrick Watson, Production Design: Jean-François Campeau, Art Direction: Claude Tremblay, Kostüme: Francesca Chamberland, mit Antoine L'Écuyer (Léon Doré), Catherine Faucher (Léa), Suzanne Clément (Madeleine Doré), Daniel Brière (Philippe Doré), Gabriel Maillé (Jérôme Doré), Jules Philip (Mr. Marinier), Micheline Bernard (Mrs. Brisebois), Jean Maheux (Bishop Charlebois), Denis Gravereaux (Monsieur Pouchonnaud), Catherine Proulx-Lemay (Friend of Madeleine), Evelyne Rompré (Madame Chavagnac), Pascale Desrochers (Woman from the red house), Bruno Marcil (Bowling champion), 105 Min.
Gläserne Bären etc.: Ausgezeichnete Kinderfilme: Preise der Generation Kplus Kinderjury: Gläserner Bär für den besten Spielfilm:
Gläserner Bär für den besten Spielfilm:
Großer Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes
|
Noch stärker als bei dem anderen mehrfach ausgezeichneten Film aus der Sektion Generation Kplus, Flickan, fragt sich der erwachsene Betrachter oft, inwiefern die Hauptfigur dieses Film bei kindlichen Betrachtern verheerende Auswirkungen verursachen könnte. Leon weist die Annahme, er könne ein "normales" Kind sein, bereits mit dem ersten Offkommentar des Films weit von sich, und rät, dass manche Ärzte sich ein Erschießungskommando zulegen sollen, und wenn wir den Held des Films dann erblicken, hat er sich gerade "unabsichtlich" erhängt und muss von seiner Mutter gerettet werden. Das Arrangieren von Selbstmordversuchen scheint auch eine von Leons Lieblingsbeschäftigungen sein, denn er spielt mit seinen Legosteinen am liebsten auf der Strasse oder versteckt sich auch mal in der Gefriertruhe.
Sein Vater ist laut Leon der genaue Gegenentwurf zu ihm (weshalb die Beziehung auch etwas unterkühlt ist): "Er lügt nie, er ist perfekt; Er ist Anwalt. Nur, wenn er böse wird, ist er fast normal." Mit seiner Mutter versteht sich Leon sehr viel besser. Sie erklärt ihm die wichtigen Dinge im Leben: "If you're lying, keep the story straight. Lying is bad, but bad lying is worse." Sie deckt Leon, wenn die ewig nörgelnde Nachbarin mal wieder behauptet, er hätte rohe Eier auf ihr Dach geworfen. Und wenn diese gerade nicht schaut, wirft sie auch mal selbst eines drauf.
Daran, dass seine Eltern sich öfter streiten, hat Leon sich vielleicht nicht direkt gewöhnt, aber er kennt sich mit Gegenmaßnahmen aus: "Es kommt vor, dass ich an einem strategischen Ort Feuer lege." Als die psychisch angeschlagene Mutter sich gen Griechenland verabschiedet, wird für Leon noch alles schlimmer, sein Vater setzt sogar einen Geistlichen ein (mit geringem Erfolg), und Leons Schelmenstücke werden immer dreister. Als etwa der andere (irgendwie an Ned Flanders erinnernde) Nachbar mit Familie zum Zelten wegfährt, bricht Leon in dessen Haus ein, verschmiert alles mit Schokoladeneis, pinkelt auf die Nerzmäntel oder bricht das historische Cembalo auf (auf dem er dann erstaunlich gut spielt). In Léa, einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft, findet Leon schließlich eine Komplizin, und wie der Film mal wie nebenbei zeigt, dass Léa lauter blaue Stellen am Arm hat, ist bezeichnend für die Erzählweise des Films.
Leon macht all die Dinge, von denen man seine Kinder fernhalten will: Lügen, stehlen, einbrechen, Vandalismus, Selbstmordversuche oder auch mal zur Verschleierung eines Streichs ein scharfes Messer ins Schlüsselbein jagen (und dann zur "Belohnung" ein neues Fahrrad bekommen, so dass Leons älterer Bruder vor Neid fast durchdreht). Für Zuschauer jeden Alters ist dieser Film eine großartige Unterhaltung, und auch wenn Leon in der Annäherung an Léa ein erstaunliches Feingefühl an den Tag legt, gibt es in C'est pas moi, je le jure! einfach Szenen, bei denen es einen angesichts der (un)pädagogischen Funktion einfach schüttelt, weil trotz eines gehörigen Realismus einige Gefahren einfach völlig unterschlagen werden. So etwa, wenn Leon und Léa eine Glastür zerschlagen (während sie davor hocken oder sitzen), und das Filmglas ohne die geringsten Konsequenzen sozusagen auf sie niederregnet. Bei dieser Szene konnte ich mir eine kindliche Imitation sehr gut vorstellen, und ein gewisser bitterer Nachgeschmack stellte sich völlig unabhängig von der filmischen Qualität ein. Aber dass die Filme der Sektion "Generation" überdurchschnittlich gut, aber nicht immer wirklich für Kinder geeignet sind, ist ein Trend, den man schon seit Jahren beobachten kann, und als kinderloser Erwachsener kann man darüber relativ einfach hinwegsehen.
[Rezension von Thomas Vorwerk]
Deutschland 2008, Buch: Anna Deutsch, Kamera: Mark Dölling, Schnitt: Anna Deutsch, Mark Dölling, mit Gitti, 35 Min.
Preise der unabhängigen Jurys, Teil 1: Teddy Awards
|
Einen höchst amüsanten Blick auf Liebe im Rentenalter wirft der Dokumentarfilm Gitti von Anna Deutsch mit der gleichnamigen Hauptakteurin. Der Film begleitet sie bei der Partnersuche und gibt ihr darüber hinaus die Möglichkeit, ihren Gedanken ein Forum zu geben, was ihr auf äußerst sympathische Weise gelingt.
Gitti ist das, was wohl am ehesten als Berliner Original bezeichnet werden kann. In Berlin-Pankow lebend, lässt sie uns vordergründig an ihrer Suche nach einem Mann für den späten Lebensabend teilhaben, aber darüber hinaus erzählt sie von ihrem Leben und philosophiert ein wenig über die Liebe und das Alter. Zu Beginn sehen wir sie aus der dominanten Perspektive, die sie frontal auf der Couch zeigt, sie telefoniert und gibt gerade ihren Anzeigentext und ihre Partnerwünsche durch. Bereits hier zeigt sich das direkte Wesen von Gitti eindrucksvoll. Schnell lässt sich ausmachen, dass sie eine ehrliche Haut ist und sich nach einem Leben voller Arbeit nur nach ihrem bisschen persönlichem Glück sehnt. So erzählt sie aus der zweiten vorherrschenden Kamera-Perspektive, welche sie in der Küche neben dem Herd sitzend zeigt, von ihrem Glück/Unglück mit den bisherigen Ehemännern. Mit kompromissloser Ehrlichkeit diskutiert Sie im Folgenden mit ihren zwei Freundinnen über Männer und deren Vorzüge, beziehungsweise welche denn noch erwünscht sind. Im Zuge dieses Gesprächs macht Gitti auch deutlich klar, dass es im Alter auch um mehr geht als nur Händchenhalten und spazieren gehen als sie den Satz „Ick will doch noch eenen der noch kann!“ rausschmettert und die drei Damen von der Couch sich vor Lachen kaum noch halten können. Zum dezenten Running Gag entwickelt sich im Laufe des Films der Umstand, dass sie immer an Polizisten geraten ist und als sie sich am Telefon mit einem interessierten Mann verabreden will, stellt sich ebenfalls wieder heraus, dass er Polizist war und da verschlägt es, einmalig in dem Film, auch Gitti kurz die Sprache. Mit einigen Männern verabredet Sie sich und empfängt sie bei sich zuhause. Natürlich baut sich in diesen Momenten Spannung auf, wenn sie beispielsweise an der Tür wartet und auch der Zuschauer sich fragt, was für ein Typ da jetzt gerade die Treppe hochkommt. Wir fiebern regelrecht mit ihr mit, denn dadurch, dass die Filmemacher Gitti in den Mittelpunkt setzten und aufgrund ihrer Persönlichkeit baut sich schnell ein Gefühl von Emphatie auf. So sind wir ebenso nervös wie Gitti, die an ihrem Pullover herumnestelt und sich beim bereits erwähnten Warten immer wieder im Spiegel überprüft, ob den alles noch am richtigen Platz sitzt. Urkomisch sind im Folgenden dann die zwischen Verkrampfung und Hoffnung angelegten Bewerbungsgespräche, wenn zum Beispiel Gitti in ihrer ihr eigenen direkten Art einem Bewerber lustvoll auf den Oberschenkel haut und ein „Na kiekn wa mal wat did mit uns wird“ hinterherschickt.
Es ist der Lockerheit von Gitti vor der Kamera geschuldet, dass der Film äußert gelungen ist, das "Casting" ist sozusagen der große Clou, der den Filmemachern gelang. Der Film steht und fällt mit ihr, denn der (erkennbare) technische Aufwand wie die Kameraführung ist eher gering. Aber gleichsam sehr interessant ist, dass dadurch, dass wir uns auch nur in Gittis Wohnung aufhalten, sich eine Nähe zur Hauptakteurin aufbaut, welche in anderen Dokumentationen oft nicht erreicht wird, und es somit erkennbar ist, dass zwischen Gitti und dem Filmteam eine Harmonie herrschte und es ihnen möglich war sie entspannt agieren zu lassen. Denn sonst wäre nicht dieser hervorragende witzige menschliche Kurzdokumentarfilm entstanden.
[Rezension von Daniel Walther]
USA 2009, Buch: Oren Moverman, Alessandro Camon, Kamera: Bobby Bukowski, Schnitt: Alexander Hall, Musik: Nathan Larson, mit Ben Foster (Will Montgomery), Woody Harrelson (Anthony "Tony" Stone), Samantha Morton (Olivia Pitterson), Jena Malone (Kelly), Steve Buscemi (Dale Martin), Eamonn Walker (Colonel Stuart Dorsett), 105 Min.
Hauptpreisträger der Berlinale 2009, Teil 2: Silberner Bär - Beste Darstellerin:
|
Ben Foster ist ein Schauspieler, der oft übersehen wird. Er spielt oft Schurken und / oder Nebenrollen wie in Hostage, 3:10 to Yuma, 30 Days of Night oder 11:14, eine seiner wirklich im Gedächtnis bleibenden Rollen war etwa der von Piercings überzogene Dave in The Punisher, doch hierbei ist es ähnlich wie bei seiner Rolle als "Angel" im dritten X-Men-Film: Man erinnert sich wahrscheinlich eher an die Flügel als an das eindrucksvolle Gesicht des Darstellers.
Mit der Independent-Produktion The Messenger hat Ben Foster nun eine veritable Hauptrolle erhalten, und er meistert diese Aufgabe mit Bravour. Nach einer Kriegsverletzung soll Will Montgomery den Rest seiner Dienstzeit als Teil eines "casualty notification teams" (gut, dass die US-Amerikaner für alles, was unerfreulich ist, solche Euphemismen bereitliegen haben) arbeiten, als Modellsoldat und Held, der sogar eine Narbe mitten im Gesicht fortgetragen hat, ist er wohl prädestiniert für diese Aufgabe. Sein ihm vorgestellter Kollege Tony (Woody Harrelson, ebenfalls in Bestform) erklärt ihm die Regeln ("Men don't ask for directions. Much less soldiers."), gibt aber im selben Atemzug zu bedenken, dass man sich auf diese Regeln nicht verlassen kann, der Job erfordert einerseits formelle Zurückhaltung, aber anderseits viel Feingefühl, das Betreten der Wohnung eines Angehörigen eines verstorbenen Soldaten, den man über diesen Umstand informieren soll, wird oft auch wie das Eindringen in Feindesland inszeniert, denn natürlich entlädt sich die Emotionswucht der Hinterbliebenen oft auf den Messenger.
Als Will sich für eine Witwe (Samantha Morton) etwas mehr interessiert und sich zum Stalker zu entwickeln droht, bekommt der Film eine andere Richtung, die aber zu einem ebenso befriedigenden Resultat führt.
Dass The Messenger auf der Berlinale für das Drehbuch ausgezeichnet wurde, liegt sicher an den großartigen Dialogen. Das Thema des Film wird aber auch nicht geschadet haben. Dass das Drehbuch aber seine Prämisse und insbesondere die Beispiele für die Ausführung der Jobs der "Messengers" so abarbeitet, dass man als Zuschauer geradezu mitkalkulieren kann, welche weiteren Konstellationen noch zu erwarten sind ("It could be worse. It could be Christmas."), zählt nicht zu den Stärken des Buchs. Dass die von Samantha Morton gespielte Witwe nicht nur ein Kind hat, sondern dieses offenbar einen farbigen Vater hatte, ist diese Art von Alibi-Funktion (zum ersten Mal hörte ich diesen Begriff, als Morgan Freeman als einer von Robin Hoods "merry men" in Robin Hood - Prince of Thieves von 1991 auftauchte), von allzu kalkulierter Stoffentwicklung am Reissbrett, die das Vergnügen an diesem Film geringfügig schmälert. Man kein ein Juwel solange schleifen, bis es immer kleiner wird.
[Rezension von Thomas Vorwerk]
Int. Titel: Nord, Norwegen 2009, Buch: Erlend Loe, Kamera: Phillip Øgaard, Schnitt: Zaklina Stojcevska, Ausstattung: Hege Pålsrud, Musik: Olaf Kvernberg Kostüm: Emina Mahmuljin, Anders Baasmo Christiansen (Jormar Henriksen), Kyrre Hellum (Lasse), Marte Aunemo (Lotte), Mads Sjørgård Pettersen (Ulrik), Lars Olsen (Ailo), Astrid Solhaug (Mari), Even Vesterhus (Thomas), 78 Min.
Preise der unabhängigen Jurys, Teil 2: Preise der Ökumenischen Jury
|
Eigentlich möchte Jomar (Anders Baasmo Christiansen) nur seine Ruhe haben und einen trinken, aber trotzdem begibt er sich auf eine lange und beschwerliche Reise mit seinem Schneemobil und einem Fünf-Liter-Kanister Alkohol. In seiner Lethargie und Depression verhaftet erwacht Jomar plötzlich. Früher war er einmal ein aufstrebender Nachwuchs-Skistar mit einer hoffnungsvollen Zukunft. Doch er hat sich vom Leistungssport abgewendet und hatte dazu einen Nervenzusammenbruch. Nach einem Klinik-Aufenthalt findet er in einem Ski-Park als Pisten-Wärter und “Mädchen für alles” die vermeintliche Ruhe und Abgeschiedenheit, ohne seine Arbeit dabei allzu ernst zu nehmen. Obwohl er vermeintlich wieder den Weg zurück ins gesellschaftliche Leben gefunden hat, wird doch in einer Szene zu Beginn deutlich, dass sich Jomar wahrscheinlich am wohlsten im vertrauten Umfeld der Klinik fühlt. Als Jomar dort vorbeischaut, geht er mit den Patienten, die er noch kennt, vertraut um, und ist auch gleich wieder siegreich an der Tischtennis-Platte. Jedoch gerät alles ins Wanken, als er erfährt, dass er möglicherweise der Vater eines kleinen Jungen oben im Norden sein könnte. Nachdem er aus Versehen sein Haus abfackelt, bricht er in Richtung Norden auf, um seinen Sohn zu finden.
Nach diesem kurzem Vorlauf begleiten wir Jomar auf seiner Reise in diesem melancholisch-komischen Road Movie durch norwegische Schneelandschaften. In vielen weiten Einstellungen wird Jomar auf seiner Reise gezeigt inmitten der Schneewüste und damit wird bildhaft auf sein Innenleben angespielt. Jede andere betrübte Seele, die er auf seiner Reise trifft, kämpft ebenfalls mit ihren eigenen Problemen. Als erstes begegnet er der zwölfjährigen Lotte (Marte Aunemo), die mit ihrer Oma im Nirgendwo lebt und sich langweilt. Unglücklicherweise hatte Jomar beim Rasen durch den Schnee keine Skibrille auf, was dazu führt, dass er schneeblind wird und somit nicht nur auf einen Schlafplatz angewiesen ist, sondern des Weiteren auch noch bedient werden muss. So quartiert er sich bei den beiden in eine Kammer in Lottes Zimmer ein und mit viel Ruhe, Zigaretten und etwas Schnaps gelingt es ihm sich zu erholen. Lotte begrüßt die Abwechslung ihres tristen Alltags. Mit ein wenig Wehmut verlässt Jomar, wieder mit voller Sehkraft ausgestattet, die beiden und macht sich daran, durch die karge Landschaft zu brausen. Leider wird seine Reise unvorhergesehen durch einen Motorschaden unterbrochen, doch glücklicherweise kommt der junge Ulrik (Mads Sjørgård Pettersen) vorbei und schleppt ihn ab. Mit dem homophoben jungen Mann unterzieht er sich einer recht eigenwilligen Trinkmethode bei der sich beide am Ende mit einem in Wodka getränkten Tampon um den Kopf geschnallt gegenüber sitzen und dicht bis oben hin die Nacht durchzechen. Da sein Skimobil nicht zu reparieren ist, muss Jomar gezwungener Maßen auf die ungeliebten Skier umsteigen. Nachdem er bis dahin ein junges Mädchen und einen jungen Mann getroffen hat, begegnet er folgerichtig als letztes vor seinem Ziel einem alten Mann. Mitten auf einem tiefgefrorenen See hat Ailo (Lars Olsen) seinen Wigwam aufgebaut. So kurz vor dem Ziel bekommt Jomar noch einmal Angst vor der eigenen Courage und verfällt in seine alten Muster depressiver Lethargie. Aus eben dieser wird er gerissen, als Ailo plötzlich freiwillig aus dem Leben scheidet. Der See beginnt zu schmelzen und Jomar bringt seine Reise zu einem Ende.
Immer wieder versteht es Rune Denstad Langlo, mit ausgefallen skurrilen Ideen dieses tragikomische Road Movie voranzutreiben und der alten Binsenweisheit “Der Weg ist das Ziel” neue Glaubwürdigkeit einzuhauchen. Ermöglicht wird das Ganze natürlich durch ausgezeichnete Darsteller, allen voran Anders Baasmo Christiansen. Besonders gelungen ist darüber hinaus der dramaturgische Aufbau des Ganzen. Wenn Jomar und Lotte aufgrund seiner Schneeblindheit im abgedunkelten Raum sich öffnen und er feststellt, dass auch andere einsam sind. Mit der altersmäßigen Staffelung (Mädchen, junger Mann, alter Mann) bekommen die verschiedenen Reisestationen reflektierenden Charakter, einmal in die Vergangenheit als er noch jung war, wenn er Lotte und Ulrik trifft, andererseits in die Zukunft (Ailo). Jomar steht somit zwischen dieser Vergangenheit und Zukunft. Ohne große Geistesblitze der Erkenntnis überdeutlich darzustellen werden somit die Veränderungen bei Jomar nachvollziehbar gemacht. Allein schon durch das Setting einer Eiswüste ist die Stimmung des Films eher ruhig und melancholisch, nur um dann umso intensiver mit lauten und komischen Szenen kleine Highlights einzubauen. So zum Beispiel, als er sich aus Versehen auf militärisches Übungsgelände verirrt und auf seinen Skiern einem Panzer gegenübersteht. Der Kontakt zwischen den Menschen und wie dieser zustande kommen kann sind zentrale Themen. Es ist erfrischend, wie Denstad Langlo eine Aufbruchstimmung bzw. einen optimistischen Blick erzeugt, ohne dabei in den Kitsch abzurutschen. Ein sehr gelungener Film, der aufgrund seiner harmonischen Mischung von Tragik und Komik absolut überzeugt.
[Rezension von Daniel Walther]
satt.org | Literatur | Comic | Film | Musik | Kunst | Gesellschaft | Freizeit | SUKULTUR |