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13. November 2009
Thomas Vorwerk
für satt.org


Realismus reflektieren
Retrospektive Jean-Pierre und Luc Dardenne
Arsenal Berlin, 15. - 30. November 2009

  Arsenal forever!Auszug aus dem Programm der Retrospektive:
  • Sonntag, 15.11., 19 Uhr 30: Eröffnung in Anwesenheit der Brüder Dardenne mit Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la prémiere fois (1979) und La promesse (1996)
  • Montag, 16.11., 20 Uhr 30 & Dienstag, 24.11., 19 Uhr 30: Je pense à vous (1992)
  • Dienstag, 17.11., 21 Uhr & Mittwoch, 25. 11., 20 Uhr 30: Falsch (1986)
  • Mittwoch, 18.11., 20 Uhr: Revolver Live! Werkstattgespräch mit den Brüdern Dardenne. Moderation: Jens Börner & Nicolas Wackerbarth
  • Donnerstag, 19.11., 20 Uhr & Samstag, 28.11., 19 Uhr 30: Rosetta (1999)
  • Freitag, 20.11., 20 Uhr & Sonntag, 29.11., 19 Uhr 30: Le fils (2002)
  • Samstag, 21.11., 20 Uhr & Freitag, 27.11., 19 Uhr 30: L’enfant (2005)
  • Sonntag, 22.11., 20 Uhr & Montag, 30.11., 20 Uhr: Le silence de Lorna (2008)
  • Montag, 23.11., 20 Uhr 30: La promesse (1996)

  • weitere Informationen ...
Bei den letztgenannten fünf Filmen ist jeweils die erste Vorführung mit englischen Untertiteln (und einem kurzen Vorfilm) und die Wiederholung mit deutschen Untertiteln

Im Gegensatz zu vielen Kritikerkollegen neige ich nicht zu unnötigen Superlativen, aber bei der Vorbereitung der Texte zur Retrospektive der Brüder Dardenne ist mir aufgefallen, dass es nur sehr vereinzelt Regisseure gibt, die wie die beiden in den letzten zehn Jahren recht fleißig Filme realisiert haben, die eine auch nur ähnliche qualitative Kontinuität zeigen. Ich habe die Karriere der Brüder seit Rosetta verfolgt, und auch wenn sie seitdem eine Tendenz zu ähnlichen inszenatorischen Mitteln zeigen (die aber das Weltkino durchaus beeinflusst haben), so empfand ich die Filme mit ähnlich politisch-thematischer Ausprägung und dem obligatorisch jedes Mal zumindest in einer kleinen Rolle auftauchenden Olivier Gourmet nie als Wiederholung oder Enttäuschung, sondern die Geschichten wurden immer komplexer und blieben trotz der wiederkehrenden sozialen Komponente (die in vielen Filmen heutzutage leider komplett ausgespart wird) unvorhersehbar und spannend. Nach dem ganz auf die Titelfigur fokussierten Rosetta folgten mit Le fils und L’enfant zwei Filme, die titelmäßig fast synonym sind, aber zwei sehr unterschiedliche Beziehungen zwischen zwei bzw. zweieinhalb Personen zeigen. Und bei Le silence de Lorna gibt es zwar wieder eine eindeutige Hauptfigur, doch die Verstrickungen des Plots waren für mich im Werk der Dardennes die bisher komplexesten. Wie in diese Entwicklung ihr kurz vor Rosetta entstandener Film La promesse hineinpasst, kann man in der Kritik dazu weiter unten nachlesen.

Während diese fünf Filme alle einen regulären deutschen Kinostart hatten (wenn auch zunächst beim Berliner Verleih Peripher mit sehr eingeschränkter Kopienzahl), kann man in der Retrospektive im Arsenal auch Filme aus der Zeit vor 1996 sehen - und die Dardennes drehen bereits seit den Siebziger Jahren Filme. Für die zumindest im Ansatz immer dokumentarischen Videoarbeiten werde ich exemplarisch Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la prémiere fois vorstellen, und die Theateradaption Falsch (ebenfalls mit eigener Kritik) wirkt wie ein schwer zu verordnendes missing link oder besser ein Puzzleteil, das nicht in die übrigbleibende Lücke passen will.

Lorsque le bateau de Léon M.
descendit la Meuse pour la prémiere fois
(Luc & Jean Pierre Dardenne)

Belgien 1979, Int. Titel: When the Boat of Léon M. Went Down the Meuse River for the First Time, Bild: Jean Pierre Dardenne, Ton: Luc Dardenne, mit Léon Masy, René Albert, Jean Coenen, Jeanine Collas, Georgette Culot, Jean Der Kenne, François Dessart, Edmond Guide, François Lothist, Cathy Motte, Laurent Nizet, Lucien Perpette, Jeanne Princens, Cornelis Trenhens, François Van Swain, Martin Warnand, 44 Min.

  Lorsque le bateau de Léon M. descendit la Meuse pour la prémiere fois (Luc & Jean Pierre Dardenne)
Foto © Dérives.WBI

In der aus dem Fernsehen übernommenen Präsentation dieses Films stellen die Brüder Dardenne selbst ihren Film vor, und erklären dabei im Grunde das komplette Prinzip dahinter. Léon Masy, Anfang der 1960er als militanter Linker involviert beim blutig niedergeschlagenen Streik der Metallarbeiter in der Region, aus der auch die Brüder stammen, baut zwanzig Jahre später mithilfe seiner erlernten Stahlarbeiter-Fähigkeiten ein Boot, und während er die Maas entlangschippert, wird über Archivmaterial und Zeitzeugen die Geschichte des Generalstreiks rekonstruiert, und gleichzeitig darüber philosophiert, inwiefern Léon hier nur die Geschichte erneut durchlebt, oder man die Chance hat, der Vergangenheit zu entkommen.

Schon bei den Einstellungen, die Léon beim Bau des Bootes zeigen, nutzen die Dardennes das Medium Video fast avantgardistisch. Wiederkehrende Einstellungen lassen einen akustischen und visuellen Rhythmus entstehen, wie ich persönlich ihn noch Jahre später in dem Kurzfilm Touch-Screen (war der von Christoph Girardet?) als innovativ empfand. Als wenn man die propagandistischen Methoden der Eisensteinschen Montagetheorie mit den Möglichkeiten zeitgenössischer Videokunst kombiniert.

Wie die “working class memory” im Archivmaterial evoziert wird, funktioniert mit ähnlichen Mitteln (wie der wiederholten Einstellung von drei mit Kameras bewaffneten Männern auf einem Balkon, die stellvertretend den Streik in Lüttich, Brüssel und anderen Städten “observieren”). Auch wenn die esoterischen, möchtegernphilosophischen Passagen des Films (“Was sagt der Fluß? Was sagt die Möwe? Wohin fährt das Schiff?”) nicht immer überzeugen, blitzt in dieser Dreiviertelstunde Videoband bereits mehrfach die Genialität der Brüder auf. So etwa, wenn man nach Archivmaterial über Sabotage an Bahngleisen erneut einen Zeitzeugen vor dem entsprechenden Hintergrund sieht, doch diesmal mit Kapuzenjacke gekleidet und der Kamera abgekehrt.

Falsch (Jean-Pierre & Luc Dardenne)

Belgien 1986, Buch: Luc & Jean-Pierre Dardenne, Lit. Vorlage: René Kalisky, Kamera: Walther Vanden Ende, Yves Vandermeeren, Schnitt: Denise Vindevogel, Musik: Jean-Marie Billy, Jan Franssen, Arnold Schönberg, mit Bruno Cremer (Joseph “Joe” Falsch), Jacqueline Bollen (Lili), Christian Maillet (Jacob), Bérangère Dautun (Rachel), Nicole Colchat (Mina), John Dobrynine (Georg), Christian Crahay (Gustav), François Sikivie (Oscar), Marie-Rose Roland (Daniella), Jean Mallamaci (Benjamin), Gisèle Oudart (Natalia), André Lenaertz (Ruben), Milie Dardenne (Bela), 88 Min.

  Falsch (Jean-Pierre & Luc Dardenne)
Foto © Christine Plenus.WBI

Die kurze Zusammenfassung zu Falsch im Flyer zur Retrospektive habe ich erst nach der Sichtung des Films gelesen, und deshalb brauchte ich auch einige Zeit, bis ich das Prinzip des hier verfilmten experimentellen Theaterstücks von René Kalisky verstand. Von Anfang an wirkt das Setting irgendwie irreal, die nächtliche (und womöglich stillgelegte) Ankunftshalle eines Flughafens, in der ein junger Mann auf Rollschuhen umherfährt, ein anderer als Diskjockey zu fungieren scheint und ein dritter in Blackface-Aufmachung schließlich sogar einen Song von Al Jolson zum Besten gibt.

Einerseits wirkt alles sehr theatralisch, doch andererseits gibt es auch immens filmische Momente. Das immer wieder vorgeführte Flugzeug, mit dem Joe Falsch zur Gruppe hinzustößt, erinnert an die Abschlussszene von Casablanca, nur scheint der Film hier die Geschichte jenes Filmklassikers rückwärts zu erzählen. Auch in Falsch geht es um Personen, die im zweiten Weltkrieg flüchten wollten (allerdings aus Berlin), und wie bei Casablanca gibt es jene, die die Flucht schaffen, und jene, die zurückbleiben müssen und entweder dort sterben oder sich unterschiedlich arrangieren (wie auch die Geflüchteten ihr folgendes Leben ganz unterschiedlich gestalten).

Ob das Folgende ein Spoiler ist oder eine notwendige Hilfe, um den Film von Anfang an zu verstehen, mag ich nicht entscheiden.

Die Ankunftshalle des Flughafens ist ein Zustand jenseits von Leben und Tod, und die Mitglieder der jüdischen Familie Falsch treffen sich hier wieder. Der zuletzt verstorbene Joe trifft auf den Rest der Familie, und jeder ist so jung oder alt wie im Augenblick des Todes. Eine “moderne Version des Totentanzes”, wie es schon 1987 im Forumskatalog hieß. Die von einem kleinen Mädchen namens Milie Dardenne gespielte Bela wird dadurch von einem Hoffnungsträger zu einem der tragischsten Opfer innerhalb der Familie (mich erinnerte sie auch ein wenig an Kirsten Dunst in Interview with a Vampire und das Mädchen im Umhang in Roegs Don’t Look Now). Und spätestens in der zweiten Hälfte des Films geht es um Familiengeheimnisse und Vorwürfe. Die in alle Winde verstreuten Familienmitglieder haben sich teilweise einiges vorgemacht über die später allein oder in Paaren verlebte Zeit, doch Joe weiß über einiges Bescheid und es folgt ein rücksichtsloser Schlagabtausch, bei der auch Joes Liebe aus Kriegszeiten, die Deutsche Lili ihr Fett wegbekommt, aber die Täter-Opfer-Verteilung, wie man sie aus (beispielsweise) Casablanca kennt, keinesfalls greift.

In der Filmographie der Dardennes ist Falsch ein Fremdkörper, der dadurch umso interessanter wirkt. Das behandelte Thema ist zwar inzwischen etwas abgearbeitet (in der deutschen Kultur sicher mehr als in der belgischen), aber die Prämisse des Stücks ist auch heute noch interessant. Und der Aha-Moment des Films drehte für mich die gesamte Erfahrung im Kinosessel um 180 Grad herum.

La Promesse (Luc & Jean-Pierre Dardenne)

Dt. Titel: Das Versprechen, Belgien / Frankreich / Luxemburg 1996, Buch: Jean-Pierre & Luc Dardenne, Kamera: Alain Marcoen, Benoit Dervaux, Schnitt: Marie-Hélène Dozo, Musik: Jean-Marie Billy, Denis M’Punga, mit Jérémie Renier (Igor), Olivier Gourmet (Roger), Assita Ouedraogo (Assita), Rasmané Ouedraogo (Hamid), 93 Min.

 
Fotos © Christine Plenus.WBI


Olivier Gourmet ist aus den Filmen der Brüder Dardenne nicht mehr wegzudenken, und Jérémie Renier ist sowas wie der Antoine Doinel der Brüder, die in La promesse, L’enfant und Le silence de Lorna zwar dizidiert unterschiedliche Rollen spielt, dessen Aufwachsen (und darstellerisches Reifen) in den Filmen der Brüder aber ähnlich dokumentiert wird wie bei Jean-Pierre Leaud in den Filmen Truffauts.

Igor (Renier) ist 15jähriger Auszubildender in einer Autowerkstatt, doch oft stärker eingespannt bei den Machenschaften seines Vaters Roger (Gourmet), der illegale Einwanderer als Schwarzarbeiter für das geplante gemeinsame Traumhaus nutzt, und ihnen den Verdienst dann größtenteils für überteuerte Miete im halbfertigen Haus und Gasflaschen fürs Heizen wieder abnimmt.

Der Film schildert zunächst Igors Probleme in der Werkstatt, und sein Herumtollen mit Gleichaltrigen und einem selbstgebastelten Gefährt. Doch schließlich verliert er seine Lehrstelle, und nach und nach auch den anderen Kontakt zur Außenwelt, denn der Junge interessiert sich für eine neue Mieterin, Assita (Assita Oeudraogo), die junge Frau des älteren Hamid, die mit einem gemeinsamen Baby aus Burkina Faso nach Belgien geschmuggelt wurden. Zunächst beobachtet er sie, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, doch als Hamid bei einer Kontrolle von einem Gerüst fällt, wird er hin- und hergerissen zwischen diversen Emotionen. Denn statt den schwerverletzten Hamid ins Krankenhaus zu bringen, was sämtliche Träume von Roger hätte auffliegen lassen, entscheidet er, dass Hamid vor den Augen der Kontrolleure versteckt werden muss, und als Hamid dabei verstirbt, wird er kurzerhand in einem Treppenabsatz mit einbetoniert. Während Roger mit diesem Totschlag durch unterlassene Hilfeleistung (um es mal nett zu formulieren) kaum Probleme zu haben scheint, leidet Igor unter Gewissensbissen. Auch, weil Hamid ihm kurz vor seinem Tod noch das Versprechen abgerungen hatte, für seine Frau und das Baby zu sorgen. Und so sieht Igor in Assita einerseits eine begehrenswerte Frau, andererseits eine Schutzbefohlene. Und dadurch gerät er auch in Konflikte mit seinem Vater, der natürlich gänzlich andere Motive hat.

Diese Zusammenfassung wird der Komplexität der Story nicht gerecht, und wer wie ich La promesse erst entdeckt, nachdem er (oder sie) die späteren Spielfilme der Dardennes kennengelernt hat, für den wird dieses frühe Werk den Kreis schließen, den ich zuvor für eine geradlinige Entwicklung hielt. Die Beziehung zwischen den Generationen wie in Le fils findet sich hier mit unterschiedlichen Vorzeichen wieder, die Rücksichtslosigkeit der Figuren aus Rosetta, L’enfant und Le silence de Lorna, die sich mit einem aufkeimenden Gewissen herumschlagen muss. Die Heimatstadt der Brüder, Seraing bei Lüttich, ist die Kulisse der frühen Filme (oft auch der ganz frühen, die ein deutsches Publikum bei dieser Retrospektive wahrscheinlich erstmals zu sehen bekommt), und die Probleme der Arbeiterschicht, der Immigranten bilden das Fundament. Wie die Dardennes aus diesen durchaus überschaubaren “Materialien” immer wieder in sich schlüssige, spannende und anrührende Filme zaubern, ist nicht nur in Europa, sondern weltweit beispielhaft.

Wer noch Lücken in der persönlichen Filmographie der Brüder schließen will, wird kaum eine bessere Gelegenheit bekommen, und die Beneidenswerten, die bisher noch gar nicht mit Jean-Piere und Luc Dardenne in Kontakt gekommen sind, sollten sich am besten diverse Abende der nächsten zwei Wochen freihalten.