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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




2. September 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 136:
Rebel Yell


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  Life (Anton Corbijn)


Life
(Anton Corbijn)

Kanada / Deutschland / Australien 2014, Buch: Luke Davies, Kamera: Charlotte Bruus Christensen, Schnitt: Nick Fenton, Musik: Owen Pallett, KostÅEe: Gersha Phillips, mit Robert Pattinson (Dennis Stock), Dane DeHaan (James Dean), Joel Edgerton (John Morris), Alessandra Mastronardi (Pier Angeli), Stella Schnabel (Norma), Ben Kingsley (Jack Warner), Kelly McCreary (Eartha Kitt), Ron White (Uncle Marcus), Kasey Lea (Markie), Peter Lucas (Nicholas Ray), Michael Therriault (Elia Kazan), Lauren Gallagher (Natalie Wood), John Blackwood (Raymond Massey), Emma Pedersen (John Morris's Secretary), Eva Fisher (Judy Garland), 111 Min., Kinostart: 24. September 2015

Vor 60 Jahren, am 30. September 1955, starb James Dean in einem Autounfall. Er hatte damals nicht einmal das Alter für den so exklusiven »Club 27« denn er war Jahrgang 1931, so wie seine heutzutage noch aktiven Schauspielerkollegen Robert Duvall, William Shatner oder Ian Holm. Nicht auszumalen, wenn er so viele Jahre wie diese gehabt hätte und nicht nur eine Hollywoodkarriere, die sich nur auf drei Hauptrollen beschränkt. Dennoch ist der Mythos um seinen frühen Tod vielleicht auch der Grund für seine langanhaltende Berühmtheit, denn er wurde die Stimme einer Generation und bleibt durch seine Filme ewig jung – selbst Menschen, deren Eltern noch nicht geboren waren, als James Dean schon begraben war, haben die Möglichkeit, sich mit ihm zu identifizieren. Auch, wenn sich dies durch die zeitliche Distanz vermutlich irgendwann ändern wird. Insbesondere, falls mal irgendein Schauspieler sein Erbe antreten sollte. Doch selbst bei River Phoenix oder Heath Ledger fehlt dazu noch eine Menge. In Sachen Legendenbildung waren die Umstände von Deans Leben vermutlich so etwas wie ein Lottogewinn. Außer natürlich für ihn selbst, der nichts davon hatte.

In seinem Spielfilmdebüt Control hat der als Fotograf und Videoclip-Regisseur bekannt gewordene Holländer Anton Corbijn das kurze Leben von Ian Curtis umrissen. Der Sänger von Joy Division war eine Art Idol des Regisseurs, dem er aber in seiner frühen Fotografen-Karriere schon recht nahe kam. Sein neuer Film Life hat zwar nicht diese autobiographische Verbindung, aber weil James Dean hier nur die zweite Hauptfigur ist und es um die fragile Freundschaft zum Fotografen Dennis Stock geht, zieht man zwangsläufig Parallelen zu Corbijn, der selbst einige Stars bei deren Karriere begleitet hat, dabei aber zumindest anfänglich eher im Hintergrund blieb.

Eine durch diese Begleitumstände bereits sehr ansprechende Prämisse entwickelt aber im Film nie die mögliche Faszination, und es ist schwer, auszumachen, woran das liegt. Die Schauspieler sind definitiv nicht schuld. Dane DeHaan (Chronicle, Harry Osbourne in The Amazing Spider-Man 2) ähnelt James Dean nicht nur sehr, in Mimik, Gestik und Stimme gelingt es dem jungen Darsteller, ein überzeugendes und im Ausschnitt des Films die Legende unterstützendes Porträt zu liefern. Ben Kingsley als Studiochef Jack Warner droht zwar in den parodistischen Bereich abzudriften, aber es macht Spaß, dem aktuell vielbeschäftigten Altstar zuzuschauen. Und selbst Robert Pattinson, der mich trotz Cosmopolis noch nicht ganz von seinem Talent hat überzeugen können, schlüpft in die Rolle des Fotografen und wirkt diesmal auch nicht ganz so arg wie ein schlimmer Poser.

Das Drehbuch stammt vom australischen Romancier Luke Davies, der auch schon Co-Autor der Adaption seines eigenen Romans Candy war – ein Film, der durchaus etwas von der kurzfristig hell auflodernden Flamme hatte, als die wir James Dean retrospektiv visualisieren. Man merkt aber irgendwie, dass die Geschichte damit kämpft, historische Authentizität mit einer überzeugenden Dramaturgie und dem Flair der Legendenbildung zu kombinieren – was irgendwie nicht wirklich »funzen« will.

Vielleicht war auch das Budget zu gering. Mir fiel es jedenfalls auf, dass man gleich zu Beginn mit einem zeitgenössischen Automobil und einer Neonreklame überdeutlich herauskehrt, wann der Film spielt – sich dann aber das Visuelle der Ära eher in den Hintergrund verabschiedet. Das hat zwar den Vorteil, dass man sich als Zuschauer mehr auf die Figuren konzentrieren kann, aber irgendwie hatte ich in dieser Hinsicht irgendwie mehr erwartet.

Das eigentliche Zentrum des Films ist ja ein Artikel nebst Fotostrecke für das Magazin »Life«, der für Dennis Stock fast existenzielle Bedeutung erreicht, weil seine journalistische Karriere ins Stocken gerät. Historisch gesehen steht der Artikel im Zentrum des (wegen Deans Tod) nur wenige Monate umfassenden Hype à la »A star is born«, und einige der Fotos errangen schnell ikonografischen Status. Aber im Endeffekt ist der Artikel – und damit der Background des Films – doch nur eine oberflächliche Standardnummer. Sicher, James Dean hat eine schwere Kindheit auf einer Farm hinter sich, man fühlt sich so, als bekomme man Einblicke in sein Leben, wenn er mit seinem kleinen Bruder zusammen »Classics Illustrated« liest … und parallel dazu zeigt Life auch noch das Leben im Rampenlicht, mit kleinen Kurzauftritten von Natalie Wood oder Eartha Kitt. Aber man hat das Gefühl, das vieles hier hochemotional und mitreißend sein soll – doch es bleibt irgendwie so hübsch akkurat, gediegen und handzahm. Wie ein paar Anekdoten, die wie hübsche Perlen aufgefädelt werden – aber nichts, was einem hochtrabenden Titel wie »Life« gerecht werden kann. Durchaus annehmbar, aber nichts wirklich besonderes – und somit irgendwie das Gegenstück zu James Dean. Und wenn es darum gegangen wäre, die Legendenbildung willentlich zu dekonstruieren, wäre das vermutlich noch interessanter geworden.

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  Private Revolutions – Jung, weiblich, ägyptisch (Alexandra Schneider)


Private Revolutions
Jung, weiblich, ägyptisch
(Alexandra Schneider)

Österreich 2014, Kamera: Sandra Merseburger, Alexandra Schneider, Musik: Julian Hruza, Fayrouz Karawaya, mit Amani Eltunsi, Fatema Abouzeid, Mary Gah Allah, Sharbat Abdullah, 98 Min. (TV-Fassung nur 52 Min.), Kinostart: 10. September 2015

»Jung, weiblich, ägyptisch« – dieser Zusatztitel verdeutlicht in seiner verzweifelten Anbiederung den Spagat zwischen den Wünschen der Filmemacherin Alexandra Schneider und der Realität des Filmemachens. Die Prämisse des Films, vier sehr unterschiedliche Frauen in der Zeit nach dem »arabischen Frühling« dokumentarisch durch Ägypten zu begleiten, ist durchaus interessant. Doch überzeugt der Film nicht annähernd so wie die Idee dahinter.

Die »fast zwei Jahre« (Alexandra Schneider) dauernden Dreharbeiten begannen im November 2011 und gingen bis Anfang März 2013. Als der Film dann 2014 auf den ersten Festivals aufgeführt wurde, war das Erzählte längst nicht mehr so aktuell, wie man es sich gewünscht hätte – und der deutsche Kinostart hat dann noch mal ein Jahr auf sich warten lassen. Beim Betrachten der prominent in den Vorspann-Credits aufgeführten Experten für »Farbbestimmung« und »Sounddesign« fragt man sich, ob ihre Kunstfertigkeiten dem Film so viel »Mehrwert« verschaffen konnten, wie er durch die verspielte Aktualität verloren hat. Um es vorwegzunehmen: die Antwort ist nein.

Die vier Frauen, die das kleine Team begleitet und immer mal wieder interviewt hat, sind nicht alle so »privat«, wie der Titel es suggeriert. Und wenn sie die Dokumentarkamera nicht vorwiegend zur Unterstützung der eigenen Vorhaben benutzen, sondern tatsächlich »begleitet« werden und wie die »Stimme des Volkes« wirken, funktioniert der Film am besten.

Etwa mit der Aktivistin Sharbat Abdullah, die mit ihrer »privaten« und kleinen Revolution immer wieder aneckt, nicht zuletzt bei ihrem Mann, der es nicht mag, wenn sie auf Demonstrationen geht. Dass die Ehe Probleme hat, wird schon ziemlich früh deutlich – auch, wenn man den Mann nicht so häufig zu Gesicht bekommt. Aber Kommentare wie »Wenn du gehst, nimm die Kinder mit. Falls du stirbst, sterben die Kinder mit dir. Dann habe ich meine Ruhe.« zeugen kaum von einer funktionierenden Ehe. Patriarchat hin oder her, da hakt doch etwas gewaltig. Und wenn so eine Frau weiterhin mit sanfter Macht für ihre Überzeugung kämpft – während die Nachbarn sie ausgrenzen, während ihr Sohn unter der Polizeigewalt leidet … das ist eine packende Geschichte, die einem Einblicke verschafft. Vaseline und Atemmasken als Standardrepertoire in der Handtasche – und als Souvenir bringt man einen Tränengas-Behälter mit nach Hause. Das klingt so alltäglich wie abenteuerlich – und das würde einen packenden Film abgeben.

Stattdessen verliert sich die Dramaturgie (trotz einer Beraterin und sechs Schnittassistenten) in den sehr unterschiedlichen Protagonisten, die sich zwar ab und zu an einem Wahltag (überproportional präsent) über den Weg laufen, aber eigentlich gänzlich unterschiedliche Wünsche und Probleme haben. Jede dieser Frauen hätte einen eigenen Dokumentarfilm verdient, und dann hätte man sie als Zuschauer auch besser kennenlernen können. Stattdessen bekommt man vieles nur am Rande mit, wo man gerne noch mal nachgefragt hätte (wobei ich zugeben muss, dass hier wohl auch ein Problem war, dass nicht jeder sich zu jedem Thema befragen lassen wollte – insbesondere die Männer erleben wir fast nur durch die Augen der vier Frauen).

Wem facettenartige Einblicke genügen, es gibt durchaus einige starke emotionale Momente im Film. Oder auch absurd wirkende Umstände wie eine 15minütige Präsentation für den Studienabschluss in Politikwissenschaften, von denen wir aber nur die überlange Danksagung zu beginn hören: »Ich danke Gott, meinem Vater, meiner Mutter […]« Man hat ein wenig das Gefühl, dass schon die den Prioritäten entsprechende Reihenfolge dieser Danksagung wichtiger ist als etwaige akademische Fertigkeiten oder Kenntnisse.

Aber für mich verkörpert der unfokussierte Rundumschlag mit dem wenig überzeugenden Epilog (der einen Ausblick verschaffen soll, aber dabei ziemlich scheitert) zwei vermeintliche »Errungenschaften« der Revolution (so wie es der Film vermittelt): Chaos und Frust. Da hätte ich mir tatsächlich lieber vier Filme angeschaut, angereichert mit Hintergrundinfos und hier und da mal einem Perspektivwechsel.

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  Der Staat gegen Fritz Bauer (Lars Kraume)


Der Staat gegen Fritz Bauer
(Lars Kraume)

Deutschland 2015, Buch: Lars Kraume, Olivier Guez, Kamera: Jens Harant, Schnitt: Barbara Gies, Musik: Julian Maas, Christoph M. Kaiser, Kostüme: Esther Walz, Szenenbild: Cora Pratz, mit Burghart Klaußner (Fritz Bauer), Ronald Zehrfeld (Karl Angermann), Jörg Schüttauf (Paul Gebhardt), Sebastian Blomberg (Ulrich Kreidler), Rüdiger Klink (Heinz Mahler, Bauers Chauffeur), Lilith Stnagenberg (Victoria), Götz Schubert (Georg-August Zinn), Michael Schenk (Adolf Eichmann), Laura Tonke (Fräulein Schütt), Cornelia Gröschel (Charlotte Angermann), Robert Atzorn (Charlottes Vater), Paulus Manker (Friedrich Morlach), Dani Levy (Chaim Cohn), Matthias Weidenhöfer (Zvi Aharoni), Stefan Gebelhoff (Willem Sassen), 105 Min., Kinostart: 1. Oktober 2015

Beginnen wir mit dem Positiven: Regisseur Lars Kraume und sein Co-Autor Olivier Guez (Autor des Buches Heimkehr der Unerwünschten – eine Geschichte der Juden nach 1945) haben eine komplexe Geschichte mit vielen involvierten Figuren voller unterschiedlichster Motive in ein spannendes Drehbuch umgesetzt, dem man auch ohne Vorwissen jederzeit folgen kann. Darin geht es um den deutschen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903 – 1968), dessen Erscheinungsbild und auffällige Diktion dem Zuschauer gleich zu Beginn des Films durch Dokumentarmaterial nahegebracht wird, so dass man im Verlauf des Films in vollem Umfang miterleben kann, wie Vollblutschauspieler Burghart Klaußner (Die fetten Jahre sind vorbei, Das weiße Band, Requiem) diesem selten besungenen Helden der deutschen Nachkriegsgeschichte ein filmisches Denkmal setzt. Hierbei ist es auch sehr begrüßenswert, dass man nebenbei auch einiges über die Privatfigur Bauer erfährt, sich das Porträt also nicht nur in der Vehemenz bei der Ausübung seines Berufs erschöpft, sondern man auch Facetten der Person erlebt, die in mancher Studie vielleicht eher heruntergespielt worden wären. Hier ist gerade Bauers Homosexualität – ohne irgendwelche Skandalbilder – ein zentraler Punkt des Films.

Leider zeichnet sich der Film dabei – Authentizität und spannende Geschichte hin oder her – nicht unbedingt durch eine besondere visuelle Erzählweise aus. Die Kernhandlung, deren Drehbuch ich eingangs so lobte, könnte man sich auch als Hörspiel vorstellen, dass um 22 Uhr auf dem Deutschlandradio ausgestrahlt wird: Eine fast dokumentarische Nachzeichnung des Kampfes für die Gerechtigkeit, ausreichend dramatisiert, um den Zuschauer bei der Stange zu halten – und mit einem biederen Soundtrack à la Bildungsauftrag, der klingt, als wenn einige deutsche Musiker unter Schlafmitteleinwirkung versuchten, den New-Orleans-Jazz von jeglichem Impetus zu befreien. Gerade die mehrfach an besonders »dramatischen« Stellen eingesetzten superlangsamen Trommelwirbel, die so zäh wie Kunsthonig klingen, durchsetzen den Film mit einer piefigen Betulichkeit, die man auch in den Bildern, die eine BRD zu Ende der 1950er darstellen, wiederfinden. Was nützt es, wenn man sich besonders große Mühe gibt, eine Fernsehsendung des Hessischen Rundfunks, den »Heute Abend Kellerclub«, nachzustellen, wenn die Bilder wie eine Karikatur wirken – und die Reaktionen sich fein säuberlich in begeisterte politisch engagierte junge Bundesbürger und Drohbriefe alter Nazis aufteilen?

Die Schwarzweißzeichnung ist bei den Figuren ein großes Problem. Mit wenigen Ausnahmen weiß man bei jeder Figur sehr schnell, wo sie politisch und moralisch zu verorten ist. Sebastian Blomberg etwa als Oberstaatsanwalt Kreidler wird lange Zeit immer gemeinsam mit dem BKA-Verantwortlichen Gebhardt gezeigt (Jörg Schüttauf, der wenigstens in ein paar Szenen glänzt), und sie sind sehr beschäftigt damit, ihren Antisemitismus und ihre Schwulenfeindlichkeit hervorzukehren (»Der Jude ist schwul!«), um quasi im nächsten Augenblick ihren Einfluss geltend zu machen und jeden zweiten Gesetzesbuchstaben zu pervertieren, um Bauer immer wieder Steine in den Weg zu legen. Gleich zu Beginn werden einfach mal an einem vermeintlichen Tatort Schlaftabletten verschwinden gelassen, um dem unliebsamen Spürhund durch Gerüchte eines Selbstmordversuchs aus dem Weg zu räumen. Doch Bauer ist ihnen durch Intelligenz und Ehrlichkeit meistens einen Schritt voraus: »Ich habe eine Pistole – wenn ich mich umbringen will, dann gibt es keine Gerüchte!«

Das Element des Films, das auch visuell erzählt wird, ist der Subplot um Karl Angermann (Ronald Zehrfelds Rollenname evoziert den »angry young man«), einen der »kleinen« Staatsanwälte unter Bauer. Dieser wird sich im Verlauf der Handlung seiner homosexuellen Neigung bewusst. Wenn das durch Blickwechsel mit seiner Ehefrau erzählt wird, ist das noch einigermaßen interessant, aber selbst hier muss vieles überdeutlich klar gemacht werden, wo einige Gesten (die noch vorhanden sind) eigentlich hätten reichen sollen. Die im Umfeld der 1950er fast progressiv wirkende Thematik verkommt aber auch zur Witznummer, wenn man quasi als schwules Erkennungszeichen besonders »hippe« karierte Socken einführt, die Bauer selbst übrigens in einer Anzeige im »Spiegel« entdeckt. Spätestens bei der dritten Großaufnahme von unzufriedenen, neidischen oder respektbezeugenden Blicken auf die Knöchelwolle wirkt dieses visuelle Spielchen wie die Fernsehvariante eines »heiklen« Themas für altbackene Hausfrauen oder Zuschauer, die längst noch nicht den politischen Strömungen vergangener Tage entwachsen sind. Mit denen will man es sich offenbar auch nicht verbocken, selbst wenn die vermutlich bei der ersten Offenbarung über den Titelhelden Probleme bei der Identifikation bekommen. Aber solange die Geschichte spannend erzählt ist …

Wenn Der Staat gegen Fritz Bauer (übrigens ein Titel, der zwar Zuschauer locken dürfte, aber eigentlich die Geschichte auf den Kopf stellt – »Fritz Bauer: Meine eigene Behörde ist Feindesland« oder »Allein gegen den Nazimuff der bundesdeutschen Bürokratie« hätte das eher verdeutlicht) noch zu Lebzeiten seiner Titelfigur entstanden wäre, dann wäre nicht nur die Geschichte sensationell gewesen – man hätte sich auch mit der Erzählweise anfreunden können. Heutzutage ist diese dialoglastige Fernsehmachart aber etwas, was auf Kinoleinwänden nichts zu suchen hat – daran ändert auch die begrüßenswerte Botschaft um Toleranz und Zivilcourage kein bisschen etwas.

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  How to change the World (Jerry Rothwell)


How to change the World
(Jerry Rothwell)

Großbritannien / Kanada 2015, Buch: Jerry Rothwell, Kamera: Ben Lichty, Schnitt: James Scott, Musik: Lesley Barber, mit Barry Pepper (Erzählerstimme), John Cormack, Bobbi Hunter, Emily Hunter, 110 Min., Kinostart: 10. September 2015

Irgendwie erschreckend, wenn aus bahnbrechendem, vierzig Jahre altem Filmmaterial, auskunftsfreudigen Interviewpartnern und einem politisch bedeutsamen, spannenden und kontroversen Thema ein typisches Beispiel für ein Fernseh-Infotainment gemacht wird, das eigentlich alle Todsünden eines Dokumentarfilms repräsentiert. Manipulativ, aufbauschend, auf kurzfristige Unterhaltungshäppchen hin strukturiert, mit überflüssigen Animationen und visuellem Füllmaterial, das beispielsweise immer wieder eine Schreibmaschine von innen zeigt oder die Zwischentitel im entsprechenden Schreibmaschinenfont darstellt, bei dem einzelne Buchstaben zu explodieren scheinen (passt zu den Themenkomplexen wie dem Protest gegen eine Atmbombensprengung oder der vielbeschworenen »Mindbomb«).

Dieser Film ist ja nicht das ultimativ böse (oder schlechte), aber daraus hätte ein wirklich guter Dokumentarfilm werden können (oder sogar ein Spielfilm), und nun wurde quasi das »Pulver verschossen«. Wer sich wirklich intensiv für die Frühzeit von Greenpeace interessiert, aber zu faul ist, darüber etwas zu lesen, dem sei How to Change the World empfohlen – bis etwas Besseres des Weges kommt. Insbesondere, wenn keine besonderen Ansprüche an die Erzählparameter einer Doku gestellt werden. Ansonsten zwiespältig bis ärgerlich – wenn auch der reine Informationsgehalt in Ordnung ist. Aber das könnte man auch über einen Geschichtsaufsatz sagen, in dem alle wichtigen Punkte erwähnt werden, aber einem wegen Stil und Ausdruck die Haare zu Berge stehen.

Die Kritik fällt diesmal sehr kurz aus, weil ich in 30 Stunden drei sehr ärgerliche Filme sah und ich mir davon einfach nicht auf Dauer die Laune verderben lassen wollte. Ursprünglich wollte ich sogar gar nichts hierzu schreiben und packte meinen Notizblock demonstrativ zur Seite.

Aber mir ist klar, nur wenige werden meine Meinung teilen. Imdb-Rating: 8,0 – weil alle jene, die ihre politische Anschauung im Film bestätigt bekommen wollen, exakt das geliefert bekommen. Mir persönlich ist das aber zu wenig.

Ich sehne mich zu den Zeiten zurück, als der Begriff Dokumentarfilm öfter für politisch relevante Filmkunst stand statt für gefällige Corporate-PR (mit ein paar hübsch aufbereiteten »Kontroversen«, die aber nur die politische Korrektheit des Auftraggebers demonstrieren). Aber wenn ich den Streifen gefälligst lieb haben soll wie ein Robbenbabys, das einem mit großen Augen anschaut, sperrt sich irgendwas in mir …

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  Vilja und die Räuber (Marjut Komulainen)


Vilja und die Räuber
(Marjut Komulainen)

Originaltitel: Me rosvolat, Finnland / Deutschland / Schweden 2015, Buch: Marjut Komulainen, Melli Maikkula, Lit. Vorlage: Siri Kolu, Kamera: Harri Räty, Schnitt: Oskar Franzen, Musik: Janne Storm, Kostüme: Karoliina Koiso-Kanttila, mit Sirkku Uhlgren (Vilja Vainisto), Ilona Huhta (Hele Rosvola), Kari Väänänen (Hurja-Kaarlo), Lotta Lehtikari (Hilda Rosvola), Jussi Vatanen (Kulta-Pete), Mio Määttä (Kalle Rosvola), Pekka Strang (Jouni Vainisto), Kiia Kokko (Vanamo Vainisto), Merja Pennanen (Anna Vainisto), Suvi-Maaria Virta (Tuija Pärnänen), Iivo Suvanto (Pöhkö-Pärnänen), Eljas Hyttinen (Vanha Pärnänen), Leevi Virtanen (Auvo Pärnänen), Emilia Hakkarainen (Pirkko Pärnänen), Kai Paavilainen (Kimi Pärnänen), Janne Hyytiäinen (Poliisi), Timo Aula (Kioskinpitäjä), 85 Min., Kinostart: 3. September 2015

Vorweg: ich habe die ersten 34 Minuten des Films (also 40%) des Films verpasst, die somit auch nicht in meine Beurteilung einfließen können. Normalerweise hätte ich nie zu einem so späten Zeitpunkt noch das Kino betreten, doch ich war der irrigen Annahme, dass ich nur vier Minuten zu spät war. Und es dauerte dann eine ganze Zeit, bis ich begriff, dass all jenes, was ich so in Erfahrung brachte über den Beginn des Films, niemals in vier Minuten reingepasst hätte. Selbst nicht in einer von Dieter-Thomas Heck kommentierten Zeitraffer-Szene.

Dem Film entnehmen konnte ich, dass die 10jährige Vilja (Sirkku Uhlgren) wohl nicht besonders versessen auf Geigenstunden ist, sie von sogenannten »Piraten« (Landpiraten wohlgemerkt, die mit einem Van unterwegs sind) gekidnappt wurde, und sich das Ganze für sie zu einem tollen Abenteuer auswächst, wobei sie eine zunächst holprige Freundschaft mit der gleichaltrigen Hele (Ilona Huhta) schließt und der in Raubesdingen nicht unbedingt supererfolgreichen Familie Rosvola (in der deutschen Synchro werden die vermutlich »Räuberberg« heißen) hier und da durchaus noch etwas beibringen kann. Zum Beispiel ist es ihre Idee, mit einer Lösegeldforderung beim eigenen Vater anzurufen – und als dieser quasi im zweiten Atemzug nach seiner ebenfalls verlustig gegangenen Münzsammlung fragt, wirft das kein gutes Licht auf ihn (die anderen Mitglieder von Viljas Familie habe ich übrigens in meiner kastrierten Fassung des Films nie kennengelernt, aber zumindest Viljas kleiner neuer »Räuberbruder« Kalle sehnt sich sehr nach so einer »langweiligen« Familie, wie Vilja sie hat(te), mit einem Bett in einem Zimmer statt einem Schlafsack auf dem Waldboden (potentieller Stoff für einen späteren Band der Bestseller-Kinderbuch-Reihe von Siri Kolu). Vilja indes ist ziemlich begeistert, wird aber auch gewarnt, dass das Räuberleben im Sommer weitaus angenehmer ist als im Winter, wenn es in Finnland halt schon etwas kälter wird.

Laut Presseinfo sieht sich der Film in der Tradition von Astrid Lindgren, aber irgendwie habe ich die Piratengeschichten von Pippi Langstrumpf viel besser und fantasievoller in Erinnerung. »Räuberessen« mit den Händen ist ja eine beliebte Kindergaudi, aber abgesehen von den Kindern macht Familie Rusvola auf mich keinen besonders sympathischen (oder intelligenten, oder erziehungstauglichen) Eindruck. Wenn man den Film als »Flodder für Kinder« zusammenfasst, ist man gar nicht so ungerecht, wie es erscheinen könnte. Die zentrale Storyidee des Films ist ein geheimer Räuberwettbewerb, die »Pira-lympics«, bei der vier Räuberfamilien gegeneinander antreten, und die deutlichen Animositäten zwischen Familie Rusvola und den auch nicht so viel niederträchtigeren Pärnänens zum großen Finale aufgebauscht werden. Eine der genialsten Ideen des Films ist ein Wettbewerb, in dem zwei »Räubermütter« zunächst um die Wette eine selbstgebackene Bohnenpastete runterschlingen (mit komplizierten Bohnendiebstahlsaktionen beschäftigt sich der Film etwa zehn Minuten lang), um dann direkt danach zum Ringen anzutreten. Wenn das zu einem oder zwei Furzwitzen führt, denkt man ja nicht darüber nach, wie unrealistisch die Verdauungszeit im Film ist. Aber wenn die Furzerei dann überhand nimmt und sich das Ringen eher in eine Giftgasattacke auswächst, dann wird das Kinder durchaus amüsieren, ist aber doch auf einem Niveau, das mich nicht wirklich an Astrid Lindgren (oder andere Klassiker des skandinavischen Kinderfilms) erinnert.

Subtilität ist hier meistenteils Mangelware, dass die Pärvänens auf ihrem Nummernschild »PÄR-100« stehen haben (Umlaute findet man eigentlich nirgends auf Kfz-Abzeichen), ist hier schon das Nonplusultra an Bonuswitzen für den aufmerksamen Betrachter.

Me rosvolat (außer »ikke« = »nicht« und »taksi« kann ich kein bisschen Finnisch, aber vermutlich heißt das so was wie »Meine Räuber«) spult zwar die üblichen Grundpfeiler eines Kinderfilms ab (Freundschaft, Familie, Vertrauen, Mut, Fehler eingestehen), aber von anderen aktuellen skandinavischen Kinderfilmreihen wie Knerten oder Antboy (der zweite Vilja-Film wird schon gedreht, ein dritter ist geplant) ist man doch noch eine Ecke weit entfernt. An vielen Stellen ist der Film, der sich ja immerhin mit Themen wie Raub und Kidnapping beschäftigt, auch einfach viel zu harmlos. Man sieht dann zwar, wenn sich eine Suspense-Szene bei Hitchcocks Rear Window anlehnt, aber es fehlt der ausschlaggebende Funken. Und der Soundtrack mit einer Menge … ich nenne es mal »Vagabundenmusik« … nervt teilweise auch.

Über Mittelmaß kommt man so nicht hinaus.

Anfang Oktober in Cinemania 137 (Vierbeiner):
Hockney (Randall Wright), Macbeth (Justin Kurzel), Nicht schon wieder Rudi (Ismail Sahin & Oona-Devi Liebich), Picknick mit Bären (Ken Kwapis) und Rettet Raffi! (Arend Agthe).