|
Bildmaterial © Neue Visionen Filmverleih
|
Die Schüler der Madame Anne
(Marie-Castille
Mention-Schaar)
Frankreich 2015, Originaltitel: Les héritiers, Buch: Ahmed Dramé, Marie-Castille Mention-Schaar, Kamera: Myriam Vinocour, Schnitt: Benoît Quinon, mit Ariane Ascaride (Anne Gueguen), Ahmed Dramé (Malik), Noémie Merlant (Mélanie), Geneviève Mnich (Yvette), Stéphane Bak (Max), Wendy Nieto (Jamila), Aïmen Derriachi (Saïd), Mohamed Seddiki (Olivier / Brahim), Naomi Amarger (Julie), Alicia Dadoun (Camélia), Adrien Hurdubae (Théo), Raky Sall (Koudjiji), Amine Lansari (Rudy), Koro Dramé (Léa), Xavier Maly (Direktor), Léon Zyguel (Himself), 105 Min., Kinostart: 5. November 2015
Der Film beginnt gleich mit einem Hinweis auf die bürokratische Diskriminierung: Eine ehemalige Schülerin will ihr Abiturzeugnis abholen, doch der zuständige Lehrer will es ihr verwehren, wenn sie nicht vorher ihr Kopftuch abnimmt. »Gesetz ist Gesetz« lautet seine Legitimation. Da wird man gleich auf den Frust der Schüler eingestimmt, obwohl das eigentliche Problem – wie in so vielen Filmen dieses seltsamen Genres ohne wirklichen Namen – in der fehlenden Motivation liegt. Aber zumindest die Abiturientin scheint vom Schulsystem profitiert zu haben und ist um eine passende Antwort nicht verlegen: »Sie tragen das Kopftuch vor den Augen.«
Vertreter dieses seltsamen Genres (ich nenne es mal »Lehrerfilm«, bis mir was Besseres einfällt) sind generell jene Filme, in denen ein Lehrer, eine Lehrerin oder auch mal ein Rektor mit zumeist desinteressierten und oft aus Problembezirken stammenden Schülern konfrontiert wird. Das kann dann auch quasi ein Action-Film werden (The Blackboard Jungle, The Class of 1984) oder eine Komödie (Summer School). Pädagogisch wertvoll sind die Ableger, in denen sich der Lehrpersonal extra viel Mühe gibt und zumeist auch Erfolge erziehlt. Dazu gehören etwa Michelle Pfeiffer in Dangerous Minds, Edward James Olmos in Stand and Deliver oder Samuel Jackson als Coach Carter. Und auch von dieser Kategorie gibt es noch eine Unterkategorie, in der die Schüler durch die Konfrontation mit dem Holocaust plötzlich hochmotiviert am Unterricht teilnehmen. Richard LaGravaneses The Freedom Writers erzählte beispielsweise nahezu dieselbe Geschichte wie Les héretiers – und auch, wenn in beiden Fällen eine »wahre« Geschichte erzählt wird, wirkt es auf den Betrachter schon etwas seltsam, wie einfach man Schüler offenbar motivieren kann – warum macht es dann so selten jemand? Die naheliegende Antwort: der bürokratische Überbau, der die Kreativität im Keim erstickt, ist meistens schuld. Deshalb auch die beschrieben Einsteigsszene.
Was Les héretiers etwas hervorhebt über ähnliche Filme: die wahre Geschichte gipfelte darin, dass einer der Schüler (und nicht wie in The Freedom Writers der Lehrkörper, der eine Anthologie der Texte seiner Schüler herausgab) seine Erfahrungen zum Anlass nahm, ein Drehbuch zu schreiben. Und das wurde nicht nur verfilmt ... er und seine Schwester spielen sogar mit! Das gibt neben dem sich selbst spielenden Zeitzeugen (eine obligatorisch wirkende Geste, die durch den zeitlichen Abstand zum zweiten Weltkrieg immer schwieriger zu verwirklichen ist) der ganzen Affäre einen zusätzlichen Anstrich von Authentizität. Und hat in diesem Fall vermutlich auch dafür gesorgt, dass die Darstellung der Schüler eine Spur gelungener wirkt, als man es im Durchschnitt so erlebt.
Natürlich hat man in solchen Filmen ausreichend Möglichkeiten, Integrationsfragen, junge Liebe oder das Abrutschen in die Kriminalität zu thematisieren, und zumindest angedeutet findet man diese drei Themenkomplexe auch wieder – interessanterweise hat man sich aber dafür entschieden, nicht jede angerissenen Handlungsfaden auch zu Ende zu spinnen. Das mag manchen ärgern, ist aber im normalen Leben eigentlich immer so.
Die Schüler haben unterschiedliche Charaktere, Temperamente – und immer auch klar erkennbare Talente, die nur der »gute« Lehrer zu fördern weiß. Da die meisten Kinozuschauer selbst mal in der Schule waren, hat man viele Möglichkeiten, sich wiederzuerkennen – ob als Schüler, in der Elternrolle oder sogar, weil man selbst mal als Lehrer versagt hat.
Natürlich liest man auch hier Das Tagebuch der Anne Frank (»Nicht das Ende verraten!«) und besucht entweder ein KZ oder zumindest eine Museumsausstellung zum Thema. Die Gleichförmigkeit ist hierbei ähnlich ausgelutscht wie in den nach ganz strikten Regeln konzipierten Genres wie der Romantic Comedy oder dem Sportfilm. Der große Unterschied besteht aber darin, dass das Gros der Kinogänger weitaus weniger Beispiele für die »Holocaust-Lehrerfilme« kennt und deshalb auch nicht alle Nase die Muster wiedererkennt. Leider ist es oft genug aber sogar so, dass es in diesen Filmen auch um Elemente des Sportfilms geht, denn – so idiotisch das ist – die Kreativität und der Respekt vor anderen Menschen wird dann gern in irgendeinen Wettbewerb gezwängt.
Nach dieser ganzen Herumjammerei muss ich aber sagen, das Les héretiers die Sache ziemlich gut macht. Wer das Genre noch nicht leid ist, erhält eine durchaus positive Botschaft und lernt hier und da womöglich noch etwas dazu. Nicht zwangsläufig über den deutschen Völkermord, aber über Jugendliche und wie sie ticken und bestimmte Dinge erstmals erleben. Man darf in beiden von mir herangezogenen Beispielfilmen auch nicht vergessen, dass es nicht um deutsche Filme geht, sondern um fremde Länder, die vielleicht auch ganz andere Lehrstoffe absolvieren. Und für die dieses Thema irgendwie sogar exotisch wirken könnte. Ich meine jetzt nicht die Kinozuschauer, sondern die Schüler, die in den Filmen dargestellt werden.
Nicht unbedingt zufrieden bin ich übrigens mit dem deutschen Verleihtitel, denn dass die Lehrerin mit Vornamen Anne heißt, erfährt man (zumindest in der Originalfassung) erst etwa 20 Minuten vor Schluss. Aber bei französischen Filmen haben die deutschen Verleiher jüngst das Prinzip entdeckt, diese durch Titelzusätze wie »Madame«, »Monsieur« oder »Mademoiselle« klar zu markieren, weil es wohl in der begrenzten Vorstellung von Filmverleihern Zuschauerschichten gibt, die ganz verrückt auf französische Filme sind, aber ohne Hilfestellung nicht in der Lage sind, sie als solche zu erkennen. Und dafür gibt es dann »Mademoiselle Populaire«, »Monsieur Claude und seine Töchter«, »Madame Marguerite usw.« oder »Mademoiselle Anne usw.« – so wie vor ein paar Jahren die französischen Filme immer »C‘est la vie«, »Chanson d‘amour« usw. heißen mussten. Ziemlich traurig – aber dafür kann der Film ja nichts. Vielleicht sind Filmverleiher auch ein wenig wie Lehrer: manche fördern die Kreativität ihrer Schützlinge, andere stecken sie rigoros in Schubladen, die irgendwie die Arbeit erleichtern – die Interessen der »Kinder« sind sekundär!