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25. Januar 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Die feine Gesellschaft (Bruno Dumont)


Die feine Gesellschaft
(Bruno Dumont)

Originaltitel: Ma loute, Frankreich / Deutschland 2016, Buch: Bruno Dumont, Kamera: Guillaume Deffontaines, Schnitt: Bruno Dumont, Basile Belkhiri, Kostüme: Alexandra Charles, Ausstattung: Riton Dupire-Clément, mit Fabrice Luchini (André van Peteghem), Juliette Binoche (Aude van Peteghem), Valeria Bruni Tedeschi (Isabelle van Peteghem), Jean-Luc Vincent (Christian van Peteghem), Brandon Lavieville (Ma loute Brufort), Raph (Billie van Peteghem), Didier Després (Blading), Cyril Rigaux (Malfoy), Laura Dupré (Nadège), Thierry Lavieville (Vater Brufort), Caroline Carbonnier (Mutter Brufort), Lauréna Thellier (Gaby van Peteghem), Manon Royére (Blanche van Peteghem), 122 Min., Kinostart: 26. Januar 2017

Bruno Dumont (L'humanité, 29 Palms) gefällt sich seit Jahren in der Rolle des Provokateurs, wenn seine Filme etwas bekannter / populärer wären, könnte er es nicht nur auf der rein inhaltlichen Ebene mit anderen enfants terribles wie Lars von Trier oder Michael Haneke aufnehmen. Aber man hat irgendwie das Gefühl, dass Dumont es darauf gar nicht so ankommt. Zwar hatte er kurz davor eine Fernsehserie (P'tit quinquin) in Angriff genommen und diesmal immerhin Juliette Binoche, Fabrice Luchini und Valeria Bruni Tedeschi besetzt, aber auch Ma loute stößt einem Großteil des Publikums derart vor den Kopf, dass man es sich nur schwer vorstellen kann, dass Dumont damit aus seiner knapp bemessenen Nische ausbrechen kann und plötzlich im Licht der Öffentlichkeit betrachtet werden wird - er bleibt ein Fall für den Feuilleton und ein Anlass für erbitterte Streitgespräche unter Cinephilen.

Im Zentrum von Ma loute steht nur bedingt die gleichnamige Titelfigur (gespielt von Brandon Lavieville), der älteste Sohn der armen Miesmuschelsammlerfamilie Brufort (eines von mehreren Wortspielen basiert hier auf »brute force« - wird auf Französisch ähnlich geschrieben, aber ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster strecken). Den außergewöhnlichen Namen Ma loute hat man übrigens in der deutschen Fassung in »Lümmel« umbenannt hat, ein Begriff, dessen doppeldeutige Nähe zu einer möglichen Übersetzung (Schwanz) mir nicht sofort klar wurde.

Die feine Gesellschaft (Bruno Dumont)

© Neue Visionen Filmverleih

Bevor wir als Zuschauer die Chance haben, mit diesem eher strammen »Lümmel« vertraut zu werden, geht es um die, um erneut auf die deutsche Fassung zurückzukommen, »feine Gesellschaft«. (Ich habe den Film im Original mit Untertiteln gesehen und mich hier und da etwas gewundert, etwa über Namen wie »Böswald« oder »Rohbrecht«. Aber das sind die selben Leute, die aus Les chaises musicales Die fast perfekte Welt der Pauline gemacht haben - obwohl im ganzen Film keine Pauline vorkommt - zumindest nicht im Original).

Und auf dem prachtvollen Sommeranwesen der Familie van Peteghem treffen dann die oben aufgeführten Schauspielstars in ausufernden Kostümen aufeinander (Juliette Binoche als Schwester / Schwägerin Aude nebst Anhang mit einer geringfügigen Verspätung). Denn das Ganze spielt im Sommer 1910 an der französischen Normandieküste. Die Familie van Peteghem als Vertreter des Landadels zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man degneriert, fast lebensunfähig wirkt. Der kaum wiederzuerkennende Luchini (zuletzt etwa in Gemma Bovery oder Ozons Dans la maison oder Potiche) hat hier als André einen Buckel, spricht mit deutlichem Akzent und scheint in seinen übertriebenen Manierismen und Gesten ganz aufzugehen. Während Valeria Bruni Tedeschi sich eher zurücknimmt (aber auch komplett neben der Spur wirkt), ist es vor allem Juliette Binoche, die für Dumont schon als Camille Claudel 1915 auftrat (ein ziemlich anstrengender, nur sehr schwer erträglicher Film, von dem man nach seinem Auftauchen im Berlinale-Wettbewerb zumindest hierzulande nicht mehr viel hörte) und die hier die nervig-hysterische Attitüde ihrer Figur geradezu zelebriert.

Die feine Gesellschaft (Bruno Dumont)

© Neue Visionen Filmverleih

Diesen Stars beim Possenreißen zuzuschauen mag für einige Zuschauer bereits ein Erlebnis sein, die Überzeichnung wird bis zum Exzess durchexerziert, man fühlt sich teilweise wie in einem nicht-enden-wollenden Monty-Python-Sketch, wobei ausgerechnet ein Ermittlerpärchen (am Strand verschwanden Touristen) zu Dumonts nur sehr begrenzt gelungener »Hommage« an Laurel & Hardy wurde, wobei der übergewichtige Chef beim Gehen knarzt wie ein Ledersofa oder Furzkissen und Stranddünen bevorzugt herabrollt. Wenn man selbst über drei Zentner wiegt und um die Probleme mit einem oft hinderlichen Körperschwerpunkt weiß, erkennt man, wie übertrieben und schlichtweg nur eingeschränkt witzig dieser sehr strapazierte running gag ist, aber Dumont geht hier auf keine Kompromisse ein, gibt seinem Stan-Laurel-Ersatz (natürlich tragen beide Melonen) gleich auch noch rote Haare und eine auffällige Physiognomie und schnell stellt es sich heraus, dass einzig die Bruforts, die mit ihren Streifenpullis etwas an die Daltonbrüder erinnern, hier als gesunde, körperlich beanspruchbare »Normalos« fungieren, die für ein kleines Zugeld sogar die verwöhnten Touristen durch das teilweise hüfthohe Wasser tragen.

Der zunächst durchaus unterhaltsame Twist des Films besteht darin, dass die Bruforts hier die historisch vorverlegten Ableger der Familie aus The Texas Chainsaw Massacre sind. Sie ernähren sich kannibalisch, aber diesmal werden die Killer nicht als degenerierte Inzucht-Brut vorgeführt, während ihre Opfer junge gesunde Vertreter des Wohlstandsamerikas sind, sondern die Opfer sind die degenerierten Bestandteile einer Speisekarte à la »Eat the Rich«.

Die feine Gesellschaft (Bruno Dumont)

© Neue Visionen Filmverleih

Und weil Bruno Dumont eben Bruno Dumont ist, eckt er noch deutlicher an, wenn er eine Art »Romeo & Juliet«-Lovestory zwischen dem »Lümmel« und der attraktivsten Tochter der van Peteghems anleiert, die nach dem Prinzip vieler Horror-Lovestorys (vgl. etwa Henry - Portrait of a Serial Killer, Peeping Tom, die Verfilmungen von The Collector und Das Parfüm - oder auch Kidnapping-Storys mit dem Stockholm-Syndrom) funktioniert: Man fragt sich, ob diese klassenübergreifende Liebesgeschichte zur »Rettung« von Ma loute führen kann (reiche Typen können ja doch ganz nett sein und sie liebt mich wirklich) oder ob sie jetzt als Nächste im Kochtopf landet.

Und der Aufreger ist hier, dass Billie (gespielt von der Neuentdeckung Raph) in ihrer Sexualität reichlich unbestimmt daher kommt. Lange Zeit war für mich klar, dass hier ein Mädchen teilweise in Jungsklamotten herumläuft, während der Chefvermittler die Sachlage genau andersherum auszulegen schien. Wobei die endgültige Übertretung der political correctness hier darin besteht, dass der Film durchaus suggeriert oder zumindest impliziert, dass diese Genderfrage auch mit der Inzucht der Familie zusammenhängen könnte, was abermals eine Gruppe von Zuschauern dazu bringen wird, diesen Film zu hassen.

Ich bin da in diesem Fall einigermaßen entspannt, weil mich einzelne Teilaspekte des Films durchaus interessiert haben. Das Komödiending funktionierte für mich nicht, die eher surrealen Szenen am Schluss haben mich auch nicht überzeugt, aber ich fand die Spannungsdramaturgie teilweise sehr interessant, etwa wenn die Dienerin Nadège (Laura Dupré), die man schon dem Umfeld von Ma loute zugehörig weiß, bei den van Pateghems das Essen serviert und ich mir aufgrund des bisherigen Geschehens und Dumonts Scheißdrauf-Attitüde auch hätte vorstellen können, dass er zu einem tödlichen Unfall kommt.

Die feine Gesellschaft (Bruno Dumont)

© Neue Visionen Filmverleih

Der Film ist zwar eindeutig zu lang und nervt hier und da auch tierisch, aber für mich war es dennoch ein irgendwie »interessantes« und letztlich fast positives Seherlebnis. Um Ma loute mit einem noch nicht ganz vergessenen Film zu vergleichen: Nocturnal Animals landete bei mir auch so im grauen Bereich, wo vieles ganz interessant war, anderes aber eigentlich untragbar, und da würde ich Ma loute gewissen Leuten, bei denen ich mir einbilde, sie gut zu kennen, durchaus empfehlen, während ich Nocturnal Animals (der durchaus seine Fans hat) niemandem empfehlen würde. Oder anders ausgedrückt: Ich kann mir zwar vorstellen, das es Leute in meinem Umfeld gibt, denen der Film gefallen könnte, aber ich gehe zu deren Gunsten immer davon aus, dass sie sich nicht wirklich dafür begeistern können. Und ich schicke ja niemanden ins Kino, wenn ich eigentlich davon ausgehe, dass sie den Film hassen werden.

Was der eher unbekannten kleinen Schar meiner Leser natürlich nur sehr eingeschränkt helfen wird. Wer mag, darf natürlich sogar beide Filme vergleichen, aber ich bin mir einigermaßen sicher, dass es nur sehr wenige Leute geben wird, die beide Filme so richtig super finden. Zwei mal der Griff ins Klo wirkt da ungleich wahrscheinlicher.