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13. September 2017 |
Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||
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172: |
Originaltitel: Seven Sisters, UK / USA / Frankreich / Belgien 2017, Buch: Max Botkin, Kerry Williamson, Kamera: José David Montero, Schnitt: Martin Stoltz, Musik: Christian Vibe, Production Design: Joseph A. Hodges, mit Noomi Rapace (Karen Settman aka Monday, Tuesday, Wednesday, Thursday, Friday, Saturday, Sunday), Willem Dafoe (Terence Settman), Glenn Close (Nicolette Cayman), Marwan Kenzari (Adrian Knowles), Clara Read (Young Karen Settman), Christian Rubeck (Joe), Pål Sverre Hagen (Jerry), Edouard Philipponnat (Harry), Tomiwo Edun (Tommy), 123 Min., Kinostart: 12. Oktober 2017
Tommy Wirkola (Hansel & Gretel Witch Hunters) ist nicht unbedingt ein Regisseur, den man wegen seiner politischen Statements preist, und entsprechend ist dieser SciFi-Film, dessen Handlungsansatz viel Potential bietet, leider auch eher zum Actionspektakel mit bemerkenswerter Bewältigung technischer Probleme geworden als zum revolutionären Gedankenspiel.
In einer Welt der nahen Zukunft ist das größte Problem der Menschheit die Überbevölkerung, weshalb man die Anzahl der legalen Nachfahren auf ein Exemplar begrenzt. Zu Beginn dieser Maßnahmen gebärt eine Frau Siebenlinge (alles weiblich), stirbt aber dabei. Der Großvater (Willem Dafoe) hat sich rechtzeitig darum gekümmert, die Geburt heimlich durchzuführen und zieht die identischen Schwestern fern der Öffentlichkeit, in einer großen Wohnung verborgen auf.
Die nach den Wochentagen benannten Seven Sisters (der neue »deutsche« Titel macht zwar neugierig, nimmt aber leider einen wichtigen Handlungspunkt voraus), die sich durchaus von der Mentalität unterscheiden, treten jeweils nur in »ihrem« Tag in die Öffentlichkeit, und bringen dann gegen Abend die restlichen Schwestern auf den aktuellen Stand, was das Leben der gemeinsamen Repräsentationsfigur »Karen Settman« angeht. Glücklicherweise hinterfragt der Film nicht, wie Karen 1 nach ihrem ersten Schultag Karen 2 sämtliche neu kennengelernte Schüler und Lehrer beschrieben hat.
Aber auch noch nach Jahren des perfekten Zusammenspiels, das mit Make-up und Perücken zumindest zuhause die Individualität der sieben Schwestern bewahrt, ist für den Zuschauer überdeutlich, dass jede kurze Bemerkung dem Portier gegenüber bereits eine große Gefahr offenbart.
Noomi Rapace und Kinderdarstellerin Clara Read brillieren in der schlüssigen Darstellung der Siebenlinge, die beim gemeinsamen Abendessen o.ä. natürlich große inszenatorische Probleme mit sich bringen, weil man teilweise für eine Einstellung sieben Aufnahmen mit perfekt synchronisierten Arbeitsabläufen drehen muss, die dann am Rechner miteinander kombiniert werden.
Auch die Story ist durchaus interessant, weil Monday eines Tages nicht nach Hause kommt, und dies nicht mit einer (vorhandenen) geheimen Affäre zusammenhängt, sondern damit, dass die Gesetzeshüter unter Führung von Glenn Close den sieben auf die Schliche gekommen sind und sie nun ausschalten wollen. Dass dies über kurz oder lang zur Aufdeckung gewisser Geheimnisse der durchaus umstrittenen Bevölkerungsbegrenzung führt, hätte auch noch spannend werden können, doch der Film konzentriert sich viel zu sehr darauf, wie die einzelnen Schwestern von vermeintlich geheimen Überfallkommandos des »child allocation bureau« (kurz CAB) zur Strecke gebracht werden sollen, wobei die in der Wohnung zurückgebliebenen jeweils der jeweiligen Tages-Karen mit viel Technologie helfen und eine nach der anderen versucht, herauszubekommen, was jetzt mit Monday passiert ist - und ihren Nachzüglern noch bevorsteht (entsprechend ist übrigens auch der Film in Kapitel aufgeteilt, um die komplexe Prämisse dem Zuschauer zu verdeutlichen - was übrigens mit ein paar Flashbacks in der ersten Hälfte des Films prima funktioniert).
Bei der Ausformulierung der Individualschwestern hat man sich noch viel Mühe gegeben (aus naheliegenden Gründen wurde Saturday etwa zur Partygöre), aber das Drehbuch an sich leidet sehr unter der mitunter hilflos wirkenden Spannungsdramaturgie, die unbedingt auf eine finale Konfrontation hinarbeitet, die alles, was zuvor detailliert aufgebaut wurde, verkürzend in einem Kampf der unterschiedlichsten Schwestern zum Showdown führt.
Dass man den 30-Jahre-Sprung der Geschichte nicht nur aufgrund des Make-Ups von Glenn Close nicht mal annähernd nachvollziehen kann, sondern man dem Publikum auch noch weis machen will, dass ein Werbefilm der artig ungewollte Kinder in Cryo-Schlaf für eine bessere Zukunft setzenden Firma über Jahrzehnte nicht verändert wird, ist fast noch ärgerlicher als das stetige Action-Geballer. Die menschlichen Probleme der Figuren werden stattdessen an den Rand gedrängt, mitunter wirkt es so, als würde Noomi Rapace gegen das Drehbuch ankämpfen, um diese Aspekte zumindest etwas im Film zu verankern.
Bis zum Schluss gibt es zwar immer mal wieder nette Ideen, aber als Ganzes funktioniert der Film leider so gar nicht. So ein Film, bei dem man das Gehirn am besten ausschalten muss und auch im Nachhinein bloß nicht über gewisse Details nachdenken sollte.
Abgesehen von den Siebenling-Szenen war für mich der Höhepunkt des Films ein Wiedersehen mit Pål Sverre Hagen aus Kraftidioten, selbst, wenn er nur eine undankbare Rolle bekam und als Jerry dann noch zur falschen Zeit zur Milchtüte greift, weil seine Figur wohl nie Frankenheimers The Manchurian Candidate sah und somit nicht um die Gefahr dieser Art von Nahrungsaufnahme wusste.
Deutschland 2017, Buch: Reto Caduff, Stephan Plank, Ziska Riemann, Kamera: Frank Griebe, Roman Schauerte "u.a.", Schnitt: Maxine Goedicke, mit Stephan Plank, Michael Rother, Daniel Miller, Midge Ure, David A. Stewart, Robert Görl, Gianna Nannini, Karl Hyde, Holger Czukay, Annette Humpe, Rudolf Schenker, Klaus Meine, Steffen Volkmar, Carmen Knoebel, Jaz Coleman, David Stubbs, Wolfgang Hirschmann, David M. Allen, Stini Sebald und Mitgliedern von Devo, Les Rita Mitsouko, Whodini, 92 Min., Kinostart: 28. September 2017
Ich mag Filme. Auch Dokumentarfilme.
Aber ich unterscheide mich von dem allgemeinen Publikum von Dokumentarfilmen. Denn darunter gibt es auch viele, die diese Filme schauen, weil sie informiert werden wollen. Es gibt aber Dokumentarfilme, die blendend (und teilweise gleichzeitig unterhaltsam) informieren. Aber als Film nichts taugen. Und der Film an sich spielt für mich die Hauptrolle.
Wenn man Conny Plank - The Potential of Noise schaut, erfährt man vieles über Conny Plank. Mission accomplished. Wenn man zuvor keinen Schimmer hatte, wer die Titelfigur ist. Aber auch, wenn man schon ein Grundwissen hat. Selbst, wenn das einigermaßen erschöpfend ist.
Das Problem: Der »Film« wirkt nicht wie ein Film. Sondern wie zwei zusammengeschnittene Filme.
Die »Erzählung« des Films ist, dass Stephan Plank (einer der Regisseure), der Sohn Connys, der aber erst 13 war, als sein Vater starb, mehr über seinen Vater erfahren will. Und dazu dessen »Freunde«, also Musiker, die mit dem Produzent und Tonmeister zusammengearbeitet haben, besucht und befragt. Die waren damals allesamt älter als 13 und hatten einen anderen Blick auf den verstorbenen Papa. Oft genug sogar auf dessen Rolle als Vater, wenn dieses auch erst im letzten Drittel des Films eine größere Bedeutung gewinnt.
Mein Hauptproblem: Kameramann Frank Griebe (vor allem durch seine Zusammenarbeit mit Tom Tykwer bekannt) hat Stephan begleitet, man sieht ihn etwa zu Beginn nach London aufbrechen, etwas später steht er wieder auf einem Bahnsteig Richtung Köln (Connys Studio, ein umgebauter Bauernhof, lag in der Nähe von Köln). Und dann sieht man die von Frank Griebe gefilmten Interviews. Die haben eine gewisse, gut wiedererkennbare Bildsprache. Und Stephan ist bei diesen Interviews auch immer mit im Bild. Weil er eben wichtig für die Geschichte ist und nicht nur ein namenloser Interviewexperte.
Nur gibt es im Film unzählige Interviews, bei denen man nicht sieht, wie Stephan zu Besuch kommt und freudig empfangen wird. Bei denen man auch den Interviewer nicht sieht oder hört. Und bei denen der Inszenierungsstil komplett unterschiedlich ist. Und das Bildmaterial oft deutlich schwächer, pixeliger.
Anders gesagt: Interviews, mit denen Stephan Plank meines Erachtens nichts zu tun hat. Abgesehen davon, dass er die Interviewschnipsel vermutlich mit ausgesucht hat und evtl. auch mitentschieden hat, in welcher Reihenfolge die im Film auftauchen (größtenteils findet die Einführung eines neuen Gesprächspartners chronologisch nach dem Zeitpunkt der damaligen Aufnahmen statt, und gegen Ende werden die Gespräche persönlicher und mehr auf Stephan bezogen statt auf Connys Beitrag zur Musikgeschichte).
Viele Dokumentarfilme funktionieren so, dass der Filmemacher bereits existierendes Material ausfindig macht und dann in der Montage mit neuen Interviews arrangiert. Aber hier störte es mich sehr, dass der Film impliziert, man sei die ganze Zeit auf dieser Vergangenheitsreise mit Stephan. Was zudem halt (insbesondere im Kino, wo die Materialunterschiede sehr auffallen) besonders durchschaubar ist. Wenn man erst mal auf die Idee gekommen ist, das Ganze zu hinterfragen, tun sich immer mehr Löcher auf.
Ich könnte jetzt zweieinhalb Dutzend Anekdoten aus dem Film wiedergeben, die emotionale Familiengeschichte loben oder schildern, wie seltsam es für mich war, zu erkennen, dass die Hip-Hop-Band Whodini einst im Grunde die selbe Musik wie die Deutsch-Amerikanische Freundschaft gemacht hat. Aber mich hat einfach zu vieles an diesem Film vergrätzt. Zum Beispiel das teilweise unglaublich pixelige Bildmaterial. Wenn das aus dem privaten Archiv stammt und seltene Einsichten bietet, kann man das durchwinken. Aber muss man gefühlt ein halbes Dutzend alte Musikvideos zeigen, die allesamt Augenkrebs verursachen.
In Anlehnung an ein Filmzitat, das die Innovation Conny Planks hochleben lässt, könnte man zum Film sagen: »Das visuelle Konzept des Films: Es gibt keine Regeln«.
Am Plakat stört mich übrigens auch noch, dass man u.a. mit Ultravox, den Scorpions und DAF lockt, im Film aber nur die vier (!) von mir in den Stabangaben aufgeführten (und allesamt Musikinteressierten bekannten) Mitglieder dieser Bands auftauchen. Mogelpackungen mag ich auch nicht.
Wenn man etwas über Stephan Planks Sicht auf seinen Vater erfahren will, kann ich den Film durchaus empfehlen. Wenn einem die Musik wichtiger ist, kauft man sich vermutlich besser die im Presseheft mehrfach von Jens Balzer gepushte 4-CD-Sammlung Who's that Man?, von der man auch das Bildmotiv des Plakats übernahm. Dort erfährt man zumindest auch gleich, welcher Track von wem stammt und muss nicht anhand des Abspanns versuchen, etwas zu rekonstruieren.
Deutschland 2017, Buch: Nils Mohl, Max Reinhold, Lit. Vorlage: Nils Mohl, Kamera: Florian Mag, Schnitt: Jan Ruschke, Musik: Acid Pauli, mit Leonard Scheicher (Mauser), Johanna Polley (Edda), Emilia Schüle (Jackie), Joel Basman (Kondor), Clemens Schick (Zöllner), Johannes Klaußner (Ponyhof), Bjarne Mädel (Taxifahrer / Tankwart), Robert Alan Packard (Indianer), Canan Suvatlar (Mystic C), Katharina Behrens (Laura), Leonie Wesselow (Mädchen), Yaw-Boah Amponsem, Emilio Sanmarino (Cowboys), 97 Min., Kinostart: 19. Oktober 2017
Coming-of-Age: Der 17-jährige Nachwuchsboxer Mauser (Leonard Scheicher) ist gänzlich fokussiert auf einen wichtigen Kampf in zehn Tagen. Seine Disziplin zehrt er von seinem Vater und Trainer Zöllner (Clemens Schick), stellvertretend für die kriminelle Energie seines Plattenbau-Kiezes am Hamburger Stadtrand ist Kondor (Joel Basman), aber die Tage bis zum Kampf werden geprägt sein von der Begegnung mit einem Mädchen. Nein, zwei Mädchen, und hier wird's kompliziert für Mauser.
Die Geschichte, die Mauser selbst erzählt, und die ganz gezielt die Chronologie untergräbt, indem sie wie bei einer DVD dauernd hin- und herspult, beginnt zehn Minuten vor einer Polizeirazzia bei einer nächtlichen (und natürlich illegalen) Freibadparty. Da läuft ihm Jackie (Emilia Schüle) über den Weg, die aus einer deutlich reicheren Klasse stammt. Der Abend endet damit, dass sich Kondor für ihn opfert (Presseheft und Kondor haben das so wahrgenommen, dass er geopfert wird, was noch für Streit sorgt) und die Polizei ablenkt, und Mauser gegen sämtliche Vernunft und ohne Rücksicht auf DEN KAMPF! mit Scherben in seine Handfläche den Beginn von Jackies Telefonnummer einritzt.
Die Diskrepanz zwischen dem, was ein jugendlicher Kinobesucher als »ungeheuer romantisch« wahrnehmen könnte und was einen älteren Herrn wie mich schon ziemlich nervt, ist hier sehr offensichtlich: Weil Jackie zwar durch diese Geste angefixt ist, der Selbstzerstörung aber nicht weiter zusehen konnte, hat Mauser jetzt nur ihre Vorwahl auf seiner (und glücklicherweise nicht in der Führungshand), aber die implizierte Gewissheit, sie wiederzusehen. Für den abgeklärten alten Herrn in der ersten Reihe war übrigens schon bei der ersten Null klar, dass er so nicht die gesamte Nummer auf die Hand bekommen hätte - was man auch als erste Drehbuchschwäche werten könnte.
Ich will nur noch kurz, wegen der Unterschiede, das Kennenlernen mit dem zweiten Mädchen schildern: Das geschieht nicht bei einer illegalen Partynacht, sondern beim Abholen eines Pakets. Edda (Johanna Polley) ist keine Bonzentochter, sondern ist ein paar Jährchen älter und jobbt in einem abgeranzten Kiosk (dort liegt auch eine DVD rum, die sowas ähnliches wie den Filmtitel auf Französisch auf dem Cover hat), sie wirkt nicht unglaublich schillernd, sondern trägt eine nerdige Brille, eine Stilwillen demonstrierende »Wildschwein-Applikation«, einen Nasenring und eine deutliche, aber nicht unbedingt negativ wirkende Narbe über der Lippe. Und sie ist für Mauser keine alles in den Schatten stellende Verlockung, sondern sie steht offensichtlich auf ihn (weiteres muss sich erst noch ergeben). Einer der sympathischsten Charakterzüge von Edda: sie ist old school durch und durch und sucht die Verbindung zu Mauser über Postkarten.
Die nächsten Tage sind bei beiden romantischen Annäherungen von Enttäuschungen geprägt, und dann fällt Mausers Vorbild Zöllner auch noch aus dem Raster, weil er wegen Mordes gesucht wird.
Außerdem, passend zum Filmtitel, gibt es da noch einen seltsamen Indianer (Robert Alan Packard), der Mauser zu verfolgen scheint und sämtliche Figuren (mit Ausnahme des Vaters vielleicht) landen schließlich auf einem abgedrehten Powwow genannten Musikfestival irgendwo zwischen Wald und See, wo schließlich alle Konflikte, mögliche Eifersüchteleien und Drogenerfahrungen eskalieren, in einem bunten Tohuwabohu.
Die (preisgekrönte!) Romanvorlage von Nils Mohl, der auch Co-Autor des Drehbuchs wurde, kenne ich nicht, und will sie nach Sichtung des Films auch nicht wirklich kennenlernen. Folgt man dem Interview im Presseheft, gibt es darin wohl viele filmische Anspielungen, jedenfalls interpretiert der Interviewer ein in einer Tankstelle herumliegendes Exemplar von David Foster Wallaces Unendlicher Spaß als entgegengesetzte »literarische Hommage« und findet, dass der in anderthalb Winzrollen auftauchende Bjarne Mädel als Tankwart auch aussieht wie Wallace.
Diese und vierhundertachtunddreißig andere Szenen zementieren aber nur, dass Regisseur Ilker Çatak (der mit Kurzfilmen bereits zwei Max-Ophüls-Preise einheimste) zum alles beherrschenden Thema des Films machte, dass er so ziemlich alles mal ausprobieren wollte. So gibt es eine Weekend-mäßige lange Kamerafahrt an einem Stau vorbei (die dann aber in der Montage rüde verhackstückt wurde, weil man vermutlich wahrnahm, dass man das Zielpublikum damit nicht bei der Stange halten kann), unzählige Einstellungen aus Briefkästen, grelle Farben, knallige Namenseinblendungen (Ponyhof!), Drogentrips und als Inbegriff des reichlich zelebrierten Post-Tarantino-Kinos die nichtchronologische Erzählweise, die hier aber größtenteils eine ohnehin nicht so spannende Geschichte nur ein wenig in die Länge zieht.
Aus den zwei Szenen (eigentlich drei, aber ich will die Sache mit dem Tattoo nicht spoilern), die aus dieser Erzählweise Kapital schlagen, zeugt eine davon, dass Çatak beinahe auch mich hätte erreicht mit dem Film. Zwei Pre-Teen-Handlanger Kondors, die unter dem Namen »die Cowboys« agieren, tauchen immer mal wieder im Film auf und stoßen wüste Beleidigungen und Drohungen aus, wirken aber - auch, weil es sich um Dreikäsehochs handelt - eher etwas lächerlich. An einer Stelle des Films sieht man, dass einer von den zweien seinen Arm in Gips trägt, sich aber nicht auf eine Diskussion darüber einlassen will. Später im Film (aber nicht in der Handlung) sitzen die Cowboys mal betont lässig am Rand eines Parkdecks und lassen die Beine baumeln. Mauser, immerhin schon etwas vernünftiger als diese Clowns, macht sie noch auf die Gefahr aufmerksam, doch sie verlachen ihn wie üblich nur. Die Szene geht weiter, konzentriert sich auf etwas komplett anderes und etwas später sieht man dann, wie der spätere Gipsträger wohl den einen Stock abgestürzt ist und sich unter Schmerzen davonrafft. Eindeutig der Höhepunkt des Films, der für Jugendliche, die all die inszenatorischen Spielereien nicht schon in jeweils fünf anderen Filmen besser eingesetzt sahen, vermutlich ziemlich hip erscheint, wo mich der Film größtenteils ziemlich nervte.
muss allerdings attestieren, dass man die Umsetzung des Festivals (man nutzte ein bereits existierendes Festival und bekam offenbar viel Unterstützung von den Besuchern) schon extrem clever war. Und sogar Platz ließ für eine Hommage an Wes Anderson, die mal wieder akzentuiert, wie viele unterschiedliche Einflüsse man hier nutzte, die einem unerfahrenen Teen, der zuvor nur solche Teenager-Filme sah, wie sie heutzutage gedreht werden, vermutlich das Hirn wegfegen. In a good way.
USA 2017, Buch: Darren Aronofsky, Kamera: Matthew Libatique, Schnitt: Andrew Weisblum, Musik, Sound Consultant: Jóhann Jóhannsson, Kostüme: Danny Glicker, Production Design: Philip Messina, mit Jennifer Lawrence (Mother), Javier Bardem (Him), Ed Harris (Man), Michelle Pfeiffer (Woman), Domhnall Gleeson (Oldest Son), Brian Gleeson (Younger Brother), Kristen Wiig (Publisher aka »Herald«), 117 Min., Kinostart: 14. September 2017
Der Kopf einer jungen Frau in Großaufnahme. Sie scheint zu verbrennen, drückt aber noch eine letzte Träne heraus. Javier Bardem friemelt mit verrußten Fingern an einem Edelstein herum, setzt diesen auf ein winziges Podest und scheint glücklich. Im Innern des Edelsteins sieht man winzige Flammenrisse, irgendein Prozess scheint zu beginnen. Die Kamera durchfährt ein verkohltes Gebäude, das sich vorm Auge des Betrachters zu regenerieren scheint. Schließlich sehen wir ein kaum als solches zu erkennendes Bett, das schließlich wieder seinen Originalzustand annimmt. Darin erwacht Jennifer Lawrence, die nach jemandem ruft, den sie doppeldeutig »Baby« nennt (der Tonfall legt aber nahe, dass es sich um ihren Liebsten Handelt, der natürlich von Bardem gespielt wird und wie alle Figuren in diesem Film keinen Namen trägt). Sie sucht nach ihm. Die Kamera klebt den Rest des Films an Frau Lawrence, wir erleben alles aus ihrer Sicht (wenn auch nur eher selten in subjektiven Einstellungen). Schließlich findet sie Bardem, der als liebender Partner etwa ähnlich beruhigend wirkt wie John Cassavetes in Rosemary's Baby. Dieser eine Generation ältere Herr passt nicht zu seiner jungen Frau, ein Detail, das der Film etwa alle sechs Minuten wieder in Erinnerung ruft, wenn Jennifer auf unangemessene Wortmeldungen des Herrn immer wieder mit einem verdutzten, etwas verletzten Gesichtsausdruck reagieren muss.
Ein älterer Herr (Ed Harris), der sich mehrfach die Seele aus dem Leib zu husten scheint, aber fleißig raucht und Whisky vertilgt, drängt sich in das Leben und Haus des Paares. Das Haus spielt übrigens eine wichtige Rolle, wirkt wie ein eigener Organismus. Wie man irgendwann mitbekommt, gehört es Bardem, einem Dichter mit Schreibblockade. Und es muss irgendwann abgebrannt sein. Die Lawrence versucht es quasi im Alleingang wieder instandzusetzen, und das Haus sondert dabei hin und wieder infernalische Geräusche (Jóhann Jóhannsson) ab. Und Bardem, der sich für seinen Gast (der ihm zuvor unbekannt gewesen sein soll) weitaus mehr interessiert als für seine Frau, zeigt diesem das dem Betrachter bereits bekannte Juwel, das, wie wir erfahren, das einzige war, was er aus dem verbrannten Haus retten konnte. Der Edelstein gibt ihm, zusammen mit der jungen Frau, die Kraft, noch mal neu zu beginnen.
Die Lawrence geht zeitig zu Bett, während die alten Herren noch reminiszieren (alles, was nicht im direkten Umfeld der Lawrence passiert, offenbart sich auch dem Zuschauer nicht oder nur am Rande). Morgens wird sie vom würgenden Husten Ed Harris' geweckt, der unter Bardems Fürsorge über der Kloschüssel kniet und eine seltsame Verletzung auf dem Rücken hat, die Javier schnell verdeckt. »Some privacy, please!«
Während immer deutlicher wird, dass die Filmerzählung einer gewissen Traumlogik gehorcht (kaum eine Frage der Lawrence wird zur Zufriedenheit beantwortet, gerne klingelt es an der Tür oder ähnliches, wenn sie gerade versucht, den seltsamen Ereignissen um sie herum auf die Spur zu kommen), kommt nur auch noch Michelle Pfeiffer als Frau Harris' ins Haus, die Bardem wie später noch viele andere einfach mal ohne Absprache mit seiner Frau ins Haus einlädt. Die Pfeiffer ist noch eine Spur unsympathischer (und auf eine gewisse Art bedrohlicher) als ihr offenbar schwerkranker Mann, und Jennifer kriegt schließlich mit, dass das andere Ehepaar (die Konstellation erinnert etwas an Who's afraid of Virginia Woolf?) gar nicht aus Zufallsbesuchern besteht, die dachten, das Privathaus sei eine Bed-and-Breakfast-Herberge. Sondern aus »crazy fans«. Doch Bardem, der »Poet« mag crazy fans. Er schwärmt seiner jungen Frau gegenüber davon, wie toll es sei, mit jemandem zu sprechen »who really appreciates your work«. Sie erinnert ihn ein wenig gekränkt daran, wie sehr sie hinter ihm und seinem Werk steht: »I love your work!« Woraufhin er diesen Sachverhalt mit einem herablassenden Tonfall abtut, als wäre sie ein Kleinkind oder ein Schoßhund: »Of course you do!«
Die Traumlogik entwickelt sich weiter, wenn die Lawrence kleine Objekte, die ihr nicht gefallen, im Haus verschwinden lässt. Das Feuerzeug von Harris, der sich nicht um ihr Rauchverbot schert, ein durchsichtiger Schlüpper der Pfeiffer, die ihr Nachhilfe erteilen will, wie sie ihren Mann durch ihre Reize an sich bindet. Währenddessen benehmen sich die unliebsamen Gäste ein wenig wie ein Termitenbefall. Die Pfeiffer verwandelt beim Zubereiten einiger Drinks die Küche in ein Schlachtfeld, und nach mehrfachem Hinweis, dass die Störenfriede sich dem Arbeitszimmer Jardems nicht nähern sollen, schaffen sie es irgendwie, dass das geliebte Juwel auf dem Boden zerschellt, was Bardem auch noch ein paar Level unangenehmer erscheinen lässt. Die Pfeiffer scheint auch irgendwas zu wissen (»Oh, you really love him. God help you!«) und irgendwer hat ein Bild Jardems (wohl so was wie eine offizielle Autogrammkarte) erst mit Teufelshörnern verziert und dann zerrissen.
Als wäre nicht schon genug Trubel im Haus, tauchen jetzt auch noch die zwei Söhne (Domhnall & Brian Gleeson) von Bardem / Pfeiffer auf, die sich um ein Testament streiten, bis der Streit immer handfester wird und schließlich quasi der Kain den Abel erschlägt. Was zwar für einige Zeit etwas Ruhe ins Haus einkehren lässt, aber mit einem Blutfleck, der wie eine verrottende Vagina auf ätzende Weise neue Räume eröffnet, und einer Art Wurzelfötus, der die Toilette verstopft, ehe das Runterspülen gelingt, einen bunten Reigen von superdeutlichen Symbolen eröffnet.
Kurz nachdem der Poet zurückkommt, und seiner Frau davon berichtet, wie der Bruder / Sohn im Krankenhaus verstarb, während er seine Hand hielt, taucht (gefühlt wenige Stunden nach dem Todesfall, der keinerlei polizeiliche Ermittlungen mit sich zieht) eine ganze Beerdigungsgemeinde an der Haustür auf, die der Poet natürlich gerne reinkommen lässt. Mehr Traumlogik, mehr von der Aronofsky-Version des Loriot-Sketches des schiefhängenden Bildes, die kontinuierlich immer mehr eskaliert.
In der möchtegern-elitären Gruppe der prätentiösesten Kopfgeburten solcher Regisseure wie Malick, von Trier oder Noé schießt Mother! definitiv den Vogel ab. Dass sein Machwerk im Endeffekt immerhin einer gewissen Grundlogik folgt, ändert nicht das Geringste daran, dass kaum emotionale Anteilnahme vom Publikum gefordert wird und man visuell auch kaum etwas bietet (da haben The Tree of Life, Antichrist oder Enter the Void klar die Nase vorn). Man durchleidet den Film wie einen Alptraum mit Holzhammer-Drehbuch, weiß, dass einen gleich wieder etwas schocken soll, aber da bei der unvermeidlichen Geburtsszene nicht einmal Udo Kiers Kopf seinen Gastauftritt absolvieren darf, liefert Aronofsky auch auf dieser Ebene nicht ab. Die Kamera wird immer wackeliger, die Geräusche immer enervierender und die Langeweile macht sich langsam breit. Wenn die Lawrence in einer Szene mit dem Schlaf kämpft, bekommt man echtes method viewing zu sehen. Das Berliner Pressepublikum stieg nicht einmal mehr auf den Aspekt der schwarzen Komödie ein, der vielleicht noch etwas hätte retten können.
Man kann Mother! zwar (ungeachtet des Schlusses) in mannigfaltiger Weise interpretieren, aber letztlich interessiert es mich auch nicht (und ich hatte das Gefühl, damit stehe ich nicht allein), wie jetzt das Haus in Zusammenhang mit dem weiblichen Körper steht, ob Jennifers Traum mehr für einen Kinderwunsch oder die Angst vor dem einhergehenden Kontrollverlust steht (die eindringenden Gäste verhalten sich allesamt wie Kinder, die jeweils mit jener Sache spielen, die man ihnen ausdrücklich verboten hat), man sie als die ausgebeutete Mutter Erde sehen möchte oder welche biblischen Themen hier abgearbeitet werden. Das Presseheft suggeriert sogar, dass die Flut der Eindringlinge etwas mit der Flüchtlingskrise zu tun haben könnte!
Kunstkino kann so überflüssig sein!
Aronofsky beendet im Presseheft seinen Bericht von der fünftägigen Drehbuchentstehungsgeschichte mit den Worten: »From this primordial soup of angst and helplessness, I woke up one morning and this movie poured out of me.« Tja, dumm gelaufen, wenn kein Hygieneartikel zur Hand ist.
Der schönste Satz im Presseheft ist aber folgender von Jennifer Lawrence (die jetzt mit dem Regisseur »zusammen« sein soll): »A creator always needs a muse. As long as the universe is expanding, men will be using women.«
Nachtrag:
Am Tag vor dem Kinostart sah ich im öffentlich-rechtlichen Morgenmagazin, wie eine mir nicht bekannte Kollegin den Film, den sie mehrfach als »Psycho-Thriller« titulierte, abfeierte. Wenn man als Zuschauer in der Lage sei, die »Transferleistung« zu vollbringen und das Filmgeschehen nicht 1:1 als Handlung versteht, sei der Film »geradezu genial«. D'uh!
Als unangekündigter Bonusinhalt hier noch eine Kritik aus dem Archiv (Klirr Di Birr 53 von 1999) zur 4K-Wiederaufführung von Blood Simple. Damals gab es als Quasi-WA den Director's Cut des Films im Kino
USA 1984, früherer deutscher Titel: Blood Simple - Eine mörderische Nacht, Buch: Joel & Ethan Coen, Kamera: Barry Sonnenfeld, Schnitt: Roderick Jaynes [das sind Joel & Ethan Coen], Don Wiegmann, Musik: Carter Burwell, Kostüme: Sara Medina-Pape, Production Design: Jane Musky, Budget Consultants: Bruce Campbell, Sam Raimi, mit John Getz (Ray), Frances McDormand (Abby), Dan Hedaya (Julian Marty), M. Emmet Walsh (Private Detective Loren Visser), 96 Min. (alte Version 99 Min.), Original-Kinostart Deutschland: 26. September 1986, 4K-WA: 5. Oktober 2017
Um die Unterschiede besser erkennen zu können, schaute ich mir den Film brav vorher in der alten Version auf Video an. Ich erkannte dadurch das, was ich schon wusste: dass ich beim Videoschauen nicht annähernd so aufmerksam bin wie im Kino
Als Einführung gibt es einen alten Herren, der sowohl an den Rahmenhandlungs-Prof aus The Rocky Horror Picture Show als auch an die Einleitung des gar nicht so sagenumworbenen Cutters Roderick Jaynes in der ersten faber and faber-Ausgabe der Drehbücher der Coens erinnert. Und natürlich an einen anderen Film, der nach sogar mehr als fünfzehn Jahren nochmal digital aufgemotzt wurde. Und so hätte es mich auch gar nicht weiter verwundert, wenn das Insekt am verschwitzten Haaransatz des Detektivs eine »new creature« gewesen wäre, wenn der Schatten des über den Highway fliegenden Vogelschwarms nachträglich per Computer eingefügt worden wäre oder die Inschrift im Feuerzeug zusätzliche Klarheit wie der Traum eines Einhorns hätte verschaffen sollen. Aber bei nachträglicher Kontrolle anhand der Cassette durfte ich feststellen, dass all diese Dinge auch schon 1984 im Film waren. Was ja für die Coens spricht, aber gegen meine Aufmerksamkeit. Neben der neuen Einleitung und einiger Musiküberarbeitungen fallen die vier herausgeschnittenen Minuten kaum auf, handelt es sich doch um die »langweiligen Stellen« wie ein Gespräch einer Nebenfigur mit einem nie wieder auftauchenden Musikbox-Benutzer etc. Eine clevere Manipulation ist mir aber doch nicht entgangen, wird doch an einer Stelle der heißblütige Lover beim Verlassen des Bettes durch geschickte Wahl des Bildausschnittes von seiner in der alten Version eindeutig zu sehenden Unterhose befreit...
Ansonsten ist der Film immer noch sehenswert und wer ihn wie ich noch nie auf der Kinoleinwand gesehen hat, sollte sich trotz der üblen Geldschneiderei für kaum eine Veränderung ruhig noch mal in den dunklen Vorführungssaal trauen, denn dort ist alles auch viel erschreckender als auf dem heimatlichen Sofa.
Und außerdem ist es interessant, noch mal zu reflektieren, wie es wohl war, als die Coens und Frances McDormand noch keine Oscars auf dem Nachttisch stehen hatten und Kameramann Barry Sonnenfeld noch nicht Men in Black gedreht hatte und man trotz geringem Budget und wenig Erfahrung dennoch magische Momente auf die Leinwand zauberte...
Demnächst in Cinemania 173 (Name vakant):
Rezensionen zu Battle of the Sexes (Jonathan Dayton & Valerie Faris), Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer? (Lola Randl) und anderen, noch zu sichtenden Filmen.
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