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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




18. April 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Solange ich atme (Andy Serkis)

© SquareOne / Universum




Solange ich atme
(Andy Serkis)

UK 2017, Originaltitel: Breathe, Buch: William Nicholson, Kamera: Robert Richardson, Schnitt: Masahiro Hirakubo, Musik: Nitin Sawhney, Kostüme: Charlotte Walter, mit Andrew Garfield (Robin Cavendish), Claire Foy (Diana Cavendish), Hugh Bonneville (Teddy Hall), Tom Hollander (Bloggs & David Blacker), Stephen Mangan (Dr. Clement Aitken), Harry Marcus (Jonathan Cavendish mit 10), Dean-Charles Chapman (Jonathan Cavendish mit 22), Penny Downie (Tid), Diana Rigg (Lady Neville), Sylvester Groth (Dr. Erik Langdorf), David Wilmot (Paddy), Norman Anstey (Conference Chairman), Amit Shah (Dr. Khan), Jonathan Hyde (Dr. Entwistle), Emily Bevan (Nurse Margaret), Edward Speleers (Colin Campbell), Pixie (Bengy), 118 Min., Kinostart: 19. April 2018

Selten drängte es sich derart auf, zwei Filme in einer Doppelrezension abzuhandeln. Breathe und Stronger starten (mit jeweils einem halben Jahr Verspätung) am selben Tag in Deutschland und erzählen jeweils eine historisch belegte Liebesgeschichte, bei der der Mann seine Gesundheit einbüßt, fortan an seinem Wert zweifelt und die Frau sich aufopfert und ihm den Lebensmut quasi einbleut. Und wie nebenbei kämpft man in beiden Fällen auch noch für eine über das Paar weit hinausgehende Verbesserung der Welt.

  Stronger (David Gordon Green)


Stronger
(David Gordon Green)

USA 2017, Buch: John Pollono, Buchvorlage: Jeff Bauman, Bret Witter, Kamera: Sean Babbitt, Schnitt: Dylan Tichenor, Musik: Michael Brook, mit Jake Gyllenhaal (Jeff Bauman), Tatiana Maslany (Erin Hurley), Miranda Richardson (Patty Bauman), Clancy Brown (»Big Jeff« Bauman Sr.), Richard Lane Jr. (Sully), Nate Richman (Big D), Lenny Clarke (Uncle Bob), Patricia O'Neil (Aunt Jenn), Carlos Sanz (Carlos), Katharine Fitzgerald (Aunt Karen), Danny McCarthy (Kevin), Frankie Shaw (Gail Hurley), Michelle Forziati (Jill Hurley), Sean McGuirk (Bill Hurley), Karen Scalia (Lori Hurley), 119 Min., Kinostart: 19. April 2018

Hinweis: Wer nicht auswendig weiß, welcher Film bei welchem Verleih startet: man kann die Filmbilder recht einfach dadurch zuordnen, ob sie wie aus dem letzten Jahrhundert wirken (Breathe) oder eher dem aktuellen entsprechen (Stronger). Und der jeweilige Kontext beim Lesen der Kritik (sowie die Gesichter der Darsteller) helfen auch ;-)
Ich wollte aber diesmal keine strenge Teilung zwischen den Filmen vornehmen.

Deutlich näher an der Gegenwart ist die Geschichte von Stronger. Jake Gyllenhaal spielt Jeff Bauman, der beim Anschlag auf den Boston-Marathon im Jahr 2013 beide Beine verlor.

Ein Twist an der Geschichte ist, dass Jeff keinesfalls ein Vorzeigesportler war, sondern ein eher phlegmatischer Kerl, der schon mehrfach die Beziehung zu seiner großen Liebe (und aktuellen Ex-Freundin) Erin (Tatjana Maslany aus Orphan Black) korrumpiert hat, nun aber bei der Ziellinie auf sie, die beim Marathon teilnimmt, wartet, um sich eine neue Chance zu erarbeiten. Dabei beobachtet er einen verdächtigen anderen Zuschauer und gehört dann zu den Opfern des Sprengstoffanschlags. Was allerdings für die Beziehung trotz (und wegen) des naheliegenden Schuldgefühls von Erin (wenn er nicht auf sie gewartet hätte, wäre ihm nichts passiert ...) nicht unbedingt ein festes und liebevolles Fundament liefert.

Stronger (David Gordon Green)

© Studiocanal GmbH / Scott Garfield

Bei Breathe läuft es ganz anders. Bei einem Cricket-Spiel Ende der 1950er zieht Robin (Andrew Garfield) die Aufmerksamkeit der jungen Diana (Claire Foy) auf sich (auch, wenn man ihn warnt »She's a heartbreaker!«), und der Film spult sich ab wie eine tausendfach gesehene Kitschliebesnummer, die mit Musiksauce und Sonnenuntergängen vor kenianischem Horizont (Robin ist im Teegeschäft tätig) alle üblichen Register zieht (Kamera: Robert Richardson, der jeweils mehrfach für Martin Scorsese, Oliver Stone und Quentin Tarantino tätig war und nebenbei drei Oscar einheimste).

Solange ich atme (Andy Serkis)

© SquareOne / Universum

Doch nach der schnellen Heimat, der malerischen Welt Afrikas und der frohen Kunde, dass Diana schwanger ist, zieht sich Robin eine Infektion zu (Polio aka Kinderlähmung), die ihn vom Hals ab lähmt, ein Beatmungsgerät notwendig macht und eine Lebenserwartung mit sich bringt, die man eher in Monaten als in Jahren beziffern sollte, damit sie nicht wie ein sofortiges Todesurteil klingt.

Mit ähnlichen Fällen zusammen liegt Robin nun in einer Spezialklinik und stürzt in suizidale Depression, bis Diana ihn auf seinen Wunsch (und gegen alle expliziten Warnungen der Ärzte) »da raus holt« und er durch Unterstützung von Freunden und Familie wieder ein ansatzweise lebenswertes Dasein fristet, das durch die Erfindung eines Rollstuhls mit batteriebetriebenem Beatmungsgerät, den sein Freund, Oxford-Professor Teddy Hall (Hugh Bonneville) zusammentüftelte, einiges an Qualität gewinnt.

Solange ich atme (Andy Serkis)

© SquareOne / Universum

Zurück nach Boston. Ein wiederkehrender Punkt der Geschichte ist, dass Jeff es immer wieder vermeidet, Carlos zu treffen, der ihm nach der Bombe das Leben rettete. Diese Weigerung steht in direktem Zusammenhang mit seinen psychischen Problemen, die sich aber erst nach und nach für den Zuschauer offenbaren. Auch bei der Liebesgeschichte läuft nicht alles rund. Wenn Erin mal ein »I'm so sorry!« rausrutschen lässt, fährt er ihr über den Mund: »Don't say that! You don't owe me everything!« Obwohl das nicht hundertprozentig seinen Gefühlen entspricht. Jeff muss ähnlich wie Robin im anderen Film erst seine eigene Verwirrung sortieren, um die (naheliegende) Niedergeschlagenheit zu bewältigen. In Stronger ist dies ein ausgedehnter Vorgang, in Breathe hat man einfach noch viel mehr zu erzählen (allein schon an Jahren) und der Wandel vollzieht sich auf der narrativen Ebene schneller, was ich aber nicht unbedingt als Schwäche sehe, sondern als eine andere, zum Film passende Entscheidung.

Stronger (David Gordon Green)

© Studiocanal GmbH / Scott Garfield

Durch Jeffs Beteiligung an der Aufklärung des Verbrechens wird er zu einer Art Galleonsfigur der »Boston Strong«-Bewegung. Der Red-Sox-Fan soll unter anderem den ersten Pitch eines Baseballmatches werfen (eine große Ehre, die nur ausgesuchten Persönlichkeiten zuteil wird), doch Jeff hat eigentlich keine Lust, im Scheinwerferlicht zu stehen oder den schrecklichsten Tag seines Lebens, immer wieder (z.B. in Interviews) zu durchleben.

Stronger (David Gordon Green)

© Studiocanal GmbH / Scott Garfield

Wie sich die Geschichte weiterentwickelt, mag ich natürlich nicht ausplaudern, aber obwohl sich das bei einem direkten Vergleich der Schicksale nicht annähernd so darstellt, wirkt es fast so, als würde Erin (weil es so inszeniert und »betont« wird), den weitaus steinigeren Weg gehen, bis das Paar »die Kurve kriegt«.

Stronger ist als Film vor allem auf Jake Gyllenhaal zugeschnitten, der rein darstellerisch weitaus mehr zu leisten hat als sein Kollege Garfield (der zugegebenermaßen natürlich auch in seinen Ausdrucksmitteln stärker beschränkt ist). Eine interessante Parallele ist übrigens auch, dass Jeff Bauman im Verlauf des Films auch Vater wird - nur weitaus später in der Geschichte. Hilfreich ist diese Entwicklung aber in beiden Fällen.

Wenn in Breathe der kleine Jonathan geboren wird, ist das auch für das Hintergrundwissen um die reale Geschichte von Bedeutung, denn - was im Film nicht zum Thema wird - Jonathan wird später ein Filmproduzent werden (u.a. von Filmen wie Ordinary Decent Criminal, Elizabeth: The Golden Age oder den ersten beiden Bridget-Jones-Filmen), wobei er nicht nur seinen späteren Drehbuchautor für die Geschichte seines Vaters kennenlernt, sondern auch schon 2011 mit Andy Serkis, der hier sein Regiedebüt abliefert, die britische Effekteschmiede The Imaginarium gründet. Ein wenig wirkt der Film dadurch auch hinter der Kamera wie ein Familienbetrieb.

Solange ich atme (Andy Serkis)

© SquareOne / Universum

Breathe selber ist jetzt nicht unbedingt ein Effektefilm, aber immerhin spielt Tom Hollander (Tulip Fever) hier die Zwillingsbrüder von Diana, was auch von einem dauerhaften Interesse Serkis' für die technologischen Möglichkeiten zeugt, die er sonst in seinem Motion-Capture-Anzug als Gollum, King Kong oder Captain Haddock verwirklicht.

Verglichen mit Stronger werden in Breathe immer wieder neue, unglaublichere Ziele erreicht. U.a. bricht die Familie in einem umgebauten Van nach Spanien auf und Robin kämpft in Deutschland (Kurzauftritt Sylvester Groth) für die Rechte von Behinderten. Die Rückschläge, die in Stronger eher mentaler Art sind, bestehen hier oft in winzigen Defekten an Robins Überlebensmaschinerie, die sich jederzeit in einem unbeobachteten Moment zur Todesgefahr entwickeln können. Mit diesem Damokles-Schwert spielt man im Film gern und sorgt für Spannung.

Was aber insbesondere in meiner Wahrnehmung des Films viel prägender ist, ist der Humor, der der Geschichte seinen Stempel aufdrückt. Wenn man etwa mitten in Spanien ein Problem mit der Beatmungsmaschine hat und dringend den Tüftel-Professor herbeiruft, gestaltet sich die Wartezeit auf den Lebensretter unerwartet wie eine kleine Fiesta (die Atmung kann man auch per Hand unterstützen). Als Teddy dann ankommt, traut er seinen Augen nicht und formuliert seine Verwunderung so: »You could at least have the decency to be at the point of death!«

Solange ich atme (Andy Serkis)

© SquareOne / Universum

Eine andere unerwartete Szene spielt sich zwischen Diana und einem Geistlichen ab, und später soll eine Society-Lady (Diana Rigg!) die Rollstuhl-Produktion unterstützen, was auch sehr unterhaltsam abläuft. Ich bin mir nicht sicher, ob es an Andy Serkis liegt, der ja abgesehen von seinen Blockbuster-Auftritten oft in kleinen Nebenrollen zerschlissen wurde, aber Breathe bietet den kleinen Figuren am Rande auch immer eine kleine Bühne, was man in Stronger bis auf wenige Ausnahmen fast vermisst. Ob Schwester Margaret, ein indischer Arzt, der Bettnachbar Paddy oder die hilfsbereite (Tante?) Tid, bei Breathe hat man das teilweise das Gefühl, dass man mit drin steckt in der Umgebung von Robin, während man in Stronger (vielleicht auch beabsichtigt) immer den Eindruck hat, dass hier zwar zahlreiche Figuren aus dem Umfeld des Paares zum Spital rennen etc., sich aber danach noch die »reale« Familie verbirgt, deren Intimsphäre geachtet wird. Was sicher auch mit der Beteiligung von Jonathan Cavendish zusammenhängt, während bei Stronger vor allem das Buch der Hauptfigur die Linie vorgab.

Der Stronger-Regisseur David Gordon Green ist übrigens einer der wandlungsfähigsten Regisseure, die ich so kenne. Zumeist dreht er unterschiedlich abgedrehte Komödien wie Pineapple Express oder Your Highness, aber seine Karriere begann er mit dem Independent-Film George Washington, gefolgt von der Stewart-O'Nan-Verfilmung Snow Angels, die im Tonfall am ehesten Stronger gleicht. Selbst, wenn man versucht, Greens Berlinale-Beitrag Prince Avalanche als Kulmination der Komik- und Tragik-Elemente seiner Karriere zu verkaufen, kommt man diesem wandelbaren Phänomen nicht wirklich auf die Spur. Ein Green-Film ist immer ein Kinoticket wert (selbst bei seinen direct-to-DVD-Possen). Andy Serkis schafft es mit seinem Debüt aber auch gleich auf einem sehr hohen Niveau einzusteigen.

Stronger (David Gordon Green)

© Studiocanal GmbH / Scott Garfield

Der Vergleich der beiden Filme ist schon ganz interessant, bei wem es diese Woche nur für einen Film reicht, der dürfte anhand meiner Texte erkennen dürfen, welcher der Filme ihm eher liegt. Aber im Endeffekt werden es viele wohl an den Darstellern festmachen. Oder an einer zum geschichtlichen Zeitpunkt passenden recht unterschiedlichen Machart. Auch, wenn die beiden Plakate sich erstaunlich ähneln...