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22. August 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Nach dem Urteil (Xavier Legrand)


Nach dem Urteil
(Xavier Legrand)

Originaltitel: Jusqu'à la garde, Frankreich 2017, Buch: Xavier Legrand, Kamera: Nathalie Durand, Schnitt: Yorgos Lamprinos, Production Design: Jérémie Sfez, mit Léa Drucker (Miriam Besson), Denis Ménochet (Antoine Besson), Thomas Gioria (Julien Besson), Mathilde Auneveux (Joséphine Besson), Mathieu Saïkaly (Samuel), Saadia Bentaïeb (Richterin), Émilie Incerti-Formentini (Antoines Anwältin), Sophie Pincemaille (Miriams Anwältin), 94 Min., Kinostart: 23. August 2018

Jusqu'à la garde ist wie Whiplash, Oculus oder Emo the Musical wieder ein Langfilm, der zur Basis einen erfolgreichen Kurzfilm desselben Regisseurs hat, in diesem Fall des oscarnominierten Avant que de tout perdre, in dem bis auf den Jungdarsteller Thomas Gioria bereits sämtliche Familienmitglieder gleich besetzt worden waren.

Ich hatte mal wieder den Vorteil, so gut wie nichts über den Film zu wissen, während erstaunlich viele meiner Pressekollegen schon im Detail über den Handlungsverlauf informiert waren. Bei einem Film, der schon auf dem Plakat mit dem Wort »unvorhersehbar« wirbt, ist das natürlich nicht unbedingt von Vorteil, wie Hitchcocks beliebtes Suspense-Beispiel mit der Bombe, wenn man vorher gesagt bekommt, oder die Bombe explodieren wird oder nicht.

Nach dem Urteil (Xavier Legrand)

© KG_Productions

Ich werde die Filmgeschichte so wiedererzählen, wie ich sie erlebte, dabei nicht weit über das erste Drittel hinausgehen und meine Erwartungen nebst ihrer Entwicklungen schildern. Ob ich mit meinen Erwartungen richtig lag, werde ich nicht sagen, wie »unvorhersehbar« der Film für mich war (oder eben nicht), kann man nur durch Kenntnis des Films erfahren. Ich gebe aber so viel vorweg: der Film hat mir sehr gefallen, das positive, durchaus spannende Erlebnis des ersten Drittels wird also nicht durch eine Überraschung oder das Ausbleiben selbiger negativ beeinflusst. Regisseur Xavier Legrand macht schon ziemlich alles richtig, und wenn mancher Schreiberling das durch Wiedergabe der kompletten Handlung zunichte macht, weil er oder sie unbedingt das Thema des Films im Detail diskutieren wollte, erweist dieses Vorgehen dem Regisseur einen Bärendienst. Sicher lädt der Film zur Diskussion ein, doch sie sollte nach dem Film stattfinden, nicht schon im Voraus. Wer mögliche Spoiler großräumig umgeht, tut sich einen Gefallen, wer immer schon im Voraus wissen will, was genau zu erwarten ist, soll zu McDonald's gehen (Spoiler: ungesund und fetthaltig, aber Millionen Fliegen können sich nicht irren).

Der Film beginnt mit einer ausgedehnten Pflegerechtsverhandlung, bei der ich das Gefühl hatte, dass die Richterin im weiteren Verlauf des Films (der Titel »Nach dem Urteil« eröffnet ja eine gewisse Grunderwartung) mit einem moralischen Dilemma konfrontiert werden würde.

Nach dem Urteil (Xavier Legrand)

© KG_Productions

Der elfjährige Julien (Thomas Gioria) soll Angst vor seinem Vater haben, meidet deshalb den Kontakt, auch die Mutter Miriam (Léa Drucker, Le chambre bleue) klagt über physische Angriffe, Beweise gibt es aber keine. Der Vater Antoine (Denis Ménochet, La Môme, Dans la maison) sieht sich indes als Opfer, dem die Frau durch Intrigen den Kontakt zu seinen Kindern entzieht. Zu jedem Detail scheint es mehrere Versionen zu geben, hat Antoine etwa seiner fast erwachsenen Tochter Joséphine (Mathilde Auneveux) angedroht, ihr die Hände zu brechen, oder handelte es sich nur um einen lapidaren Sportunfall, den die Kinder (womöglich unter der Anleitung der Mutter) zu ihren Gunsten zurechtbiegen.

Die offenbar erfahrene Richterin (Saadia Bentaïeb) bringt in der sich durch dokumentarische Strenge auszeichnenden Anfangsszene zwar mit dem Fazit »Wer lügt hier mehr?« eigentlich alles auf den Punkt, doch einer (womöglich noch gerechten) Lösung kommt man damit nicht näher.

Doch dann erlebt man diese eigentümliche Familie »auf freier Wildbahn«. Aus der Sicht von Antoine läuft hier die Kommunikation oftmals über mehrere Ecken. Vor einem Treffen mit dem Sohn, der genuin genervt wirkt, hat deren Mutter behauptet, er sei krank, bei einer gemeinsamen Autofahrt der beiden erlebt man, dass beide, Vater und Sohn, sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Antoine ist zwar sehr eifersüchtig und aufbrausend, aber Julien bevorzugt oft die Unwahrheit, und man ist als Zuschauer ähnlich überfordert wie zuvor die Richterin, die ja noch geringere Einblicke in die Vorgänge erhielt.

Nach dem Urteil (Xavier Legrand)

© KG_Productions

Unbestreitbar ist aber die sich stetig steigernde intensive Atmosphäre. Völlig unabhängig davon, ob die Mutter inzwischen tatsächlich einen neuen Lover hat oder es sich dabei nur um einen Arbeitskollegen handelt, angestachelt wird sie durch ihre Schwester, und Tochter Joséphine trifft sich heimlich mit ihrem Freund Samuel, schwänzt dafür auch mal die Schule, und das Lügengeflecht wird immer undurchdringlicher.

Und dieser Scheidungskrieg wird mit harten Bandagen ausgeführt. Bei einer Verspätung angesichts der festen Besuchstermine wird das Kind dann auch erst später zurückgebracht, wodurch sich die Fronten zunehmend verhärten und alles immer mehr zu eskalieren droht. Besonders fatal ist dabei, dass jede der vier Parteien (die weiteren Familienmitglieder wie die Tante oder Omas und Opas vernachlässige ich mal) ganz konkret auf den eigenen Vorteil und die eigene Perspektive pocht. Man erkennt zwar, dass die Mutter auch für die Kinder mitkämpft, während Antoine bei schlechter Laune die Zeit mit seinem Sohn auch schon mal am Fernseher vertändelt, weil es ihm vor allem um sein Recht geht, aber die Ambivalenz bleibt bestehen.

Nach dem Urteil (Xavier Legrand)

© KG_Productions

Dennoch ist die Luft zum Schneiden, und bei einer Familienfeier hätte es mich auch nicht weiter gewundert, wenn Antoine plötzlich uneingeladen mit einer Kettensäge in den Saal gestürzt gekommen wäre. das Perfide an diesem Film ist, dass trotz der greifbaren Bedrohung und Angst (die Filme, die sich der Regisseur laut eigenen Angaben zum Vorbild nahm, waren Kramer vs. Kramer, Night of the Hunter und The Shining) das Scheidungsdrama dennoch exakt so verläuft, wie es heutzutage vermutlich jeder schon einmal direkt oder am Rande erfahren hat. Ich persönlich habe eine 19jährige Nichte, deren Eltern sich vor etwa 10 Jahren getrennt haben, und zwischen den dreien gehen auch seltsame Dinge vor, aber im Gespräch mit den Einzelparteien wird man auch nicht richtig schlau und gerät schnell in die Gefahr, sich durch zu energisches Nachhaken vom Bruder oder der Nichte zu entfremden, man goutiert somit schnell den jeweiligen Standpunkt oder leitet das Gespräch in entspanntere Richtungen. Und auch in meinem persönlichen Fall versucht ja nahezu jeder aus oft sehr egoistischen Gründen, die Personen zu manipulieren. Wobei das immer noch fast besser ist, als wenn man sich irgendwann gar nicht mehr für diesen oder jenen interessiert, leider auch eine Situation, die ich mehrfach in meiner Familie miterleben darf.

Kurz gefasst, Jusqu'à la garde ist ein Film, bei dem man sehr schnell persönlich involviert ist und die eigenen Erfahrungen mit in das Filmerlebnis einbringt. Und dies auf weitaus intensiverer Weise als etwa in einer Lovestory, die ja auch nur durch den eigenen emotionalen Background interessant wird. Eine Scheidung ist meistens das Gegenteil einer Lovestory, und für jede positive Emotion wird die Gegenbewegung nur noch stärker.

Intensives Kino, packend und intelligent inszeniert. Nicht drei andere Kritiken gegenlesen, sondern einfach mal was wagen!