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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




25. März 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


Cinemania-Logo 129:
Sellerie – something new,
something blue, something French


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  Nur eine Stunde Ruhe (Patrice Leconte)


Nur eine Stunde Ruhe
(Patrice Leconte)

Originaltitel: Une heure de tranquillité, Frankreich 2014, Buch: Patrice Leconte, Lit. Vorlage: Florian Zeller, Kamera: Jean-Marie Dreujou, Schnitt: Joëlle Hache, Musik: Éric Neveux, mit Christian Clavier (Michel Leproux), Carole Bouquet (Nathalie Leproux), Valérie Bonneton (Elsa), Rossy de Palma (Maria), Stéphane De Groodt (Pavel), Sébastien Castro (Sébastien Leproux), Christian Charmetant (Pierre), Arnaud Henriet (Léo), Jean-Pierre Marielle (Michels Vater), Elisha Camacho (Diana), 79 Min., Kinostart: 16. April 2015

Vielleicht habe ich Patrice Leconte immer nur missverstanden. In meinem Verständnis war das jahrelang jemand, der mit künstlerisch hohen Ansprüchen seine ganz eigene Nische beackert, sich dabei behauptet und respektable Arthouse-Erfolge erzielt. Wie ein französischer Winterbottom, wobei ich hier aber einwenden muss, dass ich mit einem französischen Kino erwachsen wurde, das noch nicht durch den Einfluss von Action-Produzent Luc Besson ähnlich (eigentlich noch stärker) verändert wurde wie etwa »New Hollywood« durch Spielberg und Lucas. »Französisches Kino« bedeutete in meiner Adoleszenz etwas Erwachsenes – nicht zwangsläufig »erotisch«, wie es in englischsprachigen Phrasen wie »French movies« oder »French novels« impliziert wird. Und an dieser Stelle kommt eine vermutlich viel zu lange autobiographische Exkursion.

Dass ich das französische Kino jenseits des Belmondo-Mainstreams für mich entdeckte, geschah so ab der zweiten Hälfte der 1980er, in meinen letzten Schuljahren, als ich nicht nur in der Provinz (zusammen mit meinem besten Freund und kinomäßigen Lehrmeister Christian) über das Kommunalkino erste Einblicke in »wirkliches« Kino erhielt, sondern öfters ins »Großstadtkino« (erst Bremen, dann Hannover, schließlich Hamburg) aufbrach, wir in Verden englischsprachige Originalvideos ausliehen (die britische Garnison hat auch ihre Vorteile) und ich so langsam statt »Cinema« lieber »epd Film« las. Erst nach seinem Tod nahm ich Truffaut richtig wahr, kam nach und nach mit Altmeistern wie Chabrol und Rohmer in Kontakt … doch vor allem war das auch eine Zeit, in der ich das französische Low-Budget-Kino von Nachwuchsregisseuren kennenlernte.

Mehdi Charefs Le thé au harem d'Archimède (1985) kam quasi Hand in Hand mit den Filmen von Stephen Frears, ein oder zwei Jahre nach Coline Serreaus Kassenschlager Trois hommes et un couffin (1985) holten wir im »Koki« ihren weitaus interessanteren Pourqui pas! (1977) nach, und ein ganz wichtiger Einschnitt war auch die Entdeckung des mittlerweile fast vergessenen Eric Rochant (Un monde sans pitié), dessen zweiten Film Aux jeux du monde (1991) wir tatsächlich als Original-VHS mit englischen Untertiteln sahen (bei »Artificial eye« hieß der »Autobus«, mit Yvan Attal und Kristin Scott-Thomas). Da taten sich neue Welten auf, auch mit den ersten Filmen von Léos Carax (Boy meets Girl, Mauvais sang), ehe sein Les amants du Pont-Neuf in vielerlei Hinsicht für dieses risikobereite französische Kino die selbe Rolle einnahm wie Ciminos Heaven's Gate fürs »New Hollywood«.

Zu dieser Zeit drängte sich auch Patrice Leconte in mein Sichtfeld, angefangen mit Monsieur Hire (1989) und dem großartigen Le mari de la coiffeuse (1990). In den nächsten Jahren verfolgte ich Lecontes Œuvre nicht fanatisch, aber er blieb immer auf dem Radar. Le parfum d'Yvonne (1994) versuchte zu sehr, einem Erfolgsrezept zu entsprechen, aber selbst beim seinerzeit aufsehenerregenden Episodenfilm Lumière et compagnie (1995) war er dabei. Oder probierte es mal auf Schwarzweiß mit La fille sur le pont (1999). Und dann verlief seine Karriere auch weiterhin parallel zu meiner Kinosozialisierung neben dem Filmstudium in Berlin, etwa mit den Berlinale-Beiträgen Félix et Lola (2001) und Confidences trop intimes (2004) oder dem in einer frühen »Französischen Filmwoche« gezeigten La veuve de Saint-Pierre (2000). Insbesondere letztgenannter war dann zwar schon etwas gediegen bis gutbürgerlich, aber immer noch mit Ambitionen.

Dann verlor ich Leconte aus den Augen (und es ist mir jetzt auch zu blöd, anhand seiner Filmographie und etwas Recherche Aussagen über die fast zehn Jahre zwischendurch abzugeben), und nun »nach Monsieur Claude die neue Komödie mit Christian Clavier« – manchmal sind Werbesprüche wie ein Messer, das einem in den Rücken gerammt wird.

Ich bin ja durchaus in der Lage, mich in andere Leute einzufühlen, und wenn jetzt jemand der Meinung ist, er (oder sie) hätte sich bei Monsieur Claude vorzüglich amüsiert – so heißt das ja noch lange nicht, dass man deshalb unbedingt den neuen Film mit dem Schauspieler, der die Titelrolle innehatte, sehen will. Aber so funktioniert die Vermarktung des französischen Kinos mittlerweile hier. Und erschreckenderweise ja auch mit Erfolg. Man braucht irgendeinen Kassenerfolg aus Frankreich (meistens Komödien, die an niedere Instinkte appellieren), mit etwas Glück laufen die auch hier (erfolgreiche Filme werden oft für gute Filme gehalten), und wenn man dann einen neuen Film mit einem Darsteller oder Regisseur eines dieser Filme hat, lockt man über den Wiedererkennungswert (manchmal auch durch einen geschickt manipulierten Titel vorgetäuscht) neue Zuschauer.

Für mich ist es aber so, dass mich solche vermeintlichen Vorschusslorbeeren entweder ganz abschrecken – oder ich gehe aus anderen Gründen ins Kino, hier also wegen Leconte. Der ja nichts dafür kann, wie sein Film hierzulande vermarktet wird. So dachte ich zumindest erst.

Das Schlimme bei Une heure de tranquillité ist aber, dass ich den Leconte, wie ich ihn definiere, hier kaum wiedererkenne. Im Presseheft erfuhr ich dann aber, dass Clavier und Leconte bereits drei Filme zusammen gedreht haben, und zwar allesamt Mainstream-Komödien. Die ersten beiden »Strandflitzer«-Filme (Les bronzés von 1978 und Les bronzés font du ski von 1979) standen auch am Beginn von Lecontes Kinokarriere, und im Jahr 2006 (also in meinem »Loch« in seinem Werk) kam man erneut zusammen und drehte Les bronzés 3: amis pour la vie. Grund genug, um im Presseheft Leconte jetzt als jemanden vorzustellen, der »beständig zwischen populären Komödien und anspruchsvollem Kino wechselt«. Man könnte ja jetzt einfach glauben, was die PR-Leute (die sich übrigens gerne als »Kollegen« der Journalisten bezeichnen) so schreiben, aber ich bin ein skeptischer Mensch. Und spätestens, wenn man im Presseheft schreibt, dass Leconte an Claviers Les visiteurs beteiligt war – und zwar chronologisch vor Monsieur Hire (zweimal hanebüchener Blödsinn, vielleicht hat da jemand beim Copy-Paste etwas auf die falsche Seite geworfen) und als Jahresangaben der »Les bronzés«-Filme »1978, 1998 & 2003« angibt (korrekt: 1978, 1979, 2006), schmeiße ich das Presseheft halt in die Tonne und konzentriere mich lieber auf meine eigenen Beobachtungen.

Michel (Christian Clavier) findet auf einem Flohmarkt ein (seiner Ansicht nach) seltenes und wertvolles Jazz-Album, für das er dem Verkäufer mehr Geld aufdrängt, als der haben will. Mit dieser seltsamen Situation beginnt der Film. Für mich war dabei aber besonders auffällig, wie dieser Flohmarkt inszeniert war. Wie aus dem Werbefernsehen oder einem Til-Schweiger-Film. Im unscharfen Hintergrund sieht man immer wieder eine schwer nachzuvollziehende fröhliche Farbenpracht. Ich war noch nie auf einem französischen Flohmarkt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man dort beispielsweise so verschwenderisch mit türkiser und knallroter Farbe um sich wirft. Dieser Farbenwahn zieht sich auch später durch den Film, am abgedrehtesten fand ich das neongrüne Kabel eines Staubsaugers.

Auf seinem Nachhauseweg ist Michel so außer sich vor Freude über sein Fundstück, dass man die Figur fast mögen könnte. Solange man nicht in der Tram neben ihm sitzt und er einen damit volllabert. Doch wenn man dabei sieht und hört, wie oft er den (aus seiner Sicht kolossalen) Titel des Albums wiederholt, quasi vor sich her singt (obwohl man später diese Passage gar nicht hören wird), dann ahnt man bereits sehr deutlich, dass »Me, Myself and I« eher etwas über die Figur als über die Musik (nein, hat nichts mit De La Soul zu tun) aussagt.

Eine Kurzfassung des Inhalts des Films würde sich so anhören. Michel findet auf dem Flohmarkt eine LP, die er schon lange suchte, trägt sie freudig nach Hause, doch es ist ihm nicht vergönnt, den Klängen zu lauschen, denn es kommt immer was dazwischen.

Interessant ist dabei, dass der gewünschte, erholsame Musikgenuss der Hauptfigur in der Inszenierung durch eine fast dauerpräsente Soundtrack-Suppe bekämpft“ wird. Vermutlich dachte man, dass dies noch unterstreicht, dass die Stunde Ruhe“ Michel ebenso wenig wie dem Zuschauer gegönnt wird.

Wenn man sich mit der Prämisse des Films, mit den teilweise an Blake Edwards (The Party!) erinnernden Slapstick-Einlagen vertraut gemacht hat, zeigt sich recht schnell, dass dies nur das Fundament ist, um nun langsam Michel Egozentrik herauszuarbeiten und tatsächlich etwas über diese Figur auszusagen, über sein angespanntes Verhältnis zu dem Sohn (nicht so erfolgreich wie erwünscht), die brach liegende Ehe und eine eher ungeschickt geheimgehaltene Geliebte (unerlässliche Elemente jeder Boulevard-Komödie), ehe man Michel dann auch noch im Zusammenspiel mit ganz normalen“ Menschen erlebt, etwa den schwarzarbeitenden polnischen Handwerkern, die aber eigentlich Portugiesen sind, und einigen Nachbarn. Und während die Wohnung zunehmend verwüstet und unter Wasser gesetzt wird und Michel irgendwann mitten in einer Nachbarschaftsparty, die in seine Wohnung umplaziert wurde, das HB-Männchen herauslassen kann, soll man nun seiner charakterlichen Wandlung folgen – und dem versöhnlichen Geniestreich, wie er jetzt doch noch etwas Ruhe – und vor allem Menschlichkeit – findet.

Einiges in diesem Film klappt nicht so wirklich, besonders störend empfand ich Almodóvar-Muse Rossy de Palma als schneuzende Haushaltshilfe und die Figur des Sohns, die dann gegen Ende Bedeutsamkeit aufgedrängt bekommt. Man merkt zwar, dass aus der Theatervorlage weitaus mehr gemacht wurde (insbesondere bei den Handwerker-Missgeschicken, den Szenen mit dem Fahrstuhl oder der Party im Innenhof), aber ich fand, dass man noch weit hinter dem Möglichen zurückblieb.

Nichtsdestotrotz habe auch ich mehrfach gelacht und es gab wirklich gelungene Momente, etwa mit dem aufdringlichen Nachbar Pavel oder den Handwerkern, die sich immer dann auf Verständigungsprobleme beriefen, wenn es ihnen in den Kram passte. Verglichen mit Monsieur Claude ist ein akzeptabler Humor um Integrationsprobleme (auch wenn die philippinische Großfamilie schon ein dickes fettes Klischee war – aber auch da bekommt man am Schluss immerhin ansatzweise noch die Kurve).

Une heure de tranquillité ist eine ganz akzeptable Komödie, die mit 79 Minuten Laufzeit sogar beinahe die im Titel erwähnte Stunde zum Realzeit-Thema macht. Aber wenn man anderthalb Jahrzehnte lang erlebt hat, wie Patrice Leconte wirklich etwas angefangen hat mit dem Medium Film, dann ist es schon sehr traurig, wie er mit dieser biederen Witznummer auf den Hund gekommen ist.

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That Lovely Girl
(Keren Yedaya)

Israel / Deutschland / Frankreich 2014, Originaltitel: Harcheck mi headro, Buch: Keren Yedaya, Lit. Vorlage: Shez, Kamera: Laurent Brunet, Schnitt: Arik Lahav-Leibovich, mit Maayan Turjeman (Tami), Tzahi Grad (Moshe), Yaël Abecassis (Shuli), Tal Ben Bina (Iris), 100 Min., Kinostart: 23. April 2015

Es gibt Filme, die sind zwar gut, aber irgendwie unerträglich anzuschauen. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist Naked von Mike Leigh, den ich mir ca zwei bis drei Jahre nach der Kinosichtung als VHS gekauft habe, aber nie wieder gesehen habe, weil ich noch tief in mir weiß, wie sehr ich die Hauptfigur gehasst habe. Auch ein ganz besonderer (und auf jeden fall großartiger) Film ist Boys don't cry von Kimberley Peirce, in dem es eigentlich um eine Transgender-Liebesgeschichte geht, der bei mir aber vor allem eine Scham hervorrief, dem selben Geschlecht anzugehören wie einige Figuren in dem Film.

That Lovely Girl (Keren Yedaya)

That Lovely Girl ist auch so eine Art Film, nur dass ich ihn weder so gut einschätzen würde wie die beiden Beispiele oben – noch so niederschmetternd, was die unangenehmen Aspekte angeht. Gerade dabei gibt sich Regisseurin Keren Yedaya, die sich laut Interview im Presseheft seit ihrem 16. Lebensjahr für die »Belange der Frauen in Israel« einsetzt, aber durchaus Mühe.

Es geht um die Beziehung der 22jährigen Tami (Maayan Turjeman) mit dem 60jährigen Moshe (Tzahi Grad). In der Romanvorlage hieß die Geschichte »Far from his absence«, in der Fassung des Films, die ich im Kino sah, gab es in den Untertitel eine Übersetzung des Originaltitels, die eine wichtige Information des Films schon recht früh aufdrängt, was evtl. auch meine Sichtung beeinflusst haben könnte. Deshalb versuche ich mal, darauf nicht weiter einzugehen, denn der Film war auch ohne dieses später deutlich werdende Wissen sehr deprimierend.

Tami verlässt kaum mal die wenig aufmunternde Wohnung, putzt und kocht und wartet auf die Rückkehr von Moshe. Das beschreibt schon einen Großteil der Handlung des Films, nur dass diese für sie verheerende Beziehung immer deutlicher und schrecklicher definiert wird. So lädt Moshe sie mal in ein Hotel ein, wo man sie beim gemeinsamen Frühstück sieht. Und die junge Frau, die ohnehin zum Rubenstyp tendiert, wird von ihrem älteren »Hausherren« geradezu gemästet. Man sieht ihr gequältes Lächeln (sie lässt so einiges mit sich machen), irgendwann geht sie dann aufs Klo zum Kotzen, und nebenbei flirtet Moshe noch mit der Kellnerin. Wer nicht mehr weiterlesen will, kann jederzeit aussteigen …

»Hast du dich übergeben?« – sie kann ihn offensichtlich nicht einmal anlügen. »Kannst Du kein gutes Essen mehr genießen?«

Und um die ganze Abhängigkeit, Unterwürfigkeit und das willentlich untergeschobene Schuldgefühl noch zu verstärken, bekommen wir auch Einblicke in das Sexualleben der beiden. Schon im Auto schiebt er ihr die Hand zwischen die Beine, später wird oben ein bisschen gegrabscht, der Slip ausgezogen, 40 Sekunden – und dann ein Schnitt dazu, wie sie ihm vorm Fernseher die Zehennägel schneidet.

Und es wird immer schlimmer. Er schlägt sie, sie ritzt sich, er macht ihr weitere Vorwürfe, verletzt sie dann besonders durch Sexentzug (!), verschwindet für Tage und bringt dann auch noch eine Frau mit, die fortan ebenfalls in der kleinen Wohnung einzieht …

Bevor es später ansatzweise besser wird, muss Tami noch einiges ertragen. Und bloß, weil sie sich irgendwann losreißt aus ihrem Käfig, heißt das noch lange nicht, dass der Film sich noch einige Erniedrigungen für sie aufgespart hat. Erträglich wird der Film eigentlich erst, als später eine Art »Retterin« auftaucht, was aber auch eine komplexe Figur ist (ich muss zugeben, dass ich erst dem Presseheft entnahm, dass sie Tami nie berührt, weil sie ihre eigenen Probleme hat – und ich war damit nicht der einzige im Kino). Aber das wirklich deprimierende an dem Film ist, dass Tami eigentlich gar keine Fluchtmöglichkeit bleibt, wie durch einen späten Traum oder ihre sehr eingeschränkten Kommunikationsversuche verdeutlicht wird. Wer immer mal sehen (und quasi für anderthalb Stunden am eigenen Leib erfahren) wollte, wie beschissen ein Leben sein kann, dem kann ich den Film empfehlen. Sonst eigentlich keinem, abgesehen von solchen Leuten, die sich emotionell komplett vom Gesehenen loslösen können und sich ganz auf die filmsprachlichen Aspekte konzentrieren. Aber so viel Bahnbrechendes wird da auch nicht geboten.

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  Das blaue Zimmer (Mathieu Amalric)


Das blaue Zimmer
(Mathieu Amalric)

Originaltitel: La chambre bleue, Frankreich 2014, Frankreich, Buch: Stéphanie Cléau, Mathieu Amalric, Lit. Vorlage: Georges Simenon, Kamera: Christophe Beaucarne, Schnitt: François Gédigier, Musik: Grégoire Hetzel, Kostüme: Dorothée Guiraud, Production Design: Christophe Offret, mit Mathieu Amalric (Julien Gahyde), Léa Drucker (Delphine Gahyde), Stéphanie Cléau (Esther Despierre), Laurent Poitrenaux (Le juge d'instruction), Serge Bozon (Le gendarme), Blutch (Le psychologue), Mona Jaffart (Suzanne Gahyde), Véronique Alain (La mère de Nicolas), Paul Kramer (L'avocat de Julien), Alain Fraitag (L'avocat d'Esther), Christelle Pichon (La greffière du juge), Mustapha Abourachid (Le brigadier), Olivier Mauvezin (Nicolas Despierre), Alexandre Patoyt (Le postier), Henri Cherel (L'hôtelier), Tonio Chanca, Jean-Yves Cresenville (Gendarmes), Nicolas Beliard (L'agriculteur en panne), Laetitia Lebreton (La secrétaire de Julien), Claude Picoron (Le pêcheur aux Sables), Grégory Bouron (Médecin légiste), Joseph Ancel (Le président du tribunal), 76 Min., Kinostart: 5. Februar 2015

Mal eben schnell was in einigen Wochen runterdrehen, statt sich bei seinem Stendhal-Projekt immer mehr zu verzetteln, wollte Mathieu Amalric (Tournée), also schnappte er sich einen Roman von Georges Simenon und legte los. Es ging ihm dabei um diese »heißkalte« Art von Frau, die Männer verrückt machen kann, und wenn man das als Ansatzpunkt nimmt, dann ist sein Film wirklich gelungen – denn diese heißkalte unbestimmbare Wirkung mancher Frauen, die hat auch der Film auf seine Zuschauer. Nur ist es nicht unbedingt so, dass man dies auch im Kino finden möchte.

Es beginnt mit einer Sexszene oder dam, was danach folgt, und das Hotelzimmer, in dem diese Szene stattfindet, gibt dem Film auch den Titel und nimmt somit eine zentrale Stellung ein. Nach dem leidenschaftlichen, fast brutalen Liebemachen gibt es einen Dialog: »Wenn ich auf einmal frei wäre, könntest du dich dann auch freimachen?«

Man weiß eigentlich noch gar nicht besonders viel über die Eckpfeiler der Beziehung zwischen Julien (Mathieu Amalric) und Esther (Stéphanie Cléau), da wird man in diese Offerte à la Strangers on a Train hineingeworfen, und bevor man (oder Julien) sich überhaupt sicher ist, ob die schnell zur femme fatale abgestempelte Geliebte das ernst meint, wird man auch schon von der Polizei befragt, Vernehmung und Gerichtsverhandlung treten an die Stelle der Handlung, die sich erst im Nachhinein aus den Zeugenaussagen ergibt. Der »unverlässliche Erzähler« oder der »unschuldig Angeklagte«, was ist Julien? Meines Erachtens wird diese Frage im Film noch konkret beantwortet, und das hat natürlich einen gewissen Reiz, aber ich empfand es in diesem Fall auch irgendwie unbefriedigend, hätte gern die Romanvorlage gelesen, dann den Film noch mal gesehen und dann ganz knallhart geurteilt. Doch der erste Eindruck war schon frustrierend genug.

Le chambre bleue bietet viel Interessantes, ambitionierte Ideen, ein komplexes Handlungsgerüst, wiederkehrende Themen, die clever in die Story eingearbeitet werden (etwa eine Biene, die auf dem Nabel der Geliebten auftaucht, die Julien dann zum Fenster geleitet, von wo aus er nackt Esthers Gatten sieht, seinen früheren Schulkameraden). Es geht auch um verschiedene soziale Ebenen, um offensichtliche Fake-Elemente der Inszenierung, die die Nähe zum Film noir verdeutlichen. Immer wieder konzentriert sich Amalric auf stille Momente, auf Details, teilweise ist der Film erzählt wie ein Manga, wo die Atmosphäre und das Drumherum oft wichtiger ist als die Handlung. Man merkt, wie dem Regisseur diese Verspieltheit Spaß macht, unerwartete Schnittkanten, ein Konfitürefleck auf einem Laptop, der wie die leidenschaftlichen Bisse schon die späteren Ereignisse visuell vorbereiten. Selbst für den Richter und dessen kleine Probleme nimmt sich der Film Zeit, nur eine lupenreine Auflösung verweigert er. Und vielleicht stimmt da auch was mit mir nicht, aber das hat mich – wie die zu Beginn erwähnte »heißkalte Frau« – schon ziemlich verrückt gemacht. Und zwar nicht im positiven Sinn.

Mit dem Romanwissen im Hinterkopf (wer weiß, vielleicht bleibt dort auch einiges offen …) hätte mir der Film sehr viel mehr Spaß gemacht, dessen bin ich mir sicher. Und hätte ich einige kleine Details besser miteinander in Bezug bringen können (also Zweitsichtung), vermutlich auch. Nur weiß ich nicht, ob ein Film so etwas im Normalfall vom Zuschauer erwarten oder gar fordern darf. Bei Prospero's Books oder L'année dernière à Marienbad mag das legitim sein – aber die bieten auch »unvorbereitet« einfach viel mehr als diese hübsche kleine Fingerspielerei.

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  Eine neue Freundin (François Ozon)


Eine neue Freundin
(François Ozon)

Originaltitel: Une nouvelle amie, Frankreich 2014, Buch: François Ozon, Lit. Vorlage: Ruth Rendell, Kamera: Pascal Marti, Schnitt: Laura Gardette, Musik: Philippe Rombi, mit Romain Duris (David / Virginia), Anaïs Demoustier (Claire), Raphaël Personnaz (Gilles), Isild Le Besco (Laura), Aurore Clément (Liz, Lauras Mutter), Jean-Claude Bolle-Reddat (Robert, Lauras Vater), Bruno Pérard (Eva Carlton), Mayline Dubois (Laura, 7 Jahre), Anna Mone dière (Claire 7 Jahre), Brune Kalnykow (Lucie, 7 Jahre), François Godard [d.i. François Ozon] (Homme cinéma), 105 Min., Kinostart: 26. März 2015

Ich habe beginnend mit Gouttes d'eau sur pierres brûlantes (dt.: Tropfen auf heiße Steine) alle Filme von François Ozon gesehen, seit Huit femmes (Berlinale) jeweils schon vor dem Kinostart. Ein eigentlich immer interessanter Regisseur, selbst trotz mancher Durchhänger (Angel, Ricky). Aber absolut nichts konnte mich auf diesen Totalausfall vorbereiten, der aus unerfindlichen Gründen bei manchen Kritikern sogar noch gut wegkommt. Vermutlich gehören einige davon zu dieser seltsamen Sorte, die sich im Falle einer persönlichen Unentschiedenheit gerne davon leiten lassen, wie ein Regisseur im Vorfeld so »angekommen« ist – und jemand wie Ozon bekommt dann »Narrenfreiheit«. Ich muss ja zugeben, dass ich einen Ozon-Film manchmal auch eher mit Samthandschuhen anfasse als beispielsweise den neuen Emmerich, aber wie sagt man so schön: »The kid gloves are off!«

Es beginnt mit einer Sequenz, die mich schon etwas gestört hat, weil ich öfters mal auf Details achte (Fachbegriff: Erbsenzählerei). Man sieht, wie eine zunächst noch nackte Frau angekleidet wird. Dies passiert in Detailaufnahmen, und wenn man schon mal zwei oder drei Filme gesehen hat, erkennt man recht schnell, dass die Frau offensichtlich tot ist (oder, streng genommen, eine Tote dargestellt wird). Der Regisseur geht aber wohl davon aus, dass er dieses Detail clever ausgespart hat und baut als große Überraschung jenen Moment auf, wo der toten Frau die Augen geschlossen werden. Dummerweise fragte ich mich schon in diesem Moment, warum ihre Augen denn überhaupt offen waren, wenn man sie gerade für den Sarg fertig macht … und leider wirkt es im Verlauf des Films so, als wären dieser Leiche so bis zu dreimal die Augen geschlossen worden (was darauf schließen lässt, dass sie zwischendurch auch wieder geöffnet werden). Dass wirkt nicht nur etwas pietätlos, es ist auch so, dass ich auch ohne Ausbildung beim Leichenbestatter einigermaßen sicher bin, dass die typische Filmszene des »Augenschließens« in realita nicht ganz so sanft und »wie von selbst« (der Darsteller schließt im Normalfall selbst die Augen, während sich die schützende Hand des Kollegen wie ein Vorhang darüberlegt) vonstatten geht. Von der Möglichkeit, die Augen zwischendurch wieder zu öffnen, gar nicht zu reden.

Ich war also schon von Anfang an etwas genervt, weil die ach so clevere Idee, die hinter diesem Blödsinn steht, für mich eben gar nicht so clever wirkte. Und das wurde schnell zum wiederkehrenden Thema des Films: Möchtegern-Cleverness!

Die gemeinsame Kindheit der besten Freundinnen Claire (erwachsen: Anais Demoustier) und Laura (erwachsen: Isild Le Besco) läuft schon eine Spur zu geordnet und pittoresk ab, Claire ist eigentlich vor allem damit beschäftigt, bei den (gerade auch amourösen) Aktivitäten von Laura mitzuhalten, und so bringt uns der Film relativ schnell an die Stelle, von der ab die eigentliche Geschichte beginnt: Laura ist bereits Mutter und kurz darauf tot, und Claire will Lauras niedergeschlagenen Witwer David (Romain Duris) dabei unterstützen, das Kind zu versorgen. Dabei stellt sie fest, dass David, mit dem Baby im Arm, in Frauenkleidern durch das prachtvolle Haus (Lauras Eltern sind reich) geht. Ertappt, erklärt er dies zunächst damit, dass das Baby immer schrie, weil es die Mutter wollte, und David durch diese Maskerade sein Kind quasi »entwöhnen« konnte. Später zeigt sich indes, dass David durchaus Geschmack gefunden hat an seinem Frauendasein.

Was ziemlich seltsam, unzeitgemäß und vor allem unerwartet bei Ozon als Regisseur abläuft, ist der shock value, die anfängliche Reaktion Claires, die komplett überfordert ist durch die leichte sexuelle Abweichung und anfänglich so tut, als wäre sie gezwungen, eine schwere Straftat zu verschweigen oder ähnliches. Das wirkt allesamt wie aus dem Boulevard-Theater der 1970er oder so, und wenn David im weiteren Verlauf mit Claires Hilfe seine neue Identität zum Beispiel vor den Schwiegereltern geheim hält (man kann sich vorstellen, wie schnell die ihm Haus und Kind wegnehmen würden), dann wird das Ganze schnell zu einer schrecklich biederen Witznummer, bei der David sowohl von einer regelmäßigen Rasur als auch vom Entfernen des femininen Lippenstifts auf völlig unglaubwürdige Weise überfordert ist – und alles nur für ein paar mittelgroße Lacher.

Auf solch einem Fundament kann man nur schwer einen Film aufbauen, der sich in angemessener Weise mit Fragen der Sexualität auseinandersetzt. Und auf Ozon bezogen wirkt es so, als wenn der einst als schwul auftretende Regisseur, der sich später zur Heterosexualität bekehrte, aus unerfindlichen Gründen alles vergessen haben muss, was früher mal in seinem Leben und in seinen Filmen offensichtlich eine größere Rolle gespielt hat. Hinzu kommt noch, dass Romain Duris sich zwar reichlich Mühe gibt, aber in dieser Rolle eher an Matthias Schweighöfer erinnert (mit Grauen denke ich an ein mögliches deutsches Remake). Gerade auch in den Filmen, in denen Ozon sich eher an vergangenen Dekaden orientiert hat (die erwähnte Fassbinder-Adaption, Huit femmes oder auch das waschechte Boulevard-Stück Potiche), zeigte er wenigstens Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Davon ist diesmal nur sehr eingeschränkt etwas zu merken. Der mit Abstand schlechteste Film dieses Regisseurs – und er hatte gerade mit Dans la maison und Jeune & jolie wieder eine durchaus gelungene Phase.

Das Einzige, was einem hilft, diesen Film zu ertragen, ist Anais Demoustier in ihrer durchweg passiv angelegten Rolle, in der sie fast immer nur reagieren, nie agieren darf (wobei die Art und Weise, wie sie zu Beginn schier »angewidert« ist von Davids Verhalten, auch ihr ein bisschen viel abverlangt). Als Zuschauer ist man eigentlich wie sie in einer »Opferrolle«. Oder besser der einer unfreiwilligen Beobachterin. Nur mit dem Unterschied, dass es einem weitaus schwerer fällt, diesen unzeitgemäßen Schmarrn ernstzunehmen.

Ein Indiz für die schiere Hilflosigkeit des Films ist auch das deutsche Plakat mit der farblich hervorgehobenen Geschlechts-Endung »in« bei »Freundin«. Wie gesagt, vor vierzig oder eher fünfzig Jahren mag das noch jemanden »geschockt« haben – heute ist es einfach nur noch lachhaft – in a very bad way.

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  3 Herzen (Benoît Jacquot)


3 Herzen
(Benoît Jacquot)

Originaltitel: 3 cœurs, Frankreich / Deutschland / Belgien 2014, Buch: Julien Boivent, Benoît Jacquot, Kamera: Julien Hirsch, Schnitt: Julia Gregory, Musik: Bruno Coulais, Set Design: Sylvain Chauvelot, mit Benoît Poelvoorde (Marc Beaulieu), Charlotte Gainsbourg (Sylvie Berger), Chiara Mastroianni (Sophie Berger), Catherine Deneuve (Madame Berger), André Marcon (Bürgermeister Castang), Patrick Mille (Sylvies Mann), Cédric Vieira (Sophies Freund), Thomas Doret (Gabriel), Francis Leplay (Arzt), 106 Min., Kinostart: 19. März 2015

Meine Rezeption von 3 cœurs ist deutlich verbunden mit äußeren Umständen. Gesehen habe ich den Film schon im Oktober, also fünf Monate, bevor ich die Kritik geschrieben habe. Damals wurden der geneigten Presse zwei Filme aus der Französischen Filmwoche vorgestellt, einer Veranstaltung, die abgesehen von der Berlinale eigentlich das beste ist, was einem Filmfreund in Berlin passieren kann. Den zweiten Film konnte ich aber an dem Tag nicht sichten, weil ich im Anschluss zu Third Person von Paul Haggis wollte (auch nicht die cleverste Entscheidung meines Lebens). Dennoch war ich zunächst guter Dinge, mal wieder ausführlich über die Filmwoche zu berichten. Als ich dann aber im Cinema Paris saß und dass Programm studierte, stellte ich fest, dass ein sehr hoher Prozentsatz (noch deutlicher als im Vorjahr) der gezeigten Filme einfach aus »Vorpremieren« von Filmen bestand, die in den nächsten Wochen und Monaten ohnehin schon einen deutschen Kinostart haben (einiges davon kannte ich sogar schon). Nach Willkommen bei den Sch'tis und Ziemlich beste Freunde ist es wohl so, dass aktuell weitaus mehr französische Filme den Weg in die deutschen Kinos finden (siehe auch dieses Cinemania) – doch leider ist fast im gleichen Atemzug auch das Qualitätsniveau gefallen. Ich würde sogar sagen, dass insbesondere die in Deutschland erfolgreichen Filme nicht unbedingt die besten Vertreter des französischen Kinos sind. Und um diese These noch zu untermauern, gab es bei der Französischen Filmwoche eine extrem überflüssige Vorführung der längst von viel zu vielen Deutschen gesehenen Rassismus-Komödie Monsieur Claude und seine Töchter (Langzeitlesern wird auffallen, dass ich diesmal gar nicht die Originaltitel der Filme benutze … das hat irgendwas damit zu tun, dass dieser ganze Dany-Boon-Komödien-Mist der Presse oft auch nur in der Synchro gezeigt wird, weshalb ich mir das dann auch oft spare und auf »richtige«, gute französische Filme warte).

Doch Regisseur Benoît Jacquot hatte uns zuletzt den Berlinale-Eröffnungsfilm Les adieux à la reine geschenkt, und bei der Besetzung der »drei Herzen« konnte man ja wohl etwas Hoffnung auf einen gelungenen Film mitbringen. Seufz!

Marc (Benoît »Mann beißt Hund« Poelvoorde) hat seinen Zug verpasst und sein Handy verloren und hängt irgendwo in einer provinziellen Geisterstadt, wo man kurz nach Sonnenuntergang die Bordsteine hochklappt, fest. Da trifft er auf Sylvie (Charlotte Gainsbourg), fasst sich ein Herz und spricht sie an (»Ich habe das Gefühl, uns ist vielleicht das Gleiche passiert«). Und spätestens beim Anzünden einer Zigarette etabliert die Kadrierung eine intime Nähe, die beiden quatschen die ganze Nacht durch und man verabredet sich sogar am Freitag in Paris. Allerdings ohne wirklich etwas über einander zu wissen oder auch nur die Telefonnummern ausgetauscht zu haben. Klingt soweit ziemlich ähnlich wie Richard Linklaters Before Sunset, nur mit dem Unterschied, dass die beiden etwa im Alter sind, in dem Linklater schon seine zweite Fortsetzung zum Ursprungsfilm gedreht hat – und man schnell herausbekommt, dass dies eben nicht wie bei Linklater Wien für beide eine fremde Stadt ist, denn Sylvie wohnt hier.

Ähnlich wie im zweiten Linklater-Film hängt hier vieles vom Wiedertreffen ab, beide haben auch durchaus hohe Erwartungen, aber Marc, übrigens ein Steuerprüfer (bekanntlich der romantischste aller Berufe), verpasst das Treffen ohne eigene Schuld (Herzprobleme hatte Ethan Hawke damals definitiv nicht).

Und als Sylvie dann ihrem Freund beichtet »Ich wollte fremdgehen, und er ist nicht gekommen!«, ahnte ich schon, dass dies kein Film für mich wird …

Am schlimmsten ist übrigens die immer wiederkehrende laute dräuende Musik, die mit einer gewissen sturen Verzweiflung versucht, dem Zuschauer immer wieder zu verdeutlichen, dass es hier um hochdramatische Ereignisse geht … nur schade, dass es einem im Verlauf des Films immer schwieriger fällt, irgendetwas ernstzunehmen. Angefangen mit einem rot-weiß gestreiften Feuerzeug, dass einem so häufig in Close-Ups gezeigt wird, dass selbst ein Blindenhund versteht, dass das noch eine Rolle spielen wird … bis hin zu einem aus der Filmgeschichte stibitzten Familien-Insider-Gag (das Lillian-Gish-Lächeln aus Griffiths Broken Flowers), das ebenfalls für eine Dramatik steht, die der Film nicht einlöst, weil seine zunächst noch einfallsreich wirkende Prämisse durch einen zunehmenden Grad an Unglaubwürdigkeit (und dazu immer wieder diese Musik!) zu einem immer schlimmeren Ärgernis wird.

Wie der Titel schon mehr als deutlich macht, geht es natürlich um eine Dreiecksgeschichte (na gut, hätte auch eine Herztransplantation sein können), denn nach dem verpassten Treffen zieht Sylvie nach Minneapolis, während der Steuerprüfer berufsweise zurück in das Provinznest muss, wo er mit Sophie (Chiara Mastroianni) dann doch vielleicht die Frau seines Lebens findet. Und der ganze hochdramatische Rattenschwanz des Films fußt jetzt auf dem plot twist, dass Sophie Sylvies Schwester ist, Marc das aber nicht mitbekommt. Oh Tragik, oh Ungemach, oh lass doch noch mal das dumpfe Musikthema anklingen! Die Art und Weise, wie der Film jetzt reichlich lange auf dieser auf lange Sicht unvermeidlichen Erkenntnis (für alle Beteiligten) herumreitet, das wäre eigentlich schon genug, um diesen Film (und die Art und Weise, wie er mit seinen Zuschauern umgeht) zu hassen. Es wird böse enden, wie bei Sophocles' Oedipus Rex (wo auch jemand geehelicht wird, ohne dass man sich vorher genau über verwandtschaftliche Zusammenhänge informiert), soviel steht eigentlich fest. Noch schlimmer ist aber eigentlich, wie lange es dauert, bis es endlich endet. Denn bevor die 106 Minuten unfreiwillige Farce ertragen sind, wird noch eine reichlich überflüssige Erzählerstimme eingebaut, eine Nebenhandlung um einen Bürgermeister begonnen, die vermutlich nur von irgendetwas ablenken soll … und wenn es dann endlich zur Erkenntnis kommt, geht das Versteckspiel natürlich erst richtig los, angeblich mit tiefen Gefühlen, die die Figuren überwältigen und überfordern.

3 cœurs hat zwar Phasen, in denen es offensichtlich ist, dass der Regisseur ebenso wie seine Darsteller (Catherine Deneuve spielt übrigens auch noch mit, als Mutter der Schwestern) durchaus wissen, wie sie ihren Job zu machen haben, doch all die unausgegorenen, plakativen und unfreiwillig komischen Elemente des Films dürften es vielen Zuschauern sehr schwer machen, über den aufgestauten Frust und Ärger hinwegzusehen. Wem das gelingt, dem wünsche ich viel Spaß mit dem Film …

Ende April in Cinemania 130:
Die Augen des Engels (Michael Winterbottom), German Angst (Jörg Buttgereit, Michal Kosakowski, Andreas Marschall), The Voices (Marjane Satrapi).