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1. Dezember 2019 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||||
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Deutschland 2019, Buch: Neele Leana Vollmar, Lars Hubrich, Lit. Vorlage: Bov Bjerg, Kamera: Frank Lamm, Schnitt: Hansjörg Weissbrich, Ana de Mier y Ortuño, Musik: Oliver Thiede, Kostüme: Genoveva Kylburg, Szenenbild: Michael Binzer, mit Damian Hardung (Höppner), Luna Wedler (Vera), Max von der Groeben (Frieder), Devrim Lingnau (Cäcilia), Ada Philine Stappenbeck (Pauline), Sven Schelker (Harry), Hans Löw (Bogatzki), Milan Peschel (F2M2), Anja Schneider u.a., 107 Min., Kinostart: 5. Dezember 2019
Neele Leana Vollmar ist eine mehrfach ausgezeichnete Regisseurin, die man vor allem für ihre Kinderfilme kennt. Rico, Oskar und die Tieferschatten (2014), Rico, Oskar und der Diebstahlstein (2016), Mein Lotta-Leben - Alles Bingo mit Flamingo! (2016). Ihren ersten großen Erfolg hatte sie aber schon 2009 mit Maria, ihm schmeckt's nicht!, in meinen Augen ihr schwächstes Werk (allerdings hatte ich damals aber auch schon genug von Christian Ulmen, der ja im Moment abgefeiert wird, dass es für mich eine Tortur ist).
Bei ihrem ersten eigenen Drehbuch (nach Buchvorlage, mit Co-Autor) hat sie nun eine Geschichte mit knapp achtzehnjährigen ausgewählt - und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass jene Nuancen, für die man sie bei der Charakterisierung ihrer Kinderfiguren lobt, für erwachsene Figuren irgendwie nicht genug ausformuliert sind.
Auerhaus ist hier der Name einer eigenverantwortlichen WG, in der Erzählerfigur Höppner sich um seinen suizidgefährdeten »Freund« Frieder kümmern will (für den deutlich spannender als in der Geschlossenen zu sitzen). Eigentlich schreibt Frieder immer nur für Höppner die Hausaufgaben, aber eine gewisse Verbundenheit gibt es schon. Die gemeinsame Schulkameradin Vera, Höppners FSK-12-Freundin, will auch mithelfen, warum die vermeintliche Streberin Cäcilia sich noch zu ihnen gesellt, wird nur im Ansatz (aber zunehmend deutlicher) klar.
Das Setting wirkt ein bisschen wie »Breakfast Club auf dem Dorfe«, und die 1983 spielende Geschichte entblödet sich nicht, als Inspiration für den eigentümlichen Hausnamen einen damals gerade aktuellen Song der Band Madness zu zitieren.
Mein Problem, das vermutlich schon in der Buchvorlage erkennbar war: Alles ist einerseits viel zu hübsch zusammengestellt (im Deutschunterricht bespricht man natürlich gerade Die Leiden des jungen Werthers, was zu Parallelüberlegungen über Frieder herangezogen wird), aber gleichzeitig gibt man sich den Anstrich, besonders frei und locker die Geschichte zu erzählen.
Die vielleicht beste Idee des Films: Wer sich beim Geschirrspülen nicht an die Pflichten hält, dessen Foto landet auf einem der damals so allgegenwärtigen Terroristen-Steckbriefe.
Die wohl (zumindest aus meiner Sicht) schlechteste Idee war es, das Erzähler Höppner gleich zu Beginn des Films klarstellt, dass er an dem späteren Tod von Frieder keine direkte Schuld hat. Das klingt wie ein Pulverfass, bei dem man nur noch nicht weiß, wie lang die Zündschnur brennt, nimmt dem Ganzen aber einen Großteil der Spannung (einen Selbstmörder kann man ohnehin nur schwer an seinem Vorhaben stoppen), und der gesamte Film plätschert mit unterschiedlich interessanten Baustellen ein wenig vor sich hin.
Zwar hat es einen Anstrich des Authentischen, wenn man Höppner und Vera bei ihrer langsam verunglückenden Beziehung zuschaut, wo sie Eifersucht empfindet, wenn er nach einen Badminton-Doppel seine Mitspielerin umarmt, sie sich ihm aber immer wieder entzieht und sich stattdessen anderswo ausprobiert (statt Sex ein prägender Dialogsatz: »Lust auf Mau Mau?«). Aber andererseits sind die obligatorischen Konflikte, die dem Film einen gewissen Impetus verleihen sollen, auch einfach zu überzeichnet. Wenn man später die »Pyromanin« Pauline aufnimmt und die auf dem Heuboden quartiert, wirkt die ganze Situation wie für ein paar Kalauer zusammengefriemelt.
Die vielleicht interessantesten Aspekte des Films, Höppners Beziehung zu seinem »F2M2« (»fester Freund meiner Mutter«, gespielt von Milan Peschel) und der letzte Neuzugang im Haus, Harry, dessen offene Homosexualität aber auch kaum über den Klischeestatus hinauswächst.
Ich kann mir vorstellen, dass es anderen Zuschauern besser gelingt, sich in einigen der Figuren wiederzuerkennen, was der Akzeptanz des Films sicher helfen würde. Aus meiner Sicht kam die Story (nebst Tragik) aber nie in Fahrt und der Humor und die Beziehungsdramatik reichen für mich nicht aus, um einen positiven Gesamteindruck zu hinterlassen.
Originaltitel: Deux moi, Frankreich / Belgien 2019, Buch: Santiago Amigorena, Cédric Klapisch, Kamera: Élodie Tahtane, Schnitt: Valentin Féron, Musik: Loïc Dury, Christophe Minck, Kostüme: Anne Schotte, Production Design: Chloé Cambournac, mit François Civil (Rémy Pelletier), Ana Girardot (Mélanie Brunet), Camille Cottin (La psy de Mélanie), François Berléand (J.B. Meyer - le psy de Rémy), Simon Abkarian (Mansour - l'épicier), Eye Haidara (Djena), Rebecca Marder (Capucine Brunet), Pierre Niney (Mathieu Bernard - le copain de lycée), Zinedine Soualem (Le pharmacien), Virginie Hocq (La pharmacienne), Paul Hamy (Steevy), Marie Bunel (Madame Pelletier), Patrick d'Assumçao (Monsieur Pelletier), Garance Clavel (La belle-soeur de Rémy), Vincent Scalera (Le frère de Rémy), Emmanuelle Bouaziz (La soeur de Rémy), Satya Dusaugey (Le beau-frère de Rémy), Brune Renault (Charlott), Candice Bouchet (Chloé), Quentin Faure (Guillaume), Jeanne Arènes (Lucie - la collègue biologiste), Michel Lerousseau (Le directeur de recherche), Nadège Beausson-Diagne (La voisine aux chats), Emile Klapisch (Le premier enfant de la soeur de Rémy), Cédric Klapisch (L'homme qui a une femme lacanienne), 110 Min., Kinostart: 19. Dezember 2019
Vor zwanzig Jahren hätte man vielleicht gesagt, dass Cédric Klapisch ein frischen »jungen« Inszenierungstil habe, aber mit der Zeit nutzt dieser sich ab.
Bei seinem letzten Film, Ce quis nous lie, konnte man einen gewissen Reifeprozess erkennen - zwar ging es immer noch um twenty- und thirtysomethings, aber diese befassten sich ansatzweise um Themen, die über bloße Beziehungs- und Familiengründungen hinausgingen. Wirklich stärker erreicht hat mich das auch nicht. Jetzt probiert er es noch mal mit einer der ältesten Geschichten überhaupt, boy meets girl, versucht daraus aber etwas neues zu basteln.
Es ist nicht Klapischs Schuld, dass ich eine sehr ähnliche Variation dieser Geschichte in diesem Jahr bereits einmal im deutschen Film Gut gegen Nordwind sah, dem man zumindest attestieren musste, dass sein mit Tschirner und Fehling besetztes designiertes Paar zumindest eine funktionierende Chemie hatte, selbst, wenn die beiden kaum gemeinsame Szenen hatten.
Auch Klapisch spielt mit einem unendlich verzögerten Treffen eines jungen Mannes und einer jungen Frau, die sich eigentlich dauernd über den Weg laufen, sich aber irgendwie nicht wahrzunehmen scheinen. Die Filmlogik verlangt, dass wir als Zuschauer auf die Idee sollen kommen, die beiden seien womöglich »füreinander bestimmt«, wie es zumindest für das Drehbuch zutreffen dürfte.
Fast noch während des Vorspanns, bei dem sich Klapisch mal wieder in Spielereien und schwungvoller Musikbegleitung ergeht (überdeutliche Montage zur Musik, mehrfach gezeigte Einstellungen, Disco-Lichtblitze, Zeitraffer, Splitscreen, das volle Programm, zum Teil repräsentativ für wiederkehrende Alltagsabläufe, aber halt auf »hip« aufgehübscht), sitzen die beiden zur Titeleinblendung nebeneinander in einer U-Bahn, die sie offenbar regelmäßig zur selben Zeit für die selbe Strecke nutzen.
Sie wohnen auch in zwei Häusern, die nebeneinander stehen, und zwar so, dass ihre Wohnungen sich wieder in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Während sie, Mélanie (Ana Girardot) eine verhuschte Wissenschaftlerin ist, die mit einer wichtigen Rede betraut wurde, was ansatzweise wie ein Spannungsbogen daherkommt, stolpert er durch niedere Jobs, für die er sich auch nicht wirklich interessiert, etwa Lagerist oder Telefonist in einem Call Center, woraus auch eine rudimentäre Handlung herausgeschlagen wird (die Call-Center-Szenen waren für mich natürlich am spannendsten, wirkten sogar erstaunlich authentisch).
Es mag hart klingen, aber letztendlich sind beide Langeweiler mit unübersehbaren sozialen Defekten, und dass beide regelmäßig dem jeweiligen Therapeuten ihr Leid klagen, macht sie auch nicht spannender.
Und dann geht es den ganzen Film lang darum, ob und wann sie sich treffen - und was danach passiert. Passend zum Filmtitel könnte man sagen, dass sie schon lange Zeit »zusammen« wohnen, es aber nicht merken. Sie kümmern sich um die selbe entlaufene Katze (ja, so einen Film gab es auch schon mal von Klapisch), frequentieren den selben Multi-Kulti-Laden (wo sie auf einen Tanzkurs hingewiesen werden). Sie wird von Freundinnen genötigt zu tindern, er lernt die Kollegin aus dem Call-Center kennen - aber das Richtige ist das noch nicht.
Und so weiter und so fort, manchmal tatsächlich mit poetischen Anwandlungen.
»Manchmal ist Zerbrechlichkeit eine Stärke.« Falls dies auch für Deux moi gelten soll, dann verzichte ich lieber. Nicht spannend, nicht besonders witzig, ganz sicher nicht romantisch oder von bleibendem Wert. Falls die eine Szene, in der sie all ihre Zerbrechlichkeit zeigt, in mir einen unbremsbaren Beschützerinstinkt wecken sollte, habe ich eher recherchiert, inwiefern man sich kopfschüttelnd die Handfläche vor die Stirn knallen kann - gar nicht so einfach!
Originaltitel: Ut og stjæle hester, Norwegen / Schweden / Dänemark 2019, Buch: Hans Petter Moland, Lit. Vorlage: Per Petterson, Kamera: Rasmus Vidbæk, Schnitt: Jens Christian Fodstad, Nicolaj Monberg, Musik: Kaspar Kaae, mit Stellan Skarsgård (Trond Sander), Bjørn Floberg (Lars Haug), Tobais Santelmann (Tronds Vater), Jon Ranes (Trond mit 15), Pål Sverre Hagen (Jons Vater), Danica Curcic (Jons Mutter), Gard Eidsvold (Franz), Tone Beate Mostraum (Tronds Mutter), Maria Alm Norell, 123 Min., Kinostart: 21. November 2019
Eigentlich habe ich mir jahrelang ein gutes Verhältnis zum norwegischen Regisseur Hans Petter Moland aufgebaut. Als er 2004 erstmals im Berlinale-Wettbewerb auftauchte und für The Beautiful Country eine Story-Idee von Terrence Malick umsetzte, vertrat ich noch den mittlerweile umgehend revidierten Standpunkt, dass Malick zu den großen Filmtalenten unserer Zeit gehört und es ein großer Glücksfall ist, dass er zum Filmemachen zurückgefunden hat (wenn mittlerweile ein neuer Malick in einer Pressevorführung gezeigt wird, setze ich eher bevorzugt meine Bürozeiten auf diesen Termin und freue mich, dass ich da während der Arbeit nichts verpasse).
The Beautiful Country war ein guter Einstieg, und auch mit dem eigentümlichen Humor von Molands Berlinale-Filmen wie En ganske snill mann und Kraftidioten konnte ich mich anfreunden, auch wenn ich auf seine Verfilmung des meines Erachtens stark überschätzten Jussi Adler-Olsen und seine US-Version von Kraftidioten (mit niemand geringerem als Liam Neeson) verzichtet habe, war ich doch voller Vorfreude auf einen weiteren Berlinale-Wettbewerbs-Beitrag, der noch dazu den Silberne Bären für die herausragende künstlerische Leistung und fünf norwegische Amandas (u.a. bester Film und beste Regie) absahnte.
In der Hauptrolle hatte Moland mal wieder Stellan Skarsgård besetzt, der die oben genannten Zusammenarbeiten mit Moland mit seinem lakonischen Zeitlupencharme erfüllt hatte.
Doch bei der Literaturverfilmung des internationalen Bestsellers Ut og stjæle hester von Pet Petterson, bei der Moland besonders stolz darauf ist, dass er die Buchhandlung komplett übernommen hat, hat Moland offensichtlich nicht bedacht, dass Bücher nach teilweise komplett anderen Regeln funktionieren als Filme. Wenn beispielsweise ein Erzähler in fortgeschrittenem Alter von seinen Erfahrungen als 15jähriger erzählt, so kann man in einem Buch zwischen den Zeitebenen springen und der Leser erlebt die Geschichte quasi parallel, wobei gerade die Erzählerperspektive hochinteressant ausfallen kann.
In dieser Hinsicht erinnerte mich die Ut og stjæle hester-Verfilmung in umfassender Weise an Bücher von John Irving, besonders Last Night in Twisted River, wo es nicht zuletzt auch ums Holzfällen geht.
Beim Film Ut og stjæle hester war ich ohne Lektüre des Romans reichlich überfordert. Erst geht es um knorrige alte Kerle in einer Winterlandschaft, dann um junge Kerle und die typisch irving'schen Unglücke und Hormonstauungen. Man ahnt zwar, dass der etwas seltsame Nachbar aus der Jetztzeit (bzw. spielt der Teil im Jahr 1999) auch in der ausgedehnten Vergangenheitsepisode eine Rolle gespielt hat (was auch nach und nach so aufgeklärt wird), aber wie hier über gefühlt zweieinhalb Stunden nach und nach einige Familiengeheimnisse nicht wirklich gelüftet, sonder eher so vage angedeutet werden und ich dann kurz vor Ende des Films a) begriffen habe, dass es vor allem um Tronds Verhältnis zu seinem Vater geht ... b) nicht auf Anhieb begriffen habe, was jetzt plötzlich für eine Frau in der Jetztzeit ein Rolle spielt, die ich zunächst fast zwanghaft irgendwo in der Vergangenheits-Geschichte einordnen wollte, hatte ich ein großes Problem damit, dass die vage zusammengereimten Erkenntnisse aus dem Film für mich keineswegs so dramatisch waren, wie ich sie wohl empfinden sollte.
Wenn man zwei Stunden lang versucht, eine Dramaturgie nachzuvollziehen, die sich offensichtlich nicht aus dem dargebotenen Medium speist, sondern aus einer unbekannten Buchvorlage, die womöglich sogar hervorragend klappen könnte, weil man darin vermutlich deutlich mehr über den wortkargen Kauz erfährt, den Skarsgård im Film in vergleichsweise wenigen Szenen darbietet, kann man sich schnell auf verlassenen Posten zurückgelassen fühlen. Und wenn dann auch noch die vermeintlichen Schlussgags, die allem eine Bedeutung verleihen sollen, kraftlos verpuffen, dann fällt es schwer, zu diesem Film eine Beziehung aufzubauen.
Wenn man die Geschichte des 15jährigen Tronds, seines Vaters und der wenigen anderen Personen in der Naturlandschaft Norwegens von einer Erzählerstimme erzählt bekommen hätte, die ja meinetwegen auch von Stellan Skarsgård geliefert werden hätte können, so bilde ich mir ein, dass man sich viel stärker auf die Geschichte des 15jährigen eingelassen hätte, und vieles viel stärker gewirkt hätte.
Das sind aber nur meine sprichwörtlichen fünf Cents, natürlich kann ich nicht ohne Kenntnis des Buches (und umfassendem Verständnis der Filmgeschichte) Lösungen für Probleme finden, die offenbar Kenner der Buchvorlage nicht einmal als solche wahrnehmen. Was fest steht: Der Film ging größtenteils an mir vorbei (obwohl ich hellwach war) und löste an mir auch nicht das Begehren aus, im Nachhinein das Buch zu lesen (was ich zum Teil selbst bei ärger vermurksten Verfilmungen noch verspüre).
Schweiz / Deutschland 2018, Buch: Simon Jaquemet, Kamera: Gabriel Sandru, Schnitt: Christof Schertenleib, Location Sound Mix: Robert Keilbar, Tonschnitt: Roland Widmar, mit Judith Hofmann (Ruth), Naomi Scheiber (Naomi), Christian Kaiser (Hanspeter), Thomas Schüpbach (Andreas), Anna Tenta (Meike), Urs-Peters Wolters (Paul), 114 Min., Kinostart: 4. Dezember 2019
Es gibt Filme, die sind so missraten, dass man die Menschheit davor warnen sollte. Und andere, die sind derart neben der Spur, dass man sie gesehen haben muss. Manchmal ist es sehr schwierig, hier die perfekte Grenze zu ziehen, die mitunter auch individuell von jedem Rezipienten mit seinem charakteristischen psychischen Profil abhängig ist.
Gängige Inhaltsangaben zu diesem Film ordnen die Geschehnisse chronologisch, die Geschichte beginnt dort vor zwanzig Jahren und eine Entwicklung, die nie konkret Bestandteil der Narration ist, sich aber bei genauer Analyse ergibt, wird in diesen Inhaltsangaben einfach gleichberechtigt zu dem, was im Film gezeigt wird, aufgetischt.
So hingegen entwickelt sich der Film: Bei einer seltsamen Art religiöser Veranstaltung, irgendwo zwischen Seminar und Gottesdienst, bricht eine Frau, Ruth, zusammen und erbricht sich. Mit irgendwas kommt sie absolut nicht klar.
Wir sehen Ruth später mit ihrer Familie (Gatte Hanspeter, zwei Töchter), und die komplette Familie scheint hochgläubig, stark vernetzt mit einer lokalen Freikirchen-Gemeinde (Begriff aus dem Presseheft übernommen, mit solchen religiösen Details bin ich nicht vertraut). Alle wollen Ruth helfen, ihre (Glaubens?)-Krise zu überwinden.
Nebenbei ist Ruth aber auch Wissenschaftlerin und arbeitet aktuell mit an einem spektakulären Projekt: die erste Ganzkopftransplantation an einem Rhesusaffen. Auch hier bin ich bei den Details nicht ganz sicher, aber einer der zwei Affen hat wohl einen schweren Rückenschaden, und durch einen neuen Kopf / ein neues Hirn erhofft man, dass er dieses Problem meistern kann. Für den anderen Affen scheint der Deal nicht besonders erstrebenswert, aber das wird nicht thematisiert.
Erst mit Verspätung geht es dann um die Titelfigur, den Unschuldigen, Ruths früheren Verlobten, der vor zwanzig Jahren seine Erbtante ermordet haben soll und dafür nach einem umstrittenen Indizienverfahren lebenslänglich im Gefängnis landete. Ruth hatte ihn während des ganzen Verfahrens unterstützt, an seine Unschuld geglaubt, aber nach der Verurteilung löste er sich von ihr - und hier setzt der allenfalls implizierte Teil der Inhaltsangabe ein, denn Ruth muss offensichtlich einen neuen Halt in der Kirche gefunden haben und mit Hanspeter eine Familie gegründet haben.
Das Problem: der Verlobte, Andreas, wurde jetzt entlassen, und an dieser Stelle teilt sich der Film im Nachhinein in zwei Teile, denn es ist nicht ganz sicher, ob Andreas später bei einem Vorfall mit einer Eisenbahn verstarb ... oder er seinen Tod nur vortäuschte und plötzlich bei Ruth vor der Tür steht (aber so, dass der Rest der Familie es zunächst nicht mitbekommt). Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass Ruth sich das alles nur einbildet, sie sich ein besser funktionierendes Leben mit der einstigen Liebe ihres Lebens zurückwünscht, während sie eine lang unterdrückte, körperliche Reaktion zu dem ganzen Kirchenkram hat.
Irgendein schlauer Mensch beim »Film Bulletin ch« sieht eine Verbindung zwischen dem kopftransplantierten Affen, der nicht ohne weiteres mit seinem neuen Kopf klarkommt, und Ruth, der praktisch ein neues Leben aufgestülpt bekommen hat. Das würde fast nach einem gelungenen, empfehlenswerten Film klingen.
Aber nicht nur die Art und Weise, wie der für sein Debüt Chrieg abgefeierte Regisseur Simon Jaquemet diese Geschichte erzählt, lässt einen daran zweifeln - es geht auch noch um soviel anderes im Film. Jaquemet hat laut Presseheft - ähnlich wie ich - keinen besonderen Zugang zu Religion, die Schilderung der »Freikirche« wirkt irgendwie sehr unstimmig, fast unfassbar (kann aber auch an mir persönlich liegen). Dann gibt es allgemeine Eheprobleme, und auch mit ihrer Tochter Naomi gerät Ruth aneinander - bis Ruth Naomi eines Nachts quasi stalkt, weil deren Übernachtung bei einer Freundin offenbar etwas anderes verbirgt. Die nächtliche Szene, bei der ich mir nicht sicher war, ob es hier um eine durchgedrehte Mutter geht oder um die Rettung vor einer sexuellen Misshandlung, diese Szene gibt dem ganzen Film gleich noch mal eine zusätzliche Schräglage, die es einem schwer machte (vorher war es auch nicht einfach), sich auf diese Geschichte einzulassen.
Nach und nach zweifelt man an einzelnen Elementen von Ruths Wahrnehmung, und wegen meiner persönlichen Abneigung gegen vieles Religiöses, Abendessen mit Gebet etc., zweifelte ich schon früh im Film, ob ich mir das wirklich antun will.
Nach der Waldszene mit Gruppenpimpern und Stockschläge wurde es nicht besser, aber anders als bei anderen Filmen, bei denen ich nicht das geringste Problem damit habe sie abzubrechen - und nie zu erfahren, wie es weiterging - habe ich mir hier gedacht, dass ich schon weit über das Bergfest herauswar und jetzt auch wissen will, was der Jaquemet noch so durchgedrehte Sachen abzieht.
Und das Finale war so unglaublich spinnert (aber dabei von einer zielgerichteten Nonchalance bestimmt), dass das Ende den Film für mich zwar keineswegs retten konnte - aber für mich habe ich entschieden, dass man dieses Ende gesehen haben sollte, wenn man diesem Film bereits eine Stunde seiner Lebenszeit anvertraut hat.
Vieles an der Inszenierung oder dem Spiel von Judith Hofmann ist durchaus interessant bis lobenswert, aber empfehlen würde ich diesen Film ganz sicher niemandem. Nicht einmal den wenigen Menschen aus meinem Umfeld, die einen religiösen Tatsch haben - diesen vielleicht noch weniger als anderen.
Deutschland 2019, Buch: Hortense Ullrich, Lit. Vorlage: Sheridan Winn, Kamera: Markus Kanter, Schnitt: Zaz Montana, Thomas Rath, Musik: Anne-Kathrin Dern, Songs: Fnshrs. & Sera Finale, Musikberatung: Christian Steinhäuser, Kostüme: Birgit Hutter, Szenenbild: Christoph Kanter, Choreographie: Selatin Kara, mit Laila Marie Noëlle Podotzki (Flame), Leonore von Berg (Sky), Hedda Erlebach (Marina), Lilith Julie Johna (Flora), Katja Riemann (Glenda), Justus von Dohnányi (Oswald), Anna Thalmann (Mrs. Duggery), Doris Schretzmayer (Ottalie Cantrip), Gregor Bloéb (Colin Cantrip), Trixi Janson (Verena), Linus Bruhn (Himself), 93 Min., Kinostart: 9. Januar 2020
Ich muss zugeben, bei diesem Film bin ich sauer geworden. Eigentlich nicht beim Film selbst (da habe ich so meine Praktiken, auch schlimmen Scheiß zu durchstehen), sondern vor allem, als ich Wochen später für meine Kritik die Materialien herunterlud und den Fehler machte, im Presseheft virtuell zu blättern.
Die Art und Weise, wie man sich hier auch noch stolz auf die Schulter schlug, war schon ziemlich widerwärtig (und leider weiß ich aus Erfahrung, dass manche »Journalisten« hier gerne Passagen übernehmen, weil man so natürlich auch viel schneller arbeiten kann).
Zum Einstieg mal ein ausuferndes Beispiel (alle Kursivsetzungen von mir ergänzt [Filmtitel ursprünglich in Großbuchstaben], Anführungsstriche meinem Stil angeglichen, alle seltsamen Formulierungen und Schreibweisen unverändert übernommen):
Mit ihrer 2003 gegründeten blue eyes Fiction ist Corinna Mehner längst eine Spezialistin in Sachen Family Entertainment. Sie gilt als Marktführerin in der EU für CG/VFX-lastige Produktionen mit hohem Production-Value. Das unabhängige Produktionshaus setzt bei fast allen seinen Filmen auf animierte Charaktere und/oder technisch wegweisende Visual Effects. Das Portfolio der Münchner Firma weist Hits wie die Hexe Lilli-Filme, Ritter Trenk (2015) oder die Geschrumpft-Reihe auf [...]. »Unser Steckenpferd ist der sogenannte Hybridfilm, Live-Action-Movies mit viel VFX-Anteil beziehungsweise Animation«, erklärt Mehner. Aufgrund des hohen Budgets der Produktionen, holt sich blue eyes stets europäische Partner an Bord. »Unsere Koproduktionen entstehen heute meist sogar schon mit vier Ländern. Wir sind extrem gut vernetzt, haben gute Kontakte zu den europäischen Förderstellen und VFX-Studios. [...]«, führt Mehner aus.
Wie hier das Prinzip Euro-Pudding und die Ausschöpfung diverser Fördertöpfe (über ein Dutzend!) quasi als »kreative Tugenden« ausgeführt werden, finde ich schon bemerkenswert. Dass der »sogenannte Hybridfilm« längst eine Art internationaler Standard ist, weil sich in der Filmbranche ja gefühlt fast alles nur noch um Superhelden, Fantasy und Science-Fiction dreht, wird nicht erklärt, dass der Unterschied zwischen beispielsweise Harry Potter und Vier zauberhafte Schwestern ein riesiger ist, ebenfalls nicht.
Noch ein hübsches Zitat aus dem Presseheft (Verkürzungen jeweils bei den Nennungen früherer Filme der DarstellerInnen):
Grandios gibt Katja Riemann [...] eine Galavorstellung als böse Glenda, die Kröten spuckt und ihren, von Justus von Dohn√°nyi [...] mit viel Witz gespielten Butler, schon mal in ein Wildschwein verwandelt.
Abgesehen von der Schwäche bei der Kommasetzung fällt auf, dass die vermeintliche »Galavorstellung« von Katja Riemann sich selbst in der Eigendarstellung im Presseheft gänzlich in der Erwähnung der verwendeten Spezialeffekte erschöpft. Ich will zugeben, dass die Zusammenarbeit mit dem CGI-Studio beim Krötenspucken von Frau Riemann durchaus Fähigkeiten verlangt, die ich auf Anhieb vermutlich nicht abliefern könnte, aber schauspielerisch ist selbst der »mit viel Witz gespielte Butler« keine Großleistung, es handelt sich auch bei den Auftritten von Anna Thalbach um ein perfektioniertes Possentheater, das mitunter fast schmerzhaft ist.
Der Fokus des Films liegt aber auf den Titelfiguren, und hier konnte ich durchaus erkennen, dass Sheridan Winn, die Autorin der Kinderbuch-Bestseller-Reihe um die Sprite Sisters, tatsächlich viel Planung in das Design der generischen Standard-Kinderhelden hat einfließen lassen. Wenn man begriffen hat, dass bei den vier altertümlichen Standard-Elementen die Erde hier vor allem für die Pflanzenwelt steht, kann man die Schwestern anhand ihrer Namen Flame, Sky, Flora und Marina ohne die geringsten Probleme den Elementen zuordnen. Sie tragen auch zum Teil tagelang sehr ähnliche Bekleidung, die es erleichtert, Name und Zauberkräfte zuzuordnen. Zwischendurch essen sie auch mal Speiseeis, und selbst dabei passt die Wahl der (eingeschränkt zur Verfügung stehenden) Geschmacksrichtungen nachvollziehbar zu den Schwestern: Flame und Flora laben sich am schweren Schokoladeneis, Sky und Marina bevorzugen luftige Vanille.
Warum ich so was aufschreibe? Weil es das mit Abstand interessanteste am Film war.
Kurzzusammenfassung: Jüngste Schwester bemerkt, dass sie Zauberkräfte hat - wissen die anderen schon länger, weil mit elf Jahren manifestiert. Im Keller des schlossähnlichen Gebäudes, dass sie mit den Eltern bewohnen, können sie mit ihren acht Händen einen phallusähnlichen Elbenstaubspender entstehen lassen, was die böse Glenda (Riemann) ins Spiel bringt, die Zwietracht sät, damit die Familie »Cantrip Towers« verkauft. Vage Andeutungen einer Familiengeschichte, die in den Folgebänden sicher noch ausformuliert wird. Mrs. Duggery, eine weitere Dame mit Zauberkräften (Thalbach) mietet alle Hotelzimmer in der Nähe (!), damit Glinda in ihrem heruntergekommenen Bed & Breakfast übernachten muss. Mrs Duggery war mal Haushälterin in Cantrip Towers. Die vier Mädchen, allesamt starke Persönlichkeiten mit jeweils ein bis zwei rudimentären persönlichen Interessengebieten wie Karate, Mode oder - die Älteste, Flame - Jungs, müssen erkennen, dass sie nur zusammen wirklich stark sind. Und nebenbei sind sie auch noch Teilnehmerinnen eines unsäglichen Gesangswettbewerbs, bei dem sie sich gegen Youtube-Star Linus Bruhn durchsetzen müssen.
Wer bei Frozen II die neuen Songs nicht so toll findet, sollte mal die Gänsehaut-induzierenden Popliedchen hier durchleiden. Textbeispiel:
Alles zerbricht / Hoffnung und Licht / in tausend Scherben
Selten zuvor wurde ein niederschmetterndes Kinoerlebnis so vermeintlich poetisch zusammengefasst.
Nächstes Jahr in Cinemania 207:
Rezensionen zu aktuellen Kinostarts, darunter vermutlich La Gomera (Corneliu Porumboiu), Die Kunst der Nächstenliebe (Gilles Legrand), Milchkrieg in Dalsmynni (Grímur Hákonarson) und Das Vorspiel (Ina Weisse).
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