Gut gegen Nordwind
(Vanessa Jopp)
Deutschland 2019, Buch: Jane Ainscough, Lit. Vorlage: Daniel Glattauer, Kamera: Sten Mende, Schnitt: Andrew Bird, Musik: Hauschka, Music Supervisor: Milena Fessmann, Kostüme: Lucia Faust, Szenenbild: Ina Timmerberg, mit Alexander Fehling (Leo Leike), Nora Tschirner (Emma Rothner), Ulrich Thomsen (Bernhard Rothner), Ella Rumpf (Adrienne), Claudia Eisinger (Marlene), Lisa Tomaschewsky (Clara), 122 Min., Kinostart: 12. September 2019
Selten sieht man einen Film, bei dem man sich so klar wie bei Gut gegen Nordwind die literarische Vorlage vorstellen kann. Daniel Glattauers 2,5 Millionen mal verkaufter Bestseller Gut gegen Nordwind stammt zwar aus dem Jahr 2006, als noch nicht jeder mit WhatsApp kommunizierte, sondern man seine E-Mails noch größtenteils brav von zu Hause schrieb, aber die schriftliche Form dieses E-Mail-Romans ist in fast jeder Minute des Films gegenwärtig und zeigt sich besonders im Presseheft, wo ein Großteil des Films eben gerade auf die entsprechenden Zitate heruntergekürzt wird.
Ebenfalls im Presseheft zu lesen:
»Tatsächlich hatten Daniel Glattauer und seine Literaturagentin Sibylle Seidel im Vorfeld viele interessante Produzenten getroffen. Doch deren Konzepte konnten sie nicht überzeugen. Und so entschieden sie sich, lieber keinen als einen schlechten Film zu machen.«
Für einen Kritiker ist solch ein Zitat natürlich eine Steilvorlage. Kann der Film diese Vorschusslorbeeren wirklich einlösen? Ist das »Konzept« vorhanden, den E-Mail-Roman hinreichend zu visualisieren?
© 2019 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH / Anne Wilk
Zunächst vorweg, weil es nicht so auffällt: Die Szenen mit den anderen (Noch?)-Partnern, die also die Verbindung des avisierten Liebespaares Fehling/Tschirner verhindern, sind im Film nur sehr eingeschränkt Teil der E-Mail-Korrespondenz zwischen den beiden, was für mich mit ein bisschen Kombinationsgabe bedeutet, dass sie im E-Mail-Roman komplett anders eingebunden sein müssen als im Film.
Leo Leike (Alexander Fehling) hat zu Beginn des Films eine Beziehung mit Marlene (Claudia Eisinger), die er auch gerne weiterführen würde. Nur hat sie eine Affäre mit einem spanischen Piloten, die trotz einer On/Off-Beziehung letztlich dazu führt, dass sie sich dauerhaft verabschiedet. Leos lesbische Schwester Adrienne (Ella Rumpf), die, wie mein Sitznachbar konstatierte, ein deutlich erfüllteres Sexualleben hat als die allzu komplizierten Heteros, versucht Leo eine neue Partnerin zu vermitteln, doch letztlich sind alle »realen« Kontakte im Film doch nur Katalysatoren, um Leo wieder auf Emma (Nora Tschirner) zu verweisen (wie es zur E-Mail-Korrespondenz kommt, erkläre ich gleich...)
Emma indes ist verheiratet mit dem etwas älteren Bernhard (Ulrich Thomsen). Ungeachtet Thomsens mehrfach bewiesener Schauspielfähigkeiten (Festen, Brødre, Kollektivet sowie Ausflüge ins internationalale Business) erschließt sich mir im Film nicht, warum man nie erklärt, warum der Stardirigent »Bernhard Rothner« kein glasklares Deutsch spricht. Wenn man sich schon für einen dänischen Darsteller entscheidet, der einer eher kleinen Rolle die nötige gravitas verleiht, warum erklärt man dann nicht einfach mit drei, vier Dialogsätzen seinen Background, der sich ja nicht sklavisch an die Romanvorlage halten muss? Seltsam...
© 2019 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH / Anne Wilk
Nun zum Beginn der Geschichte, den ich etwas dubios finde. Leo bekommt eine E-Mail, in der eine gewisse E. Rothner (auch, wenn man die Figur lange noch nicht kennenlernen wird, hat sie sofort eine weibliche Stimme, die ihre Texte akustisch begleitet) ein Zeitschrift-Abbonnement kündigen möchten. Wie die Zeitschrift heißt, erfährt man nicht, aber sie erscheint im »Like«-Verlag. Was man im Verlauf des Films so über Emma erfährt (u.a. eine längere E-Mail-Korrespondenz mit einem Linguisten), lässt nicht darauf schließen, dass sie eine Rechtschreibschwäche hat. Die Buchstaben L, I und K sind auf einer Computer-Tastatur unmittelbar nebeneinander, das E indes befindet sich auf der anderen Seite des Keyboards. Also eher unbegründet, dass Emma an woerter@leike.com statt an woerter@like.com geschrieben hat. Dass Leo Leike erklärt, dass selbiges bereits zum dritten Mal geschah (»Das Heft muss wirklich schlecht geworden sein«), untermauert scheinbar zwar die statistische Möglichkeit, passt aber nicht zu Emmas Schreibexpertise. Im ganzen Film hat sie sich meines Erachtens irgendwo wieder verschrieben. Ein einziges Mal haut sie ein ß-Wort mit »ss« in ihr Handy - womöglich in weiser Voraussicht, dass das Handy dies korrigiert, was dann auch passiert.
Ich will mich gar nicht an diesem einen Buchstaben aufhängen, aber da die gesamte weitere Geschichte von diesem Tippfehler abhängt, sollte der ein Winzigkeit überzeugender gestaltet worden sein. Auch, weil diese Schwäche (vermutlich auch im Buch) der genialsten Idee der ganzen Erzählung eigentlich den Wind aus den Segeln nimmt.
Aber das nur am Rande, ich will weniger die Geschichte analysieren als was unternommen wird, um aus einem E-Mail-Roman einen Film zu machen. Und wie bzw. ob diese Transformation in ein anderes Medium eine Rechtfertigung erfährt, die über die monetären Zuwächse beider Parteien hinausgeht (Buchleser gehen in den Film, Kinobesucher kaufen sich später das Buch...).
Eine ergänzte Szene, die der technologischen Veränderung des letzten Jahrzehnts entspricht, ist die Supermarktszene, wo die beiden sich in räumlicher Nähe zueinander befinden, dies aber nicht realisieren. Und ein mögliches gegenseitiges (nicht-biblisches) »Erkennen« tatsächlich mal so was wie Spannung aufbaut (laut Presseheft besteht diese Spannung den ganzen Film lang, was ich aber gänzlich anders erlebt habe).
© 2019 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH / Bernd Spauke
Eingefädelt wird diese Szene auch ganz hübsch, denn durch Leos Fensterwand sieht man nicht nur eine Brücke, bei der ich mir den ganzen Film nicht sicher war, ob sie existiert oder als Miniatur bzw. computergeneriert erschaffen wurde. In dieser besseren Fototapete sieht man auch eine Neonschrift »My Island«. Und genauso heißt das Schwimmbad / die Wellness-Oase, in der Emma vor dem Supermarkt-Treffen ihre Bahnen zieht.
Viel mehr Visualisierung ist aber nicht gegeben. Drehbuchautorin Jane Ainscough wird von der Branche als fähig und professionell eingestuft. Ihre Vita ist bestückt mit Hanni und Nanni, Hanni und Nanni 2 oder Ich bin dann mal weg, was mich alles nicht so wirklich überzeugt. Gemeinsam mit Regisseurin Vanessa Jopp (Vergiss Amerika, Komm näher) hat man sich, und das spürt man den kompletten Film lang, viel Mühe gegeben, die E-Mail-Verschickerei und -Leserei, die man ja bei der Buchlektüre 1:1 wahrnimmt, irgendwie filmischer wird.
Nahezu jede Zeile wird von den Schreibern aus dem Off nachgesprochen (der Kinogänger wird nicht wie bei Personal Shopper zum Mitlesen animiert, der Film würde vermutlich auch als Hörspiel funktionieren), und immer wieder geht es um die mimische Reaktion auf das Gelesene... wobei die Darsteller auch hin und wieder recht lange auf einen dem Zuschauer vorenthaltenen Monitor schauen und quasi auf die Stimme reagieren, was mich weder darstellerisch noch filmisch immer überzeugte, sondern teilweise etwas billig generiert wirkte.
© 2019 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH / Anne Wilk
Ein Detail, das ich nicht ganz durchdrungen habe, weil ich nicht zur Generation Handy gehöre, ist die technologische Fortentwicklung. Natürlich kann man auch mit einem Smartphone Mails schreiben und lesen, aber ich (nutze mein Smartphone nicht auf diese Weise und unterstütze auch WhatsApp nicht) hatte so das Gefühl, dass es mal reguläre Mails gab (mit Betreff!), oft aber auch eher so »Chat-Nachrichten« o.ä.
Es wird aber nirgends im Film erklärt, wann die beiden etwa die Telefonnummern ausgetauscht haben (was man meines Wissens zumindest für WhatsApp oder SMS-Verkehr in irgendeiner Form machen muss). Auch die Sache mit dem gegenseitigen »Google-Verbot« hat mich auf Stand 2019 nicht so überzeugt wie vielleicht noch 2006 oder eher 2003 (Gevatter Glattauer muss ja auch erst mal geschrieben haben, bevor er veröffentlichte). In der Art und Weise, wie die beiden sich da obsessiv in etwas reinsteigern, hätte sicher zumindest einer der beiden seine unstillbare Neugier sicher schon mal anders befriedigt, gerade die vermeintliche Anonymität der Mail-Beziehung führt ja nicht unbedingt zu gesteigerter Ehrenhaltung, wie man dieses Jahr schon in Celle que vous croyez erlebte.
Mein Fazit zum Film: Gut zwei Stunden sind zu lang für das Wenige, was wirklich passiert, und wenn ich in anderen Fällen besonders neugierig auf das Buch war (etwa bei Room, The Miseducation of Cameron Post, What Richard did oder The Wife aber nicht zuletzt auch bei - unterschiedlich - vermurksten Filmen wie Serena, The Help, Angelica oder Ah-ga-ssi) habe ich hier nach Filmsichtung das Gefühl, dass die Buchlektüre nicht viel mehr ergänzen kann. Da gibt es andere, spannendere Briefromane, die teilweise schon diverse Male immer wieder spannend auf die Leinwand gebracht wurden, etwa Choderlos de Laclos' Les liaisons dangereuses.
Dann lieber selbst eine Mail-Beziehung anleiern. Selbst, wenn man das Gegenüber nie kennenlernt, ist das manchmal spannender als dieser hübsche Schmachtfetzen, der sich bei seinen Linguismus-Ausflügen auch noch besonders gediegen gibt.
Aber nichtsdestotrotz: die eine geniale Idee, die ich aus Spoilergründen nicht verraten mag, rechtfertigte zumindest etwa 50 Minuten des Films (kommt aber erst nach 110...).