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Berlinale 2016 - Mit deutschem Verleih
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Indignation
(James Schamus, Panorama)
USA 2015, Dt. Titel: Empörung, Buch: James Schamus, Lit. Vorlage: Philip Roth, Kamera: Christopher Blauvelt, Schnitt: Andrew Marcus, Musik: Jay Wadley, Kostüme: Amy Roth, mit Logan Lerman (Marcus Messner), Sarah Gadon (Olivia Hutton), Tracy Letts (Dean Caudwell), Linda Edmond (Esther Messner), Danny Burstein (Max Messner), Pico Alexander (Sonny Cottler), Ben Rosenfield (Bert Flusser), Philip Ettinger (Ron Foxman), Noah Robbins (Marty Ziegler), 109 Min.
Weil sich die BVG und andere dunkle Kräfte gegen mich verschworen hatten, sah ich Indignation erst gut zwei Wochen später als geplant. Und mein Plan, die Romanvorlage von Philip Roth halb durch zu haben, bevor ich den Film sah, misslang insofern, als dass ich das Buch dann in drei Tagen gelesen hatte. Wenn ich mich dann mit KollegInnen über den Film unterhielt, war ich immer der Leser und die hatten den Film gesehen. Interessanterweise gab es darunter gleich zwei Personen, die mich informierten, dass es im Film keine Erzählerfigur gibt - was davon zeugt, dass manche diesen Begriff ganz anders auslegen als ich. Wenn man in einem Film eine Stimme hört, zu der man nicht das Gesicht sieht, ist das erst mal ein Voice-Over oder ein Off-Kommentar. Wenn diese Stimme einem für das Verständnis des Handlungsverlaufs notwendige Zusatzinformationen bietet, würde ich das in vielen Fällen schon einen Erzähler nennen. Oft sogar, wenn es keine Zusatzinfos gibt, sondern nur einen anderen Blickwinkel oder eine ironische Brechung. Und wenn man diese Stimme klar einer der Figuren im Film zuordnen kann, spricht eigentlich nichts dagegen, diese Person als Erzählerfigur zu definieren. Beispielsweise so was wie Kevin Spacey in American Beauty oder Bogart etc. als Philip Marlowe in wasauchimmer. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass die Voice-Over-Kommentare eher sparsam eingesetzt sind und die Stimme von Logan Lerman nicht jedermann so vertraut ist wie die von Morgan Freeman oder James Earl Jones.
Jedenfalls: Im Roman gibt der Erzähler schon auf Seite 53 (von 233) Informationen preis, die man im Film nur mit dem Vorwissen des Lesers direkt wiedererkennt, während der Regisseur und Drehbuchautor (James Schamus, zuvor vor allem als Produzent und Autor aktiv, etwa bei The Ice Storm und vielem anderen von Ang Lee) die direkten Zitate der Erzählerfigur sehr sparsam verwendet und stattdessen eine Art zweiteilige Rahmenstruktur konstruiert, die eine der deutlichsten Prämissen des Buchs komplett außer acht lässt.
Das darf man aber nicht nur negativ sehen, dann während Philip Roth in einigen seiner Bücher die Tendenz zeigt, sich mit weiblichen Figuren nicht so intensiv zu beschäftigen wie mit den männlichen, wird im Film die Figur der Olivia Hutton genauer betrachtet. Neben der zum Schluss wieder aufgegriffenen Rahmenhandlung, in der sie »Mrs. Anderson« heißt, gibt es auch eine winzige Szene, in der ihr Vater sie am Campus aus dem Auto lässt und ihr nachruft, sie solle nicht ihre »allowance«, also quasi ihr »Taschengeld« vergessen. Ich möchte da nicht ins Detail gehen, aber in meinen Augen impliziert dies einiges über Olivias back story, was im Roman eher vage angedeutet wird.
Bildmaterial: © Winesburg Productions, LLC.
Für den Film wurde die Handlung generell sehr verknappt. Anfang der 1950er. Marcus Messner (Logan Lerman), Sohn eines jüdischen Metzgerehepaars aus Newark, New Jersey, beginnt in Ohio sein Studium, um Rechtsanwalt zu werden, dem Einzug in den Koreakrieg zu entgehen - und nicht zuletzt auch seinem plötzlich sehr um ihn besorgten Vater. Auf dem konservativen und sehr christlichen Winesburg College droht der fleißige (und atheistische) Marcus anzuecken. Außerdem lernt er eine Kommilitonin kennen (Sarah Gadon), die den sexuell unerfahrenen Studenten ebenfalls überfordert.
Im Roman hat Marcus schon ein ortsansässiges College in New Jersey verlassen, um dem Einfluss seines Vaters zu entkommen, und bevor es zur Kernszene mit dem Dekan kommt (im Buch fast 30 Seiten), hat er schon zweimal sein Zimmer im Studentenheim gewechselt (im Film wohnen die beiden Personen, mit denen er nicht klar kommt, simplerweise beide mit ihm zusammen). Dass der Dekan jeden Studenten, der sein Zimmer wechselt, zu sich ruft, wirkt noch eine Spur oppressiver als im Roman.
Marcus arbeitet im Film auch in der Bibliothek statt in einer lokalen Kneipe, was ihn noch abgeschnittener vom sozialen Umfeld wirken lässt. Und er besucht im Film mindestens viermal (ohne erkennbare Probleme) die obligatorische Andacht, die ihm im Roman schon beim ersten Mal komplett fertig macht.
Dafür gibt es im Film aber die stärker ausgearbeiteten Figuren Olivia und Bert (in Schamus' Augen Entsprechungen von Sylvia Plath und Allen Ginsberg), und während ich mich bei den »sexuellen« Szenen zwischen Marcus und Olivia darüber wunderte, wie »harmlos« sie dargestellt wurden (das alte Problem mit der Altersfreigabe), habe ich es als durchaus positiv empfunden, dass zwei späte Szenen im Roman, die sich mit den Verfehlungen anderer männlicher Studenten beschäftigen, komplett herausgestrichen wurden.
Somit ist der generelle Tonfall des Films etwas anders als im Roman (als uneingeweihter Zuschauer erwartet man nach zwei Dritteln einen anderen Ausgang um nicht zu sagen ein anderes Genre), aber beide können durchaus bestehen. Und wenn in manchen Szenen die tollen Dialoge von Roth noch von ebenso tollen Darstellern gesprochen werden, hilft das natürlich. Linda Messner als Marcus' Mutter brilliert ebenso wie Tracy Letts als Dekan, und Sarah Gadon schafft es, den Zwiespalt ihrer Figur zwischen Idealisierung und Verwundbarkeit auf subtile Art zu vermitteln.
Nichtsdestotrotz überzeugen mich Roman wie Film nicht komplett. Mal wirken die literarischen Lösungen besser, mal die filmischen Finessen - aber die vermeintlich starke politische Botschaft (sehr hübsch, das im Originaltitel »Indignation« die »Nation« quasi ein Teil des Wortes ist) hat mich in beiden Fällen nicht eben umgerissen. Da funktioniert der Roman noch eine Spur besser, weil er mit einer in jeder Hinsicht »offenen« Geschichte spielt, wo der Film versucht, darüber hinaus die Geschichte zu Ende zu erzählen - was aber letztlich auch keine narrative Befriedigung verschafft.
Im Nachhinein bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ein zentrales Zitat des Films auch für Roths Herangehensweise an die Geschichte steht: »I shot an arrow into the air / it fell to earth I knew not where.« Während Schamus sich eher an das Motto »practice tact!« hält (auch narrativ) und sich dadurch auch ein wenig von Roth entfernt.
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Ente gut! Mädchen allein zu Haus
(Norbert Lechner, Generation Kplus)
Deutschland 2016, Buch: Antonia Rothe-Liermann, Katrin Milhahn, Kamera: Namche Okon, Schnitt: Manuela Kempf, Musik: Martin Unterberger, Production Design: Nadine Schmidt, mit Lynn Dortschack (Linh), Lisa Bahati Wihstutz (Pauline), Linda Phuong Anh Dang (Tien), Andreas Schmidt (Frank Weiss), Lena Stolze (Frau Trost), Y Nhung Dinh (Than), Chien Xuan Nguyen Thy (Mutter Thuy), Manh Coung Tran (Herr Duong), Steffi Kühnert (Sabine), Jörg Witte (Günther), 96 Min., Kinostarts: 26. Mai 2016
Weil die Mutter in Vietnam der kranken Großmutter beistehen muss, kümmert sich die 12jährige Linh um ihre kleine Schwester Tien und hilft noch im Imbiss aus, wo die verbliebene Kraft außer der auswendig gelernten Speisekarte und den Preisen kaum ein Wort Deutsch spricht. Die wichtigste Regel der beiden Mädchen: »Nicht auffallen!«. Direkt gegenüber wohnt aber die 12jährige Pauline, deren Fernrohr schon die Vorspann-Animation bestimmt. Sie führt gewissenhaft Buch über die Vorkommnisse im Haus gegenüber (in dem übrigens erstaunlich viele Stammkunden des Imbiss leben), aber aus der Situation à la Hitchcocks Rear Window wird hier zunächst eine Erpressung. Aus dem einfachen Grund, dass Pauline Freunde sucht. Denn in der Schule wird Pauline drangsaliert wegen ihrer Haarfarbe und der Angewohnheit ihres Vaters, sie direkt vor der Schule abzusetzen - im Firmenwagen des Klempnerbetriebs »Klobig«.
Pauline und Linh verbindet, ähnlich wie in in Woorideul, dass sich beide die Erziehungssituation der jeweils anderen wünschen: Pauline hätte nichts dagegen, mal ohne peinliche, sich dauernd um sie sorgende Eltern auszukommen, Linh indes weiß nichts über ihren Vater (die Mutter macht ein großes Geheimnis draus) und würde auch einen Gas-Wasser-Scheiße-Experten mit Kusshand akzeptieren.
Bildmaterial: © Meike Birck
Zunächst durch die Erpressungssituation, die aber zu einer Freundschaft führt, dann über immer neue Komplikationen geraten die Schwestern immer mehr ins Visier von Jugendamt und Polizei. Ein vergessener Ausweis, der Verdacht der Kinderarbeit, immer neue Versuche, die abwesende Mutter »vorzutäuschen« - und insbesondere Tien wächst die Anspannung über den Kopf und sie kompensiert ihren Frust auch mal durch Schuleschwänzen, einen betätigten Feuermelder oder eine spontane Party bei sich zuhause, zu der sie eher zweifelhafte ältere Kinder einlädt, von denen eines dann auch noch die Imbisseinnahmen mitgehen lässt und sich davon neue Turnschuhe und ein Fahrrad kauft.
Das Spiel mit den immer neuen Gefahren und Verwicklungen klappt ziemlich gut, insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Kinderdarsteller fast alles allein darbieten. Insbesondere Lynn Dortschack als Linh bietet hier eine tolle Bandbreite, aber auch ihrer »kleinen Schwester« Linda Phuong Anh Dang nimmt man selbst irrational erscheinende Verhaltensweisen ohne weiteres ab. Einen ganz tollen Moment hat sie in den Out-Takes im Abspann, wenn sie fünf- oder sechsmal mit ihrem Schuh vergebens auf den Feuermelder einschlägt, dessen Sicherheitsglas aber einfach nicht zerbrechen will ;-)
Den Film prägt auch eine Art realistische Magie (nicht »magischer Realismus«!), wenn man durch Glückskeks-Manipulation zerstrittene Paare wieder zusammenbringt oder es zum Geburtstag buntes Konfetti »regnet« (auch, wenn's hier eine Spur weniger dick aufgetragen hätte sein können). Ich weiß nicht genau, was die Regularien eines »besonderen Kinderfilms« ausmachen, aber wie hier man kindgerecht komplexe Themen anspricht, ist schon ziemlich toll. Nur als Gegenwehr gegen Schul-Mobbing eine neue Freundin mit Martial-Arts-Kenntnissen aufzutun, erscheint mir nicht die beste Wahl. Aber wie sagte Konfuzius? »Es kann nicht alles spitze sein!« (Zitat aus einem alten Hägar-Comicstrip)
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Kollektivet
(Thomas Vinterberg, Wettbewerb)
Dänemark 2015, Dt. Titel: Die Kommune, Buch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm, Lit. Vorlage: Thomas Vinterberg, Kamera: Jesper Tøffner, Schnitt: Anne Østerud, Janus Billeskov, Musik: Fons Merkies, mit Ulrich Thomsen (Erik), Tryne Dyrholm (Anne), Helene Reingaard Neumann (Emma), Martha Sofie Wallstrøm Hansen (Freja), Anne Gry Henningsen (Ditte), Lars Ranthe (Ole), Fares Fares (Allon), Magnus Willang (Steffen), Julie Agnete Vang (Mona), Sebastian Grønnegaard Milbrat (Vilads), 111 Min., Kinostart: 21. April 2016
Thomas Vinterberg ist 1969 geboren und lebte vom Alter von 6 bis 19 in einer Kommune. Sein Film Kollektivet spielt »ca. 1975« und involviert zwei Kinderfiguren im Alter von 6 und 14. Außerdem geht es im Film um den Architekten Erik (Ulrich Thomsen), der sich auf eine Affäre mit einer 24jährigen Studentin einlässt. Diese Emma wird von Helene Reingaard Neumann gespielt, die 2007 in Vinterbergs En mand kommer hjem mit 20 ihr Spielfilmdebüt gab und mittlerweile die zweite Ehefrau Vinterbergs ist. Der übrigens darauf pocht, dass nur der erste Hälfte dieses sehr eingeschränkten Einblicks in den Inhalt des Films von konkreten autobiographischen Elementen geprägt ist.
Kollektivet erinnert in der ersten Hälfte in nicht geringem Maße an Tilsammans, den größten Kinoerfolg des schwedischen Regisseurs Lukas Moodysson, von dem man leider nicht mehr viel hört. Eine skurrile Gruppe von Menschen lebt in einem Haus, es gibt hier und da Konfliktsituationen, aber auch viel zu lachen. Bei Moodysson gab es nur noch mehr (unterhaltsame) Grundsatzdiskussionen und Abba-Songs auf dem Soundtrack.
Bildmaterial: © Ola Kjelbye
In Kollektivet ist die Kommunengründung durch Erik, Anne (Tryne Dyrholm) und ihre 14jährige Tochter Freja (Martha Sofie Wallstrøm Hansen) auch der Versuch, eine in der Disintegration befindliche Ehe zu retten. Anne arbeitet als Nachrichtensprecherin und hat dadurch einige seltsame Gastauftritte im Haus, Erik erleben wir zunächst vor allem als einen auf seinen eigenen Vorteil bedachten Manipulator, der dann aber zu merken scheint, dass er seine Familie nur dadurch wiedergewinnen kann, indem er sich für etwas ausgefallene Ideen öffnet.
Und in der ersten Hälfte des Films bringt die veränderte Lebenssituation auch eine allgemeine Stimmungssteigerung mit sich.
Dann beginnt der Film etwas auf der Stelle zu laufen und verändert sich in ein Ehedrama, dass durch die Kommunensituation eher noch bedrückender wird. Auf die absurde Idee, mit der neuen Freundin des abtrünnigen Mannes zusammenzuziehen, muss man ja erstmal kommen. Und dass sich Anne und Emma bis auf das Alter und die Augenfarbe äußerlich schon erstaunlich ähneln (keine Ahnung, ob Herrn Vinterbergs erste Frau blond war), macht es für die durch ihren Job auch auf Äußerlichkeiten fixierte Anne nicht unbedingt einfacher. Für Trine Dyrholm immerhin ein breites Feld der Emotionen, mit dem sie es zum Silbernen Bären als Beste Darstellerin schaffte.
Der Leerlauf in der Mitte des Films hat vielleicht sogar eine Funktion, denn er lenkt meines Erachtens davon ab, was die zweite wichtige Geschichte des Films ist - und zwar eine, die man in dem Theaterstück, das dem Film zugrunde liegt (auch von Vinterberg, der hin und wieder am Wiener Burgtheater arbeitet), auf diese Weise nicht umsetzen kann, denn sie wird zu großen Teilen über Blicke inszeniert - und dass kann man mit zehn auf der Theaterbühne herumwuselnden Kommunenmitgliedern ohne Close-Ups und Schnitt nicht erzählen.
Da der Film ja im April seinen deutschen Kinostart bekommt, muss ich an dieser Stelle einen Spoiler-Alert ausrufen. Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte hier aufhören zu lesen.
Die zweite Geschichte des Films ähnelt eigentlich sehr stark der zwischen Anne, Erik und Emma - nur ist sie quasi »versteckt« im Film, wenn man sich zu sehr auf die Haupthandlung konzentriert. Vielleicht überinterpretiere ich hier etwas, aber wenn sich Freja und Vilads (Sebastian Grønnegaard Milbrat), die beiden Figuren, die am nächsten an dem Alter sind, dass der Regisseur 1975 hatte, erstmals treffen (beide in Anwesenheit der Eltern, die den Grundstock der Groß-WG bilden), dann funkt etwas zwischen ihnen. Und zwischen dem ganzen Gewusel und dem turbulenten Kommunenleben sieht man immer wieder die Blicke zwischen den beiden.
Während alle Erwachsenen (bis auf einen Badehosenträger) nackt schwimmen gehen, stehen die Kinder nur auf dem Landungssteg. Wenn man angetrunken um den Weihnachtsbaum tanzt, ist es Freja, die (als einzige!) merkt, dass mit Vilads etwas nicht stimmt. Und ähnlich wie bei ihrem Vater, den Freja in flagranti mit seiner Studentin erwischt, gibt es auch zwischen Freja und Vilads eine noch viel unüberwindlichere Altersgrenze: er ist sechs!
Und wenn sich Freja dann kurz nach der Sache mit ihrem Vater in eine ziemlich impulsive und nicht unbedingt altersgerechte Beziehung mit einem etwas Älteren stürzt, dann ist das für mich nicht nur eine Antwort auf die Quasi-Traumatisierung durch den Saitensprung, gekoppelt mit einer plötzlich ausgelebten sexuellen Neugier, sondern eine ganz ähnliche Aktion wie die des Vaters. Auch sie greift zur »Ersatzbefriedigung«, wenn auch mit einer gewissen Berechtigung. Doch das Ergebnis dieser Beziehung mit dem Vilads von Typ und Gesichtsform durchaus ähnelndem Herren ist eigentlich dasselbe wie bei der Beziehung zwischen Erik und Emma: der »ausgesperrten« Partei wird das Herz gebrochen. Und wenn man dabei den autobiographischen Interpretationsansatz wieder vorkramt (trotz aller Bekundungen), so wirkt es ein wenig, als verarbeite Vinterberg in Personalunion einen Täter- wie auch einen (angenommenen) Opfer-Aspekt - und das quasi spiegelsymmetrisch. Was durchaus faszinierend ist - auch, wenn man den manipulativen Handlungskniff zum Schluss ablehnen mag (immerhin hat er bei großen Teilen des Publikums erstaunlich gut funktioniert).
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Grüße aus Fukushima
(Doris Dörrie, Panorama)
Deutschland 2016, Intern. Titel: Fukushima mon amour, Buch: Doris Dörrie, Kamera: Hanno Lentz, Schnitt: Frank Müller, Musik: Ulrike Haage, Production Design: Sango Nakamura, mit Rosalie Thomass (Marie), Kaori Momoi (Satomi), Moshe Cohen (Moshe), Nami Kamata (Nami), Aya Irizuki (Tochter), 109 Min., Kinostart: 10. März 2016
Der Film beginnt mit einem nicht sehr filmischen Intro, bei dem Rosalie Thomass Fragen an den Zuschauer (und natürlich die Zuschauerin) richtet, was aber, weil ihre Figur noch nicht etabliert wurde, einfach nur klingt wie ein Sprachrohr von Doris Dörrie. Hätte man sicher besser lösen können. Dann bekommt man einen vagen Einblick in die Figur Marie (Rosalie Thomass), die wegen einer verunglückten Hochzeit offenbar Suizidgedanken hat, sich aber stattdessen dafür entscheidet, als Clown (!) in Fukushima den (zumeist älteren) Leidtragenden des Reaktorunglücks jene Lebensfreude zu vermitteln, die ihr selbst offensichtlich aktuell fehlt. Naja ...
Der Film ist komplett in schwarz-weiß, und anfänglich wirkte einiges auf mich, als versuche Frau Dörrie, mit geringem Budget und ausgefallenem Sujet / Drehort Federico Fellini nachzueifern (Höhepunkt: ein am Wegesrand liegendes Puppenbaby, das aus leeren Augenhöhlen Kiesel »weint«), was eigentlich nur schlimm werden kann. Auf jeden Fall funktioniert der quasi-dokumentarische Ansatz, der schon Lost in Translation zu einem Hit gemacht hat, auch hier. Wenn man westliche Figuren mit der oft absurd erscheinenden Welt Japans konfrontiert, hat das immer einen gewissen Reiz. Selbst wenn Marie oft über alle Maßen naiv wirkt und Spontanität und Improvisation nicht jedes Drehbuchfragment retten können.
Bildmaterial: Hanno Lentz © Majestic
Nach einer ganz gelungenen Einführung der Hauptfiguren (hauptsächlich Marie und eine seltsame ältere Frau) handelt dann der Hauptteil des Films davon, dass Satomi (Kaori Momoi, die auf der Berlinale auch einen Film präsentierte, bei dem sie Regie geführt hat), eine ehemalige Geisha, wieder zurück zu ihrem alten Haus will, dass mitten im Sperrgebiet mit teilweise hoher Strahlung steht. Und irgendwie gerät auch Marie dorthin und die beiden Frauen lernen etwas voneinander. Teilweise so pittoreske Details wie eine Teezeremonie, aber die vorsichtige Freundschaft zwischen den Frauen kann diesen Teil des Films durchaus tragen.
Leider rutscht man dann aber in eine Story um die Vergangenheit, in der auch noch Geister eine Rolle spielen (und ich muss sagen, die Inszenierung der »Geisterszenen« hat mich nicht überzeugt: Für eine Allegorie zu aufgebrezelt und für ein durchaus beabsichtigtes »Gruselmoment« zu spartanisch in den Mitteln.
Was bleibt, sind einige durchaus hübsche Schwarzweißbilder (wirken auf mich oft sehr Corbijn-inspiriert, aus seiner Joshua Tree-Phase) und ein mitunter sehr unterhaltsames Sprachengewurschtel (Hula-Hoop-Instruktion: »With a lot of Schwung!«). Aber ich muss sagen, dass mir da ach so tiefgehende Geschichte, die hier zu erzählen versucht wird, nur in wenigen Momenten etwas vermitteln konnte. Ich hatte eher das Gefühl, dass es Doris Dörrie eine Spur zu leicht fällt, »Heulszenen« zu schreiben, und selbst, wenn Rosalie Thomass die teilweise mit Bravour absolviert hat, wollte sich bei mir einfach keine Identifikation einstellen, weil die Figuren einfach zu holzschnittartig auf einer Art Spielfeld hin- und hergeschoben wirkten. Da hatte man bei Sofia Coppola (der etwas »down-to-earth« auch nicht schaden würde) eher das Gefühl, dass sie sich in ihre Figuren einfühlen konnte und mit wenigen Worten viel sagen konnte.
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Ted Sieger's Molly Monster
(Ted Sieger, Matthias Bruhn & Michael Ekbladh, Generation Kplus)
Schweiz / Deutschland / Schweden 2015, Dt. Titel: Molly Monster - Der Kinofilm, Buch: John Chambers, Story: Ted Sieger, Schnitt: Melanie Hartmann, Production Design: Sven Höffer, mit den Stimmen von Sophie Rois (Molly), Gerrit Schmidt-Foß (Edison), Judy Winter (Mama), K. Dieter Klebsch (Papa), Jasper Vogt (Käpt'n), 72 Min., empfohlen ab 5 Jahren, Kinostart: 8. September 2016
Das für Erwachsene Spannendste an Molly Monster ist neben den Hinweisen auf eine verflossene Liebe von Mollys Mutter Etna die Farbskala des Films. Hin und wieder gibt es zwar auch Objekte (und ganze Figuren) in den Lieblingsfarben von Tim Burton und Dr. Seuss, also schwarz, weiß und rot, aber der größte Teil dieser Monsterwelt zehrt sich aus fünf Farben: grün, hellblau, violett, rot und gelb. Und diese verkürzte Farbskala wiederholt sich auch gern. Wenn irgendwo Treppenstufen oder Eisenbahnschwellen zu sehen sind, kann man sich größtenteils darauf verlassen, dass sie diese Farbabfolge zitieren und dadurch harmlos und spielerisch wie ein Kinderxylophon wirken. Aber noch interessanter wird es bei den Figuren, die eigentlich durch die Bank immer aus drei Nachbarfarben bestehen, wobei man dann noch durch einen Farbverlauf bei der Kolorierung einen Zusammenhalt der Farben suggeriert. Fast als wären es Vereinsfarben. Ein paar Beispiele: Molly Mutter Etna ist oben hellblau, nach unten hin wird daraus violett, und zusätzlich gibt es ein paar rote (und weiße) Accessoires wie die Schuhe, eine Halskette, ihren Lippenstift oder die dann doch wohl zum Körper gehörenden Drachenzacken auf dem Rücken. Mollys Vater Popo (eigentlich Popocatepetl, aber das weiß ich nur aus dem Presseheft) ist oben gelb und unten orange, was schon fast ein kleiner Regelbruch ist (allerdings sieht man ihn nie barfuß und ich tippe mal, seine Füße sind rot, wodurch das orange nur Teil des »Angleichungsbereiches« ist. Papa Popo hat bis auf eine rot-weiße Krawatte und die tatsächlich hellbraunen Schuhe keinen Firlefanz am Leib. Aber ein paar grüne Flecken in Form von Dreiecken oder fünfzackigen Sternen. Dass Molly farblich zu ihren Eltern passt, ist Ehrensache: oben gelb wie Papa, unten grün wie Mama, außerdem hat sie einen (roten) Stern auf dem Bauch, der wie der rote Stachelschwanz an Papa erinnert, und auf dem Rücken die selben roten Drachenzacken wie Mama. Und wenn dann nach dem ersten großen Abenteuer der kleinen Monsterin ihr kleiner Bruder »Micky« (what else?) aus einem blaugrünen Ei mit gelbem Stern schlüpft, hat er fast das selbe Farbschema wie Mollys geliebte Aufziehpuppe Edison, mit der sie sich immer gern unterhält. Dummerweise habe ich mir die Mickyfarben aber nicht genau notiert, aber so hat man noch etwas, worauf man sich freuen kann im Film.
Da es unwahrscheinlich ist, dass sich den Film jemand ohne Kinderbegleitung anschaut, hier noch kurz ein paar Infos dazu: Es gibt zwar ein paar Monster im Film, die tatsächlich groß wie Berge sind, aber die dürften wie die seltsamen Kitzelmonster und der vermeintlich »kleine« Nieper selbst Vierjährige nicht erschrecken. Der didaktische Inhalt des Films besteht darin, dass Molly, die ja jetzt »große Schwester« wird, lernen muss, Verantwortung zu übernehmen, und sie mit dem häufig nur Quatsch machenden Edison zusammenarbeiten muss, um das Abenteuer (fast allein in der Monsterwelt) zu bestehen. Zwischendurch gibt es Lieder (Edison hat beim Singen übrigens eine andere Stimme und keinen österreichischen Akzent), zwei zankende Brüder, die sich aber doch lieb haben - und hin und wieder ein paar Pupswitze. Aber immerhin keinen, bei dem Papa Popo beteiligt ist. Und hinterher kann man auf dem Spielplatz angeben: »Ich war im Kino - zu 'nem Monsterfilm!«
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Das Tagebuch der Anne Frank
(Hans Steinbichler, Generation 14plus)
Deutschland 2016, Buch: Fred Breinersdorf, Vorlage: Anne Frank, Kamera: Bella Halben, Schnitt: Wolfgang Weigl, Musik: Sebastian Pille, mit Lea van Acken (Anne Frank), Martina Gedeck (Edith Frank), Stella Kunkat (Margot Frank), Ulrich Noethen (Otto Frank), Margarita Broich (Auguste van Daan) Andr√© Jung (Hermann van Daan), Leonard Carow (Peter van Daan), Arthur Klemt (Albert Dussel), 128 Min., Kinostart: 3. März 2016
Schon im Vorfeld störte mich das Plakat zu Das Tagebuch der Anne Frank irgendwie. Aus einem dunklen Hintergrund heraus lächelt uns mit einem ansatzweisen Schmunzeln ein junges Mädchen entgegen. Höchstens das Dunkel im Hintergrund und die fast blutroten Buchstaben deuten an, was ja wohl offensichtlich die Geschichte des Films ist. Ist das jetzt eine clevere Kampagne, die nichtsahnende Jugendliche in den Film locken soll? Damals in Baz Luhrmanns Romeo + Juliet hörte ich auch irgendwo hinten aus dem Kino eine nörgelnde Jungmädchenstimme: »Warum hat mir denn keiner gesagt, dass Leo stirbt?« (Vielleicht war sie bei Titanic zumindest über das Schicksal des Schiffes besser informiert.)
Ich könnte aber auch kein besseres (kommerziell nutzbares) Motiv benennen. Eine Hand, die etwas schreibt? Langweilig. Eine kleine Tür mit dem Schatten eines Nazioffiziers? Sieht eher nach Horrorfilm aus. Ein Familienbild? Auch eher abtörnend. Vielleicht ist diese lebensbejahende, optimistische Miene der jungen Anne, die ja noch nicht weiß, wie jemand anderes ihr Buch zuende schreiben wird, tatsächlich eine gute Wahl.
Dann steht auf dem Plakat auch noch, wer mitspielt. Dass mir bei Lea von Acken sofort ihr früherer Film Kreuzweg einfällt, ist vermutlich nicht die Standardreaktion. Aber Martina Gedeck und Ulrich Noethen sind gleich mal wieder diese Standard-Darsteller, die (trotz guter Leistungen) einfach davon zeugen, dass man sich beim vermeintlichen Massengeschmack anbiedert. Ich glaube, wenn es technisch machbar wäre, würden Martina Gedeck, Daniel Brühl und Heike Makatsch in nahezu jedem deutschen Film mitspielen. Aber auch das darf man dem Film ja nicht zum Vorwurf machen.
Da gibt es andere Punkte. Etwa die Einstiegsszene: Amsterdam, Frühjahr 1944. Wie in einem Kontrastbild zum Lächeln auf dem Plakat sehen wir im Dunkel eine Figur stehen, die Rotz und Wasser heult (hört sich zumindest so an) und quasi aus ihrem Tagebuch »vorliest«: »Und wir, wir haben es gut. So viel besser als Millionen Menschen.« oder »Wir sind so egoistisch, dass wir über die Zeit nach dem Krieg sprechen.« Diese Zeilen sprechen von einer Bescheidenheit, die sich die Figur im unvermeidbaren Flashback erst noch erarbeiten muss.
Weiter geht's in »Sils Maria, Schweiz«. 1933. Ein Mädchen, das ich so auf elf Jahre schätzen würde, tollt fröhlich durch die Bergweiden. Und der erste Verdacht wird etwas später bestätigt: Das soll Anne Frank sein. Das war die Stelle, wo der Film bei mir durchfiel, denn ich mag es nicht, wenn ich als Zuschauer für blöd verkauft werd. Ich wusste zwar nicht auswendig, dass Anne Frank 1929 geboren wurde, aber wenn man uns zwei konkrete Jahreszahlen liefert und dann zwei Darstellerinnen, deren Alter nicht ansatzweise so weit auseinander liegt, dann nervt mich das. Und wenn ich genervt bin, wirkt sich das auch auf den restlichen Film aus.
Es gab zwar im Nachhinein Gründe, die für die Sils-Maria-Szene sprachen (weil Anne sich noch mehrfach in diese Fantasiewelt zurücksehnt, was auch mit hübschen Match-Cuts umgesetzt wird), aber wenn man keine geeignete Darstellerin im passenden Alter findet, hätte man diese Familienvorstellung sicher auch anders lösen können. Vielleicht mit einer subjektiven Kamera, die aus der Perspektive einer Vierjährigen hochblickt und auch mal in die Luft gehoben wird? Oder bin ich jetzt schon so vom Kino des Emmanuel Lubezki (Gravity, Birdman etc.) »versaut«, dass ich auf solche artifiziellen Lösungen komme?
Das Spannendste an dieser Anne-Frank-Verfilmung ist, dass die Titelfigur teilweise ziemlich negativ dargestellt wird. Sicher, sie ist in einer schwierigen Situation, die vermutlich kaum ein Zuschauer nur ansatzweise nachempfinden kann - und zusätzlich voll in der pubertär-rebellischen Phase gefangen, die in dieser klaustrophobischen Atmosphäre eigentlich zur mentalen Explosion führen muss. Aber gerade im Umfeld der zahlreichen 14plus-Filme, die ich dieses Jahr sah, gab es wohl keine Hauptfigur, die es mir so schwer machte, mit ihr zu fühlen. Selbst bei dem seltsamen jungen Mädchen aus Las plantas konnte ich einiges vielleicht nicht »verstehen«, aber doch zumindest »mitfühlen«. Die große Frage wird wohl sein, ob ein Publikum im Alter der Anne einfacher in diesen Gemütszustand schlüpfen kann.
Davon abgesehen erreichte der Film durch seine lange Laufdauer bei mir exakt das, was so ein Film nicht erreichen sollte: ich ersehnte mir das Ende des Films, was in diesem Fall natürlich fast gleichbedeutend mit dem Tod der Hauptfigur ist. Wie gesagt, vielleicht haben da junge Zuschauer einen echten Vorteil und fiebern noch mit. Und stören sich auch nicht im Geringsten daran, dass die Geschichte noch (manchmal ohne konkrete Daten) weitererzählt werden musste, obwohl das titelgebende Tagebuch doch ganz offensichtlich in der Wohnung zurückgelassen wurde. Vermutlich gibt es auch im Buch einen anschließenden erklärenden Text, aber ich finde, wenn man einem jungen Publikum diese Geschichte anbietet, kann man sie auch so beenden, wie das Tagebuch endet. Den Zoom darauf gibt es sogar im Film, dann eine Schwarzblende (oder eine Anne, die mal wieder in die Kamera schaut, ein mehrfach verwendetes Stilmittel, dass den Zuschauer quasi zum Verbündeten, zum Tagebuch selbst macht) und ein paar Schrifttafeln.
Und weil ich es einfach nicht unerwähnt lassen kann: Anne schreibt ihr Tagebuch natürlich auf Holländisch und es gibt sogar folgende Dialogzeile: »Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch.« Und dann ist fast der komplette Film auf Deutsch, als wenn man sich ein Kulturerbe aneignen will, von dem man eigentlich die Finger lassen sollte. Wollte ich mal so in den Raum stellen, weil dies vermutlich sogar einer der Punkte ist, der gerade einem jungen Publikum nicht auffallen wird (obwohl sie sogar mal den geplanten Titel ihres Buches erwähnt).
Demnächst in Cinemania 146:
Avant les rues / Before the Streets (Chloé Leriche, Generation 14plus), Born to Dance / We love to Dance (Tammy Davis, Generation 14plus), Jamais contente (Émilie Deleuze, Generation Kplus), Little Men (Ira Sachs, Generation Kplus), Lotte (Julius Schultheiß, Perspektive Deutsches Kino), A Quiet Passion (Terence Davies, Berlinale Special) und Yarden / The Yard (Måns Månsson, Forum).