Tamburin und Turbine
Nick Cave & The Bad Seeds und die Einstürzenden Neubauten waren in Berlin und sorgten für offene Münder. Beide hatten dabei außergewöhnliche Gäste an Bord.
Berlin, die notdürftig zusammengesteppte Hauptstadt, deren Nähte allmählich wieder ausfransen, verfügt über ein beachtliches Arsenal architektonischer Perlen. Eine ganz besondere davon ist zweifelsohne das neue Tempodrom, 2001 eröffnet und, wie man weiß, ordentlich teuer gewesen. Gleich einem überdimensionierten Flugkörper steht das Betonzelt am Anhalter Bahnhof, als wäre es bereit, jeden Moment in Richtung Himmel zu starten. Vom Himmel nun, von dem, was sein Hausherr verspricht und nicht immer halten kann, war Mitte voriger Woche im Tempodrom oft die Rede. Nick Cave & The Bad Seeds haben der Stadt einen zweitägigen Besuch abgestattet und ein wahres Inferno an Inbrunst und Leidenschaft entfacht. Das Vorglühen besorgten zwei australische Landsmänner Caves, Ed Kuepper und Jeffrey Wegener. Kuepper, das war der, der mit Chris Bailey die legendären Saints gründete, ohne deren »(I’m) Stranded« und »This Perfect Day« keine vernünftige Punkrock-Geschichte geschrieben werden kann, und der dann 1979 die Laughing Clowns gründete. Jene Kapelle, die Trouser Press so schön als »The Cure Gone Avant-Jazz« bezeichnete und die in der Tat Wave mit Akustikbass und Saxofon spielten. Wegener trommelte dazu abgehackt und expressiv. Reich konnten beide mit den Laughing Clowns nicht gerade werden. Kuepper, er blickt immerhin auf eine lange Sololaufbahn zurück, meinte 2005, dass er die letzten Jahre hauptsächlich überlebt habe. Wegener war drogensüchtig und musste Anfang der Neunziger gar in den Knast. Wer die beiden jetzt auf der Bühne sah, konnte zwei Musiker erleben, denen die Jahre zwar anzusehen waren, die dabei aber hochkonzentriert agierten. Im Gepäck hatten sie »Jean Lee And The Yellow Dog«, ihr kürzlich erschienenes Konzeptalbum über die letzte Frau, die in Australien gehängt wurde. Und kurz vor Schluss spielten sie dann noch »The Laughing Clowns«. Kueppers Gesang, seine oft sehr psychedelisch klingende Gitarre und das fast schon frei gespielte Schlagzeug Wegeners hören zu können, das war an sich schon einen Abend mit Pappbechern wert.
Nick Cave & The Bad Seeds kamen nicht allzu lange nach ihrer Vorband auf die Bühne: Cave selbst, Mick Harvey, Warren Ellis, Conway Savage, Martyn Casey, Thomas Wydler und Jim Sclavunos. Harvey und Wydler nahmen Platz an den beiden Schlagzeugen. Mit »Night Of The Lotus Eaters« begann, was man als die Geburt des Voodoo-Bluesrock aus dem Geiste von Feedback und Perkussion bezeichnen möchte. Danach griff sich Harvey die Gitarre, wie überhaupt der ganze Abend im Zeichen eines beherzten Multiinstrumentalismus stand. Fast alle Beteiligten hatten irgendwann im Laufe des Konzerts mal einen Tamburin, Shaker oder andere Rasselwerkzeuge in der Hand. Cave wechselte zwischen grooviger Orgel und hart angeschlagener Gitarre. Das Septett brachte sein neues Album »Dig, Lazarus, Dig!!!« fast komplett und streute dazwischen Juwelen aus der jüngeren und nicht mehr ganz so jüngeren Produktion. So wurde zum Beispiel Bob Dylans »Wanted Man« am Ende des weit über zweistündigen Konzerts geboten, und wer Caves Version auf »The Firstborn Is Dead« (1985) kennt, hat eine ungefähre Ahnung von dem, was da auf der Bühne geschah. Balladen wurden wenig nur gespielt, stattdessen aber »Hard One For Love«, der libidinöse Kracher auf »Your Funeral, My Trial« (1986). Caves, Ellis’, Caseys und Sclavunos’ Grinderman-Projekt hat deutliche Spuren im Sound der Bad Seeds hinterlassen. Es war laut, funky und glorios. Nick Cave wirbelte dazu über die Bühne, wie das nur jemand kann, der nach dem exzessiven Trinken offenbar auch wirklich von der Kettenraucherei losgekommen ist. Warren Ellis absolvierte einen Teil des Konzerts am Boden. Was er genau dort tat, war nicht auszumachen, dafür aber zu hören. Von der Stelle, an der er, ganz feuerrotes Hemd und Rauschebart, vermutet werden durfte, brodelte, dröhnte und zischte es unaufhörlich aus den Instrumenten. So muss es klingen, wenn alle bösen Geister auf einmal ausgetrieben werden sollen oder, und dieses oder ist wichtig, wenn jemand einfach viel Spaß hat an dem, was er da tut. Nach dieser Musik möchte man spontan ein Sleep-in im Regierungsviertel veranstalten.
Weniger auffällig als das Tempodrom sieht die Columbiahalle Tempelhof aus. Das ist kein Grund, achtlos an ihr vorbeizugehen. Auf ihrem Gelände befand sich die Columbia-Sporthalle der amerikanischen Alliierten. Sie steht im alten West-Berlin, jener eigentümlichen Stadt, von der die Einstürzenden Neubauten heute noch als einer untergegangenen Insel sprechen. Letzten Samstag gaben sie hier das vorletzte Konzert der Europatournee zu ihrem aktuellen Album »Alles wieder offen«. Bevor sie die Bühne betraten, konnte aber gehört werden, was man in diesen Breiten viel zu selten wahrnimmt, geschweige denn hört: großartige experimentelle Musik aus China. Schlicht White nennt sich die Vorband, die die Neubauten auf ihren Konzerten begleitete. White, das sind Shou Wang, er spielt unter anderem Gitarre, Orgel, Theremin, Analog-Pedale und vieles mehr, was knarzt, und Shenggy, sie bedient analoge Synthesizer, Sampler, Drums und Effektgeräte. Den Gesang bestreiten beide Pekinger. Shou Wang war Mitglied der Noiseband Carsick Cars und hat 2006 an der Aufnahme von »Hallucination City«, Glenn Brancas Stück für 100 Gitarristen, mitgewirkt. Shenggy trommelte bei Hang On The Box, einer Indierockband aus Peking, und begeisterte sich bald für Sun Ra und kosmische Sounds. Als White haben sie mit dem New Yorker Klangmathematiker Elliott Sharp zusammengearbeitet und im Mai vorigen Jahres in Berlin mit Blixa Bargeld ihr hoffentlich bald erhältliches Debüt aufgenommen. Und so, wie die Platten der Einstürzenden Neubauten seit langem, ja allerspätestens seit »Haus der Lüge« (1989) nahe legen, dass es für sie Musik vor Punk gab und gibt, Kraut, Prog, Elektroavantgarde, so spielen White eine mäandernde, rhythmische Musik, die ungewohnt ist und umso schneller gefangen macht. Als nicht mehr ganz junger Mensch muss man sie auch dafür loben, dass sie ihr Konzert pünktlich fünf Minuten nach acht Uhr begannen.
Es wurde dann fast Punkt neun Uhr, als die Neubauten, Blixa Bargeld, Alexander Hacke, N.U. Unruh, Rudolf Moser, Jochen Arbeit und Ash Wednesday, als Gastdozent aus Melbourne angekündigt, mit »Die Wellen« ihr ebenfalls weit über zweistündiges Konzert eröffneten. Bargeld, wie Hacke barfuss, wünschte danach, man möge sich einen schönen Abend machen. Selten wurde in Berlin ein so aufmerksam zuhörendes Publikum erlebt (interessanterweise schreibt die Berliner Zeitung das Gegenteil, das hing wohl vom Standort ab). Aufmerksam sein musste man auch, und nicht erst bei der sehr schönen, fast schon filigranen Version von »Ein leichtes leises Säuseln«, das im Zugabenteil kam. Bereits vorher gab es Momente, und der meditativen Momente sind viele bei den Neubauten dieser Tage, da hätte man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Dafür fielen dann doch mehrere Dutzend Aluminiumstäbe aus einer gigantischen, von N.U. Unruh gesteuerten Haltevorrichtung auf einen Resonanzkörper. Bei »Unvollständigkeit« war das, dem neun Minuten kurzem Track auf dem aktuellen Album. Dann spielte Rudolf Moser mit Jazzbesen und Sticks auf einem seiner Fundstücke, einer sich drehenden Flugzeugturbine, Marke MiG. Einmal gar glaubte man, die Neubauten würden sich, ähnlich wie ihre rockenden Kollegen, tief in die Vergangenheit begeben: Als Blixa Bargeld die ersten Zeilen von »Halber Mensch« intonierte, nur um mit »Von Wegen« zu kontern, wieder von »Alles wieder offen«. Natürlich sind die Einstürzenden Neubauten eine ernste Angelegenheit. Aber eine nicht ohne augenzwinkerndem Humor. »Ich hatte ein Wort« wurde am Abend des Eurovisions-Entscheids als deutscher Schlager aus einem Paralleluniversum angekündigt. Zum Ende hin konnte man seltener Zeuge einer gesteuerten Kollektivimprovisation werden. »Dave« heißt dieser gelegentlich gespielte Part, und wie Bargeld bemerkte, kommt nur ein gutes Publikum in seinen Genuss. Wie soll man sich das nun vorstellen? Jeder Musiker zog aus einem schwarzen Stoffbeutel mit weißem Neubauten-Symbol drei Karten mit knappen Anweisungen, was er jetzt umzusetzen habe. Wohlgemerkt, die Karten liefern eher Assoziationen als Definitionen. »Radio« hieß es für N.U. Unruh, und er spielte dann in der Tat Klavier auf den Radiotasten. Sollte man ja auch mal wieder hören, Ton Steine Scherben nämlich, »Wenn die Nacht am tiefsten« (1975). Auf Blixa Bargelds Karte stand »Anders«, und es wurde zum Schlüsselwort für einen Ad-hoc-Track, den man gehört haben muss: Ein lautstarkes Plädoyer dafür, sich im Zweifelsfall immer für das eine Andere zu entscheiden. Nach dieser Musik möchte man spontan den Flughafen Tempelhof besetzen.
Demnächst erscheinen auf Potomak: Jochen Arbeit - Arbeit Solo (CD/DVD), Alexander Hacke / Danielle de Piciotto - The Ship Of Fools (DVD/CD), Blixa Bargeld - Commissioned Music (CD-Reissue, alle 06/2008), Rudolf Moser - Moser (10/2008), Einstürzende Neubauten - Ende Neu (CD-Reissue, 01/2009).
Bereits erschienen: Einstürzende Neubauten - Jewels (CD), N.U. Unruh - Air Show (DVD, beide 04/2008).
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