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10. Juni 2008
Robert Mießner
für satt.org

 

Mark Stewart: Edit
Mark Stewart: Edit


The Pop Group: Y
The Pop Group - Y


Albert Ayler Trio:
Spiritual Unity

Albert Ayler Trio - Spiritual Unity

Steve Beresford erinnert sich (in den Linernotes zum Reissue von »Double Indemnity«, gemeinsam mit Tristan Honsinger (1979/2001, + »Imitation Of Life«, 1981), dass Dick O'Dell, Manager der Pop Group, sich für das »Y«-Motiv vom Albert Ayler Trio, »Spiritual Unity«, (1964) inspirieren ließ.


Permanenter Ausnahmezustand

Mark Stewart geht mit »Edit« auf Tour. Höchste Zeit für einen Blick auf The Pop Group und Bristol, Maffia und Dub.

1978, als Punk schon längst die Titelblätter beherrschte und ein berechenbares Phänomen geworden war, gab es noch einmal so etwas wie einen Erdstoß, einen Urknall gar. Nur, dass er nicht aus London, sondern Bristol kam. Jener südwestenglischen Hafenstadt, im unnachahmlichen Dialekt der Einwohner »Brizzle« genannt, der die Sonne das ist, was für Manchester der Regen darstellt. Jener Stadt, die bereits seit dem achtzehnten Jahrhundert, Bristol nahm Teil am Sklavenhandel, einen hohen Schwarzenanteil in der Bevölkerung hatte, der dann in den Fünfzigern noch durch die Einwanderungswelle aus der Karibik verstärkt wurde. Es grenzt ans Klischeehafte, aber natürlich brachten die Neuankömmlinge ihre Musik mit. Und so konnte es passieren, dass beispielsweise in den Fünfzigern aus dem Buchhalter Derek Morris DJ Derek wurde, ein Weißer, der sich ohne Probleme im Schwarzenviertel Saint Pauls bewegte. Ihm war der hellhäutige Rock 'n' Roll seiner Jugend viel zu lasch, stattdessen hörte er lieber Rhythm 'n' Blues und Reggae, legt beides auch heute noch auf. DJ Dereks Geschmacksentscheidung wurde archetypisch für die Stadt und ihren Sound.

Die große Langeweile der Mittsiebziger vor Punk, sie regierte auch in Bristol. Mark Stewart und seine Mitstreiter, die The Pop Group werden sollten, machten sich, allesamt blutjung, auf den Weg nach Saint Pauls, kauften Gras, besuchten Blueskonzerte und hörten Funk und Reggae. Wichtig an der Musik war: Sie musste einen ordentlichen Bass haben, ultraheavy und unwiderstehlich hatte er zu sein. Genauso wichtig waren die richtigen Klamotten, Creepers, Zoot-Suits und Mohairpullover. Dann kam der Jazz. Stewart und seine Freunde interessierte daran weniger das akademische und geschmäcklerische Element, umso mehr aber das explosive, radikal-intellektuelle und interstellare. Der Weg zu Allen Ginsberg, Jack Kerouac und Willam S. Burroughs war nur noch ein Katzensprung. Als dann Punk über die Insel hereinbrach, erwarteten The Pop Group nichts weniger als die völlige Entwertung des Status quo, den großen, allumfassenden Umbruch. Mit einem Unterschied: Sie recycelten nicht einfach Rock 'n' Roll und Hard Rock, sondern versuchten sich als Weiße an schwarzer Musik. Das Resultat war nicht immer makellos, jedoch allemal einzigartig.

The Pop Group waren nicht einfach der Ernstfall des Post Punk. Sie waren der permanente Ausnahmezustand, entfachten einen tribalistischen Tumult aus Ideen und Sounds. Der Rhythmus, Bruce Smith am Schlagzeug, John Waddington und später Dan Catsis am Bass, ließ sich am ehesten noch irgendwo zuordnen, klang nach zugespitztem Jazz Punk. Mark Stewarts irrlichternder Gesang war an sich schon einzigartig. Aber was er da auch sang und deklamierte: »Money’s a weapon of terror« (»Blood money«). Oder in einer seltenen Mischung aus gewünschter Revolte und Regression: »We'll talk to the savage sea / It's the only direction for you and me / Disapproved of life around them / So they created a world of their own / You're my last request before the firing squad / But bullets cannot penetrate the sea« (»Savage Sea«). Dann die Gitarren, gespielt von Gareth Sager und Jim Waddington. Selten vorher hatte man derart schlingernde, schneidende und kurzum waghalsige Klänge gehört. Damit nicht genug, Sager machte sich zusätzlich noch an Saxofon (»Don’t call me pain«) und Piano (»Snow Girl«) zu schaffen. Kein Wunder, dass begeisterte Journalisten, und mit ihnen Pere Ubus David Thomas, schnell einen Vergleich zur Hand hatten: Captain Beefheart. Ich weiß nicht, wie viele Leute tatsächlich Don Van Vliets »Trout Mask Replica« (1969) und »Y« (1979), das von Reggaelegende Dennis Bovell produzierte Debütalbum der Pop Group, hintereinander gehört haben, kann es aber nur empfehlen, Zeit und gestählte Nerven vorausgesetzt. Von der bloßen emotionalen Wucht und intellektuellen Brisanz her lassen sich beide Alben schon vergleichen. Nur, für Mark Stewart sollte die Referenz zu einem Ärgernis werden. Er hätte Captain Beefheart nicht ausstehen können, verriet er später. Lieber wäre es ihm gewesen, wenn The Pop Group mit Bootsy Collins verglichen worden wären.

Sie haben es der schreibenden Zunft aber auch nicht leicht gemacht. Statt über die Musik, wollten sie mit den Journalisten über Kultur und Verbrechen reden. Alles musste auf den Prüfstand: Alltag, Beziehungen, Ökonomie, Politik. The Pop Group waren so voller Ernst und Sendungsbewusstsein, wie es nur die Jugend sein kann. Das fing schon beim Namen an. Er war nicht, wie man angesichts ihrer Musik hätte meinen können und auf diesen Seiten im vorigen Herbst geschrieben, ein grausamer Scherz. Er war aufrichtig gemeint. Pop im Sinne von populär wollten sie sein. Das hat leider nicht ganz geklappt. Der merkantile Erfolg von »Y« hielt sich in Grenzen, ebenso der des Nachfolgers »For How Much Longer Do We Tolerate Mass Murder?« (1980). Dafür bescherten sie im selben Jahr einem ungefähr gleich jungem Australier, gerade in Margaret Thatchers England angekommen, so etwas wie ein musikalisches Erweckungserlebnis. Die Single, die er da hörte, hieß unmissverständlich »We Are All Prostitutes«. Als Gast am Cello der Improvisationsmusiker Tristan Honsinger, bekannt geworden durch seine Arbeit mit Derek Bailey, Steve Beresford und Peter Brötzmann, dann bei Cecil Taylor. Der Song entstand, nachdem sich The Pop Group von ihrem Plattenlabel Radar getrennt hatten, da die Mutterfirma WEA über den Kinney-Konzern in den Waffenhandel verstrickt war. Als Antwort gründeten The Pop Group gemeinsam mit den befreundeten Slits Y, ihr eigenes Label. Der junge Australier, sein Name war (und ist) Nicholas Edward Cave.

Mark Stewart Mark Stewart

Mark Stewart
Fotos © Crippled Dick Hot Wax!

The Pop Group lösten sich 1981 auf. Dem Funk, Jazz und Dub blieben sie treu, nur unter anderen Namen. Die Glaxo Babies, Maximum Joy und Pigbag spielten einen nervösen, aber durchaus eingängigen Funk. Ja, Simon Underwoods Pigbag wurden mit »Papa’s Got A Brand New Pigbag« (1981) sogar wirklich noch populär. Die Jazzfraktion der Pop Group, Gareth Sager und Bruce Smith, gründete Rip Rig & Panic, benannt nach einem Album Rahsaan Roland Kirks, Weggefährte von Charles Mingus, Gil Evans und Quincy Jones. Den Gesang bestritt neben Ari Up (The Slits) eine sehr junge Neneh Cherry, Stieftochter von Ornette Colemans Don Cherry. Sean Oliver (1990 verstorben), der Bassist, konnte mit Terence Trent D’Arbys »Wishing Well« (1987) Erfolgsgeschichte schreiben. Sie alle haben auf ihre Weise die Schneise geschlagen, auf der sich Künstler wie Massive Attack, Portishead und Roni Size bewegten und bewegen. Trip Hop, der Begriff wird in der Stadt nur unter Vorbehalt verwendet, diese ätherische Mischung aus Hip-Hop-Beats, Dub-Effekten und Jazz und allgemein mit dem Sound of Bristol assoziiert, wäre ohne solche Vorarbeit nicht denkbar gewesen.

Mark Stewart, »Loner«
Video: Angie Reed, Musik: Mark Stewart / Philipp Quehenberger
© Crippled Dick Hot Wax! 2008
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Mark Stewart selbst, er blieb weniger konsumierbar. Er begann, mit Dubmeister Adrian Sherwood und seinen Musikern auf On-U Sound zusammenzuarbeiten. Stewarts Solodebüt war so ambitioniert wie radikal: Bereits im Oktober 1980 hatten The Pop Group auf ihrem letzten Auftritt, einer Anti-Atomkraft-Demonstration auf dem Londoner Trafalgar Square, vor immerhin zweihundertfünfzigtausend Menschen William Blakes Poem »Jerusalem« vertont. Zwei Jahre später erschien der überarbeitete Track, von Sherwood produziert, als 12''-Single, und 1983 dann »Learning To Cope With Cowardice«, die erste LP von Mark Stewart + Maffia. Das doppelte »f« ist übrigens einfach ein Druckfehler, den sie übernahmen. Während The Pop Group sich mit viel Fantasie und gutem Willen noch bei Punk unterbringen ließen, spielten Maffia, anfangs mit Lincoln Valentine 'Style' Scott (Schlagzeug), Errol 'Flabba' Holt (Bass) und Eric 'Bingy Bunny' Lamont (Gitarre), eine Musik, die annähernd nur als apokalyptischer Dub Reggae beschrieben werden kann. Lovers Rock ist es definitiv nicht. Zwei Jahre später, auf »As The Veneer Of Democracy Starts To Fade«, war die Maffia dann in der Besetzung komplett, in der sie bis heute agiert: Doug Wimbish am Bass (zu ihm in Bälde mehr), Schlagzeuger Keith LeBlanc und Skip McDonald an der Gitarre waren als Backingband der Sugarhill Gang und mit Grandmaster Flash and the Furious Five bekannt geworden. Hört man die Musik, die sie seit 1985 mit Mark Stewart und Adrian Sherwood aufnahmen, will man das kaum glauben. Es sind aber die selben, genauso wie auf »Mark Stewart« (1987), »Metatron« (1990) und »Control Data« (1996). So gänzlich abwegig ist die Konstellation auch nicht, ist doch Grandmaster Flashs »The Message«, der albtraumhafte Bericht aus dem Dschungel New York, nicht so weit weg von Stewarts Beobachtungen.

»On/Off« Mark Stewart
(Dokumentarfilm von Tøni Schifer, Interviews mit Mark Stewart, Adrian Sherwood, Daniel Miller (Mute), Nick Cave, Mick Harvey, Doug Wimbish, Skip McDonald, Keith LeBlanc, Douglas Hart (The Jesus & Mary Chain), Fritz Catlin (23 Skidoo), Jon Spencer, Gareth Sager (The Pop Group, Rip Rig and Panic u.a., plus Liveaufnahmen und Videos): Kinostart: August, DVD im Oktober/November 2008 auf Monitorpop.
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Glaube niemand, Mark Stewart habe nun zwischen 1996 und 2008 vom Legendenstatus gelebt. Der Mann ist vielbeschäftigt. Und so hat es tatsächlich zwölf Jahre gebraucht, bis, abgesehen von »Consumed. The Remix Wars« (1998) und der Compilation »Kiss The Future« (2005), ein neues Album von ihm und der Maffia erscheinen konnte. Auf »Edit«, eingespielt, abgemischt und produziert in Wien, Vancouver, London, Bristol, Berlin und auf Jamaika, ist immer noch Ausnahmezustand. Musikalisch, stilistisch, textlich. Bei Stewart ist es kein hirnloser Rebel chic, wenn er auf dem Cover wie ein südamerikanischer Revolutionär aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, sagen wir Zapata, ausschaut. Das Album, es kommt, Intro und Outro inklusive, daher gleich einer 42 Minuten langen Radioshow, die urplötzlich von einer Crew Unruhestifter mit beachtlicher Plattensammlung und Bibliothek übernommen worden ist. Der verwegenen Gesellinnen und Gesellen sind über ein Dutzend. Sie spielen knalligen Elektro Funk (»Rise Again«, mit Nick Riggio, Universe Crew und Little Axe), stellen klar »We’re happy to have you with us tonight« und wünschen, man möge mehr als einmal zuhören. Oder sie erinnern an den Sound der Achtziger (mit Philipp Quehenberger, »Loner«). Fast immer, wenn von dem Jahrzehnt die Rede ist, muss das Wort »kühl« fallen. Zur Abwechslung sei mal »frisch« vorgeschlagen, denn so klingt der Track. Schließt sich ja auch nicht zwingend aus, beides.

MARK STEWART + MAFFIA Live
  • 12. Juni 2008, 20.00 Uhr, The Voodoo Lounge, Edinburgh
  • 14. Juni 2008, 20.00 Uhr, Moscow Book Festival, Moscow
  • 16. Juni 2008, 20.00 Uhr, Maria am Ufer, Berlin
  • 18. Juni 2008, 20.00 Uhr, Royal Festival Hall, London
  • 19. Juni 2008, 20.00 Uhr Paard van Troje Den Haag
  • 20. Juni 2008, 20.00 Uhr, Strade Blu Festival, Faenza

Auf »The Puppet Master« ist Sanjay Tailorman von der Asian Dub Foundation mit von der Partie. Stewart ist großer Fan von Desi, einer Art nordindischer Dancehall-Variante. Unüberhörbar, und der Sound ist nichts weniger als unwiderstehlich. »Strange Cargo« wird von einem stammesartigen Rhythmus vorangetrieben, auf »Secret Suburbia«, dem heimlichen Hit des Albums, der auch die Basis des Outros liefert, singen Denise Sherwood, die Tochter Adrian Sherwoods, und Samiah Farah, in Paris aufgewachsene arabische Künstlerin, die 2005 auf Toscas »Heidi Brühl« gastierte. »Almost Human«, das mit sechs Minuten längste Stück auf »Edit«, ist ein schräger, mit verschiedenen Lautstärken spielender Gospel, fast so etwas wie der Ruhepol dieser quirligen Platte. »Freak Circus« sprudelt vor Energie und bringt mit Simon Mundey einen Bekannten aus der Zeit von »Control Data« ins Spiel. Noch ein Gast aus der Vergangenheit, aber lebendigst daherkommend, ist Ari Up auf der Coverversion von »Mr. You’re A Better Man Than I« der Yardbirds. Kevin Martin schließlich, der auf »Radio Freedom« interveniert, ist genau der als The Bug bekannte Dubstep-Künstler, der in den frühen Neunzigern, lange ist es her, bei God sang, Tenorsaxofon spielte und den Sampler bediente. God, einer heftigst lauten Allstar-Noise-Jazz-Kapelle mit Justin Broadrick, John Zorn und John Edwards (B-Shops For The Poor). Das sind sie, die Leute, die Mark Stewart, einer, dem die Idee stilistischer Gediegenheit ein Gräuel ist, zusammengebracht hat. Für »Edit«, ein Album, das die Avantgarde im Pop und Pop in der Avantgarde entdeckt.



» myspace.com/markstewartmaffia
»myspace.com/thepopgroup
»The Pop Group (Fan Site)