daily satt
- daily schreiber -
DIE FÄHIGKEIT ZU TRAUERN
es ist endlich wieder mal so wie in den sechzigern
da hatten wir eine wirklichkeit und die hieß traum
wir hatten einen traum und der hieß
nie mehr dieselbe wirklichkeit wie vorher
wir hatten noch das zeug
feeling von schnulze zu unterscheiden
wir gingen ab wenn janis abging
wir fetzten mit jimi und entwarfen uns unsere götter
nach unserem ebenbild
heute sitzen wir vor denkmälern putten und medaillen
und zwängen uns in kopfhörer und bilden uns
mit geschlossenen augen gefühle ein
tränen fließen leichter als blut
wohinein haben wir überlebt
welche arbeit kostet es uns ständig
das erinnerungsvermögen zu betrügen
und wenn wir heute im gras liegen fürchten wir uns
vor insekten sonnenschein wird ins verhältnis gesetzt
zum sonnenschutzfaktor unseres sonnenschutzmittels
unsere hifi-anlage kostet das vielfache
unsere kinder lachen uns aus weil wir so verloren blicken
wenn janis abgeht
und wir verzweifelt in unseren erben
das feeling zu züchten versuchen
das die auch wieder so authentisch haben
wie wir es nicht mehr wahrhaben können
(Charlie Sernold, Der längere Marsch, 1979)Freitag, der 22. März 2002
Auf dem Woodstock-Flower-Power-Mythos-Gelände soll ein Performing
Arts Center entstehen. Im heutigen Kaff Woodstock 120 Meilen
nordwestlich von New York tummeln sich Hippie-Veteranen bei Töpfern,
Kerzengießen und Aromatherapie. An der Straße des ehemaligen
Festivalgeländes noch einmal 70 Meilen weiter ein bunter Gedenkstein
mit Love-and-Peace-Zeichen. Beim alljährlichen Revivalnepp auf dem
Alfalfafeld kippt der Mythos endgültig in die ordinäre Realität, an
der nichts mehr authentisch ist im Sinne irgendeiner Nostalgie. Unsere
wichtigsten Helden sind tot, die Helden aus der zweiten Reihe sind
Rentner. Und jedes neue Open-Air-Concert tötet ein
Erinnerungsmosaikpartikel.
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