Red Road
(R: Andrea Arnold)
UK / Dänemark 2006, Buch: Andrea Arnold, Kamera: Robbie Ryan, Schnitt: Nicolas Chaudeurge, Casting: Kahleen Crawford, mit Kate Dickie (Jackie), Tony Curran (Clyde Henderson), Martin Compston (Stevie), Nathalie Press (April), Paul Higgins (Avery), Andrew Armour (Alfred), Carolyn Calder (Cleaner), John Comerford (Man with Dog), Jessica Angus (Brownyn), Martin McCardie (Angus), Martin O'Neill (Frank), Cora Bisset (Jo), Charles Brown (Broomfield Barman), Annie Bain (Aunt Kath), Frances Kelly (Woman in Denim Skirt), 113 Min., Kinostart: 17. Juli 2008
Dänische Filmemacher scheinen Regeln zu lieben, schließlich stammen von dort auch die berühmten (erstaunlicherweise mehr beflügelnden als einengenden) Dogma-Regeln.
Lone Scherfig, die Regisseurin von Filmen wie Italiensk for Begyndere (Dogma-Film Nr. 12) und Wilbur wants to kill himself, hat sich mit Anders Thomas Jensen, einem der drei meistbeschäftigten (und besten) dänischen Drehbuchautoren (und gelegentlich auch Regisseur seiner Stoffe wie bei De grønne slagtere oder Adams æbler) zusammengetan und einen neuen Regelkatalog für ein auf drei Filme angelegtes Projekt namens "Advance Party" erstellt.
Unter der Regie dreier vielversprechender Spielfilmdebütanten soll(t)en drei Filme entstehen, die von sieben von Scherfig und Jensen erdachten Figuren ausgehen, die auch jeweils von den selben Darstellern gespielt werden soll(t)en.
Eine dieser Beschreibungen lautet beispielsweise wie folgt:
Clyde hat zehn Jahre hinter Gittern verbracht. Aufgrund guter Führung wurde er zwei Jahre vor dem Ablaufen seiner Strafe entlassen und arbeitete wieder in seinem erlernten Beruf als Schlosser. Seine Freunde sind immer noch dieselben zwielichtigen Gestalten, aber trotz allem bleibt er sauber. Viele Frauen sind sehr an ihm interessiert und er hat viele Bekanntschaften, verliert aber auch schnell das Interesse und verlässt sie immer wieder. Im Gegensatz dazu ist er seinen Freunden gegenüber sehr loyal und versucht immer wieder, sie auf den rechten Weg zu bringen. Manchmal gelingt ihm dies. Und dann gibt es wieder Zeiten, in denen er mit seinem Kopf gegen eine Wand aus Schuldgefühlen schlägt. Sie entspringen seiner Vergangenheit, die er zwar bereut, aber natürlich nicht ändern kann. Er ist katholisch.
Die Beziehungen zwischen den Figuren können (und sollen) variieren, die Hauptfiguren aus Film A tauchen in Film C vielleicht nur am Rande auf, selbst der vorgeschriebene Handlungsort Schottland kann völlig unterschiedlich ausgelegt werden. Alles in allem also die dänisch-schottische Variante von Filmprojekten wie Lucas Belvaux' La trilogie, Woody Allens Melinda & Melinda, Alain Resnais' Smoking / No Smoking oder Charles Crichtons A Fish called Wanda und Fierce Creatures. Nur, dass die "Advance Party" angesichts des Reglements und der logistischen Probleme noch über diese Beispiele hinaus geht ...
Der erste der drei Filme, Red Road, wurde bereits vor zwei Jahren in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, erhielt ebenfalls 2006 die fünf wichtigsten schottischen BAFTAs (Film, Regie, Drehbuch, Schauspieler, Schauspielerin), und kommt nun durch das Engagement des jungen aus dem Peripher-Umfeld entstandenen Filmverleihs "fugu" endlich in die deutschen Kinos, während der zweite Film, Rounding up Donkeys von Morag McKinnon, noch in der Post-Production steckt (manch einer nennt das auch "development limbo", und man über den dritten Film von Mikkel Nørgaard momentan überhaupt nichts Konkretes erfahren kann.
Doch ungeachtet des Schicksals der anderen zwei Filme kann Red Road sehr wohl für sich allein stehen, denn selbst, wenn man anhand des Films nicht einmal genau festmachen könnte, wer die vorgegebenen sieben Figuren sind - darum geht es ja im Einzelfilm auch gar nicht.
Jackie (Kate Dickie) überwacht für die Glasgower Firma "City Eye" über Monitore und Sicherheitskameras die Gegend um die "Red Road Blocks", eine eigentümliche Siedlung mit mehreren 32 Stockwerke hohen Mietshäusern, in denen auch viele Ex-Sträflinge wohnen sollen. Eher zufällig stößt Jackie auf Clyde (Tony Curran), den sie wiedererkennt, und der offenbar wegen einer Straftat längere Zeit im Knast saß und nun wegen guter Führung entlassen wurde (alles wie in der Kurzbio, aber der "katholische" Aspekt ist eher untergeordnet, und die Natur seines Verbrechens werde ich an dieser Stelle natürlich nicht ausplaudern).
Auf eigene Faust, mit der Technologie im Rücken, spioniert Jackie Clyde aus, sucht schließlich seine Nähe und verfolgt eigene Ziele, die dem Zuschauer erst allmählich klar werden.
Der Film ist geprägt von einer grauen, zumeist kalten Atmosphäre, in die sich aber auch sehr schnell ein sexuelles Element mischt. Man fühlt sich erinnert an Pawel Pawlikowskis Last Resort oder Patrice Chéreaus Intimacy, doch zeichnet sich Red Road vor allem dadurch aus, dass man dem Geheimnis hinter den Figuren auf die Schliche kommen will - und dieses vielleicht nicht jeden Zuschauer überzeugen wird, aber zumindest nicht aus der abgegriffenen "Wir basteln uns ein Trauma"-Schublade stammt und nur die gängigen Klischees abspult.
Wichtig ist bei einem Film nicht nur die Handlung und das Thema, sondern vor allem die Umsetzung. Und neben den durchweg hervorragenden Darstellerleistungen hat die für ihren Kurzfilm Wasp bereits mit dem Oscar ausgezeichnete Newcomerin Andrea Arnold ein sicheres Händchen, wie man Frust, Routine oder Intimität filmisch umsetzen kann. Das Voyeur-Thema wird hier mal umgekehrt, eine Frau ist die Beobachterin. Wenn Jackie eine vermeintliche Vergewaltigung entdeckt, die sich dann doch als Sex mit beiderseitigem Einverständnis offenbart, zeigt die (Film-)Kamera, wie sie dabei den Joystick zur Kontrolle der Überwachungskameras mit den Händen umspielt, und das Rear Window-Thema zieht sich mit den von Hitchcock bereits bewährten Themen Einsamkeit, Verbrechen, Hunde durch Jackies Leben, das von den Monitoren als Fenstern in die Lebensumstände anderer geprägt ist. Während sie zu Beginn ihrer Erkundigungen immer mehr in der "Video-Welt" zu versinken droht und beispielsweise nicht mehr auf ihr klingelndes Telefon reagiert, so verändert der direkte Kontakt mit Clyde sowohl ihr Leben als auch den ursprünglichen Plan - und vor allem ihr Leben, das sich irgendwie in eine Sackgasse manövriert hatte.
Nach einer frühen Tanzszene (rot und unscharf) folgt eine intensive (für die Darsteller "schwierige") Sexszene (ebenfalls rot und unscharf), und die Farbe Rot steht hier auch für die Hoffnung, irgendwie aus dem festgefahrenen Leben (sei es durch Liebe, Gewalt, oder gar eine Kombination) herauszukommen. Dies zeigt der Film beispielsweise mit kleinen, unauffälligen Einstellungen, die die unscharfe Reflexion einer Lavalampe (ein Quasi-Orgasmus) über der unwirtlichen Skyline Glasgows zeigen.
Diese Kritik ist trotz ihrer Länge mal wieder sehr vage geblieben, aber das Schöne an Red Road ist es, langsam die Hintergründe zu erahnen, denn der Film ergeht sich nicht in RTL-tauglichen "Ich erzähl mal, was ich denke"-Dialogen, sondern erzählt seine Geschichte ebenso wortkarg wie visuell, gibt dem Zuschauer viele Möglichkeiten, Querverbindungen zu ziehen, und all diese Stärken würde eine zu detaillierte Inhaltsangabe nur zunichte machen. So wie es im Film auch viel um Vertrauen geht, sollte man ihm das Vertrauen schenken, ihn anzuschauen, ohne schon vorher zu wissen, worum es genau geht und wie es wohl ausgehen wird ...