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20. Februar 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org

Berlinale 2012



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Berlinale, die dritte


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Die Farbe des Ozeans
(Maggie Peren, Lola@Berlinale)

Deutschland / Spanien 2011, Span. Titel: El color del océano, Buch: Maggie Peren, Kamera: Armin Franzen, Schnitt: Simon Blasi, mit lex González (José), Hubert Koundé (Zola), Sabine Timoteo (Nathalie), Nathalie Poza (Carla), Friedrich Mücke (Paul), Alba Alonso (Marielle), Esosa Omo (Monama), Mikel Martín (Juan), Dami Adeeri (Mamadou), 95 Min., Kinostart: 17. Mai 2012

  Die Farbe des Ozeans (Maggie Peren)
Die Farbe des Ozeans
Foto © Südfilm

Maggie Peren ist bisher vor allem als Drehbuchautorin hervorgetreten (Vergiss Amerika, Mädchen Mädchen), außerdem als Schauspielerin (Liebes Spiel). Mein eher fragmentarischer Einblick in ihr Werk konnte mich in keinerlei Hinsicht auf ihre zweite Regiearbeit vorbereiten.

»Marielle, I can't help you.« So lautet das lapidare Urteil des Grenzbeamten José an die drogensüchtige Frau, die offenbar wiederholt bei ihm auftaucht, ihn sogar auf der Dienststelle belästigt, was schon mal gar nicht geht. Schließlich nimmt er sie immer hin im Auto mit und bereitet den Löffel mit vor, doch bei der von ihr bemessenen Dosis wird es im in zweierlei Hinsicht zuviel, und er zeiht ihren Zorn auf sie, als er den Spritzeninhalt einfach auf dem Boden leert und sie irgendwo im Niemandsland zurücklässt. Aus Josés Sicht ist das offenbar die einzig vernünftige Hilfsmaßnahme.

Das »Niemandsland« ist immerhin überschaubar, denn der Film spielt auf einer nicht weiter spezifizierten spanischen Insel (gedreht wurde auf Alicante, Altea, Elche und Gran Canaria). In der ersten Szene, in der Sabine Timoteo als Nathalie auftaucht, will die Urlauberin offenbar nur am Strand baden, doch als ein Boot voll halb- bzw. ganz verdursteter afrikanischer Flüchtlinge auftaucht, rennt sie im Bikini durch den wie eine Wüste erscheinenden Strand, um Wasser zu holen. An dieser Stelle wird man an Formentera, den anderen Berlinale-Film der Schauspielerin, erinnert, an die Szene, wo sie erschöpft und unterkühlt fast nur in einem Slip durch Ibiza irrt, doch abgesehen vom Inselsetting und der Urlaubskleidung könnten die Filme kaum unterschiedlicher sein, auch wenn es auch hier um die Probleme eines jungen Paares gehen wird.

Nachdem Nathalie nämlich zwei Flaschen Wasser geholt hat, um dem Flüchtling Zola und seinem etwa neunjährigen Sohn Mamadou zu helfen, ist die Strandpassage bereits von den Behörden abgesperrt, José nimmt immerhin das Wasser an und will es dem Kind geben. Auch Nathalie will helfen, will zumindest wissen, wie es dem Kind geht, für dessen Leben sie durch den Sand sprintete (von 28 Flüchtlingen haben nur 10 überlebt). Und da Zola sich ihre Telefonnummer angeeignet hat, und später Kontakt aufnimmt, bekommt Nathalie auch die Chance zu helfen. Ihr Freund Paul, weitaus pragmatischer und deshalb an José erinnernd, möchte nicht, dass sich Nathalie in ihrer emotional gesteuerten Naivität in etwas verrennt oder verwickelt. Und so muss Nathalie eben helfen, ohne Paul davon zu erzählen, man will ja nicht den gemeinsamen Urlaub durch Grundsatzdiskussionen verderben.

Mehr möchte ich gar nicht über das großartige Drehbuch erzählen, das sogar für den seltsam klingenden Titel eine überzeugende Erklärung hat. Offensichtlich geht es um Hilfebedürfnisse, um Regeln und um Hilfsbereitschaft. Und um die Probleme, die dadurch entstehen. Gibt es Sinn, einer Drogenabhängigen zum nächsten Schuss zu verhelfen? Oder einem illegalen Flüchtling den Weg zum Festland zu finanzieren? In Die Farbe des Ozeans geht es noch um andere Hilfeleistungen, teilweise harmloser, aber auch viel tiefschürfender. Und trotz der gehaltvollen Probleme und einiger tragischer Entwicklungen bewahrt sich der Film eine gewisse sommerliche Leichtigkeit, wie eine dreiviertelvolle PET-Flasche schaut hier noch der Hals aus dem Wasser, wo man in anderen deutschen Filmen längst wie mit Zementschuhen am Meeresboden ruhen würde.

Bei der Drehbuchentwicklung ging wohl fast ein Jahrzehnt ins Haus, und dies nicht nur wegen der mehrsprachig agierenden Figuren. Gerade in den kleinen Momenten zeigt der Film seine Klasse. Wenn der kleine Mamadou (wahrscheinlich erstmals) zwischen Badeutensilien aussuchen darf und sich anhand des Duftes für ein Shampoo entscheidet. Oder er - ohne recht zu wissen, wie ihm geschieht - in einer Polizeiwache auf ein mögliches Verhör wartet und an der Notiztafel Magnete entdeckt und mit ihnen spielt. Und Nathalie in einer Szene, die mindestens eine halbe Stunde später stattfindet, in einer winzigen kleinen Einstellung mal mit dem Zeh gegen einen dieser Magnete stößt. Selbst für so einen fast zärtlichen kleinen Kontakt nimmt sich der Film Zeit (auch wenn es wahrscheinlich weniger als eine Sekunde ist) und dadurch wächst der Film.

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  Haywire (Steven Soderbergh)

Haywire
(Steven Soderbergh,
Sondervorführung)

USA 2011, Buch: Lem Dobbs, Kamera: Peter Andrews (d. i. Steven Soderbergh), Schnitt: Mary Ann Bernard (d. i. Steven Soderbergh), Musik: David Holmes, mit Gina Carano (Mallory Kane), Ewan McGregor (Kenneth), Channing Tatum (Aaron), Michael Fassbinder (Paul), Michael Angarano (Scott), Michael Douglas (Coblenz), Bill Paxton (John Kane), Antonio Banderas (Rodrigo), Mathieu Kassovitz (Studer), 93 Min., Kinostart: 8. März 2012

Nach unzähligen Actionfilmen mit Angelina Jolie (Tomb Raider, Mr. and Mrs. Smith, Salt) kommt hier mal eine neue Heldin, und wer sich - wie ich - fragt, warum man nie zuvor von Gina Carano gehört hat, die hier mit einer ungeheuren Präsenz auftritt und offensichtlich den ganzen Film auf den Leib geschneidert bekam: Sie debütiert hier als Schauspielerin und ist eigentlich mehrfache Weltmeisterin in den Mixed Martial Arts.

Wie sie eine erquickliche Anzahl von männlichen Gegnern zusammenprügelt (und dabei aber auch einiges einstecken muss), das zelebriert der Film geradezu, und Soderbergh ist besonders stolz darauf, dass man diese Szenen nicht mit Drähten und Spezialeffekten schuf, sondern aufgrund der besonderen Begabung der Hauptdarstellerin (obwohl auch die Montage mithilft).

Dem Presseheft kann man entnehmen, dass Soderbergh einerseits etwas wie einer der frühen Bondfilme vorschwebte, mit einem ähnlichen Verhältnis zwischen Action und Handlung (also ohne Willy Bogner-Sequenzen und Explosionen), und er andererseits seinen Film gern als »Pam-Grier-Film, wie ihn Hitchcock inszeniert hätte« anpreist. Nun passt Pam Grier (Jackie Brown) nicht sonderlich in das blonde Beuteschema Hitchcocks, weshalb das Ganze etwas absurd ist, aber man kann ihm durchaus attestieren, dass der Film oft mit einer Geschwindigkeit seine Geschichte erzählt, die durchaus an North by Northwest o. ä. erinnert. Oder anders ausgedrückt: Wenn Brian De Palma (und das ist jetzt gar nicht mal despektierlich gemeint) die selbe Geschichte verfilmt hätte, hätte die Laufzeit des Films wahrscheinlich 131 statt 93 Minuten betragen.

Denn auch die Mission Impossible-Filme sind ein unübersehbares Vorbild für Haywire (teilweise erinnert auch der Score von David Holmes stark daran), und die Geschichte einer Agentin, die ausgetrickst und gejagt wird, wird im Drehbuch recht clever umstrukturiert. Es beginnt in einem abgelegenen Diner in Upstate New York, wo Mallory (Carano) eigentlich ihren Auftraggeber treffen wollte, stattdessen aber Besuch von Aaron (Channing Tatum) bekommt, der sich nach einigen Plänkeleien als das komplette Gegenteil eines Gentlemen erweist und den Film gleich mit einer unerwarteten Härte in Schwung bringt. Mallory braucht ein Auto und kidnappt einfach gleich dessen Besitzer (Michael Angarano) mit, um diesem dann im Auto die Vorgeschichte zu erzählen - wie es dazu kam, dass sie international von der Polizei gejagt wird. Der Kontrast zwischen der taffen Agentin und dem verängstigten »Kid« bringt dann auch ein wenig Humor in die Geschichte ein. Die Szene, in der er ihre Fahrkünste lobt, ist ein kleines Meisterstück.

Genderpolitisch hätte man aus dem Film sicherlich mehr machen können, aber allein die Dekonstruierung eines Vorzeige-Machos wie Antonio Banderas oder das Vorführen von Ewan McGregor, der oftmals haarscharf davor ist, sich einzunässen und wegzulaufen, ist ein Wohltat, bei der sich das filmische Experiment als gelungen erweist. Eigentlich ist es ein Rätsel, warum nicht öfter jemand seinen Hauptdarstellerin (oder Hauptdarstellerin) aus etwas anderen Kreisen castet. Quentin Tarantino hatte das ja schon mit Death Proof gezeigt, und Gina Carano könnte nicht nur aus Haywire eine ganze Filmreihe machen (das Potential ist da), auch für ihre weitere Filmkarriere wünscht man ihr alles Gute.

Doch natürlich gibt es auch etwas herumzumäkeln. Die rasante Informationsvergabe zu beginn des Films nötigt natürlich auch dem Zuschauer ab, aufzupassen, und wenn Mallory ihren Beifahrer zwischendurch fragt, wie doch gleich noch die chinesische Geisel in Barcelona hieß, dann thematisiert der Film dies auch hübsch. Doch teilweise verkürzt diese Herangehensweise auch die Arbeit der Agenten bis hin zur Lächerlichkeit. Nur weil jemand für den Film von geringer Bedeutung ist, sollten die professionellen Geiselbefreier sein Foto nicht mit dem Zusatz »Bad Guy #1« versehen. Später im Film verschwendet Soderbergh hingegen gefühlt einige Minuten, um dem Publikum zu erklären (er vertraut unserer Auffassungsgabe nicht), wie die allesamt mit Rollennamen versehenen und von bekannten Schauspielern dargestellten Oberschurken Nr. 1, 2 und 3 unsere Heldin in Absprache und unterschiedlicher Schuldhöhe hintergangen haben. Was insbesondere angesichts des folgenden, erneut recht minimalistischen Rachezugs, komplett redundant wirkt. Und der dramaturgische Kniff in der letzten Szene mit Ewan McGregor ist schlichtweg jämmerlich und wirkt für den so rasant erzählten Film wie ein Schuss in den Fuß.

Kaum mehr erwähnenswert: Soderbergh hält immer noch an seinem unterdurchschnittlich begabten Kameramann fest.

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Keep the Lights On
(Ira Sachs, Panorama)

USA 2012, Buch: Ira Sachs, Mauricio Zacharias, Kamera: Thimios Bakatakis, Schnitt: Affonso Gonçalves, mit Thure Lindhardt (Erik), Zachary Booth (Paul), Julianne Nicholson (Claire), Miguel del Toro (Igor), Paprika Steen (Karen), Souléymané Sy Savane (Alassane), 101 Min.

  Keep the Lights On (Ira Sachs)
Bildquelle: Berlinale

Weniger als eine Woche, bevor ich diesen Film sah, beendete ich den dritten Roman von Jeffrey Eugenides, The Marriage Plot. Und irgendwie erinnert mich die Atmosphäre des Films stark daran. In The Marriage Plot geht es (unter anderem) um die Liebe von Madeleine zu Leonard (das Ganze spielt in den 1980ern), der sich als manisch-depressiv erweist. Irgendwann kommt die Geschichte an den Punkt, wo Madeleine sich fragen muss, ob es sinnvoll ist, jemanden zu lieben, der gar nicht geliebt werden will.

In Keep the Lights on geht es auch um eine Liebe unter einem ungünstigen Stern. Diesmal spielt die Geschichte von 1998 bis 2006 (oder so ähnlich), und das Ganze beginnt mit einem Treffen, das über eine schwule Telefon-Hotline abgeschlossen wurde. Beide benutzen falsche Namen, und auch, wenn man die Telefonnummern behält, erklärt der Rechtsanwalt Paul (Zachary Booth), dass Erik (Thure Lindhardt) sich keine allzu großen Hoffnungen machen soll, weil Pauls Freundin auch noch ein Wort mitzusprechen hat. Doch nicht aus dieser Richtung kommt das Problem, sondern, weil Paul zunehmend in eine Crack-Abhängigkeit abrutscht.

Verglichen mit Ira Sachs' letztem Beziehungsdrama, Married Life, ist Keep the Lights on weitaus intensiver, auch, was die unverblümten Sexszenen angeht. Die beiden Hauptdarsteller bieten großartige Performances, und insbesondere das Detail, dass Thure Lindhardt in seinem US-Debüt seine dänischen Wurzeln ausleben kann (Paprika Steen spielt seine Schwester), fügt dem Ganzen eine irgendwie exotische Schicht Glaubwürdigkeit hinzu. Nebenbei ist Erik auch noch Dokumentarfilmer, und auch diese Facette der Figur nimmt - ohne für die Geschichte von wirklicher Bedeutung zu sein - einen Raum im Film ein, der das Ganze auf eine Art verankert, die für einen fiktiven Spielfilm außergewöhnlich ist. So was erlebt man sonst nur in Biopics - oder irgendwann erweist sich der Beruf oder irgend etwas daran als außerordentlich wichtig für die Geschichte. Aber Ira Sachs geht es offenbar darum, dass die Figuren authentisch wirken - und der autobiographische Kern der Geschichte (eine längere Beziehung des Regisseurs fällt in die gleiche Zeitspanne) ist keine wirkliche Überraschung.

Ungeachtet all dieser positiven Aspekte des Films muss ich aber zugeben, dass mich die Geschichte niemals wirklich tief berührte. Und wäre es eine Hetero-Kiste gewesen, bei der die Verletzbarkeit Pauls oder Eriks auf das andere Geschlecht transferiert worden wäre, hätte das auch nichts geändert. Woran genau das liegt, weiß ich nicht festzumachen, vielleicht bin ich schon von so vielen Filmen mit herkömmlicher, Drehbuchgesetzen entsprechender Dramaturgie »versaut«, dass die »Authentizität« oder der »Realismus« dieser sich über Jahre hinziehenden On-and-Off-Beziehung mich überforderte oder abtörnte.

Aber - wie man hoffentlich zumindest im Ansatz meiner Meinung zu dem Film entnehmen kann - selbst, wenn einen Keep the Lights on nicht auf einem emotionalen Level umhauen sollte: Der Film ist definitiv keine leichtfertige Unterhaltungsware und besser geschrieben und gespielt als die allermeisten Beziehungsdramen. Und wenn er nicht schon in Sundance gelaufen wäre, hätte er den Wettbewerb der Berlinale sicher um einen preiswürdigen Beitrage ergänzen können.

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Kid-Thing
(David Zellner, Forum)

USA 2012, Buch: David Zellner, Kamera, Sound Design: Nathan Zellner, Schnitt: Melba Jordorowsky, Musik: The Octopus Project, mit Sydney Aguirre (Annie), Susan Tyrrell (Esther), David Zellner (Marvin), Nathan Zellner (Caleb), Peter Vasquez (Pete), Chloe Allen (Birthday Girl), Heather Kafka (Mom), Sam Douglas (Dad), 83 Min.

  Kid-Thing (David Zellner)

Die aus Austin stammenden Zellner-Brüder liefern ein Porträt ihres Bundesstaats, das an Texas Chainsaw Massacre erinnert. Man hat das Gefühl, als sei jedermann hier etwas zurückgeblieben oder missgebildet. Leute fallen ohne erkennbaren Grund in Brunnenschächte, ein blindes Mädchen zeigt keinerlei Reaktion, als ein Attentat auf seine Geburtstagstorte erfolgt, Kioskbesitzer können Jungs und Mädchen nicht unterscheiden, und der kleinwüchsige Pete hat, um die Absicht der Filmemacher herüberzubringen, gleich auch noch deformierte Finger und eine Beinprothese. Das Leben ist kein Ponyhof.

Der Dreh- und Angelpunkt des Films ist Annie (Sydney Aguirre), ein zehnjähriges Mädchen, das ihre Langweile und das fehlende väterliche Geleit in einer neugierigen Zerstörungswut auslebt. Desinteressiert klaut sie in einem Gemischtwarenladen Packungen von »Knack und Back« (»Shake and Bake«), um die zu Bällen geknetete Teigmischung auf Autos zu werfen. Um jetzt mal ein Beispiel herauszunehmen, das Potential nicht nur für Sach-, sondern auch Personenschaden hat. Sie zermanscht auch schon mal eine Raupe, aber mit ihrer Paint-Gun schießt sie nur deshalb auf eine Kuh, weil diese ohnehin bereits tot auf der Wiese liegt (und man geht davon aus, dass Annie hier unschuldig ist, das absurde Detail eines riesigen Kadavers, um den sich keiner kümmert, aber die Message des Films und das Porträt von Texas unterstützt.

Als Betrachter kann man sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. Ich wollte zwar wirklich nie wissen, wie es aussieht, wenn man mit einer Paint-Gun einen halbvertrockneten Kuhfladen zerschießt oder was ein Knallfrosch aus einer Banane macht, aber solch ähnliche Streiche haben viele von uns als Kind verübt. Ich hatte aber noch frisch aus Werner Herzogs Death Row im Gedächtnis, dass Serienmörder oft über Brandstiftung und Tiermisshandlung zu ihrem Hobby kommen, und davon (TCM im Hinterkopf) ist Annie nicht weit entfernt.

Die Zellner-Brüder haben offenbar auch einen besonderen Sinn für Humor, der auch bei ernsten Themen immer wieder in ihre Filme einfließt. Hier spielt der Regisseur Annies Vater (auch, wenn er immer nur Marvin genannt wird) und der Kamera führende Bruder Nathan einen irgendwie unbestimmten Freund des Erziehungsberechtigten, mit dem er gemeinsam Rubbellose (natürlich alles Nieten) aufschubbert oder sich auf eine Art und Weise verhält, die offenbar auch von Annie imitiert wird.

Gefährlich wird der Film aber, wenn Annie eine Stimme im Wald vernimmt, die zu der in einen Brunnen oder Minenschacht gefallenen Esther gehört, die Hilfe braucht. dadurch, dass Esther eine Stimme ohne Gesicht bleibt, distanziert sich auch der Film ein wenig von ihrem Schicksal, aber für Annie ist dies eine Art Reifeprüfung. Wird sie begreifen, dass Esther nicht »die Stimme des Teufels« ist, die sie austricksen will? (Natürlich ist der Spieltrieb in dem Alter noch sehr ausgeprägt, und ein Blick in Annies Buch voller Zeichnungen zeugt von vorhandener Fantasie.) Zunächst rennt sie weg, dann kehrt sie zurück, mit Sandwiches, Fruchtsaft und Klopapier (immerhin mitgedacht), später mit zwei Walkie Talkies. Annie ist jetzt der Herr über Leben und Tod.

Der Film ist trotz geringem Budgets sehr kraftvoll in seinem Thema, einige Musikeinspielungen (Annie beim Radfahren) zeugen von einem unübersehbaren filmischen Talent. Und auch die junge Darstellerin überzeugt, während die Zellner-Brüder als Darsteller eine Spur zu tumb wirken, wo Annies Szenen mit Außenstehenden (ihr Musiklehrer Pete, das blinde Geburtstagskind oder der Gemischtwarenhändler) dem Film besser dienen. Auf jeden Fall werde ich in den Folgejahren beim Forum auf Filme der Zellner-Brüder achten. Auf eine andere Art wird man sie in Deutschland wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekommen.

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For Ellen
(So Yong Kim, Forum)

USA 2012, Buch: So Yong Kim, Kamera: Reed Morano Walker, Schnitt: So Yong Kim, Bradley Rust Gray, Musik: Johan Johanson, mit Paul Dano (Joby) Shaylena Mandingo (Ellen), Jon Heder (Mr. Butler), Jena Malone (Susan), Margarita Levieva (Claire), 94 Min.

  For Ellen (So Yong Kim)

So Yong Kim ist die Frau von Bradley Rust Gray (The Exploding Girl) und die beiden unterstützen sich gegenseitig bei ihren Filmprojekten. So hat Bradley hier koproduziert und saß mit der Gattin gemeinsam im Schneideraum. Im Erzähltempo und der durchaus subtilen Vermittlung ihrer Geschichten ähneln sich die beiden durchaus. Evtl. ist Bradley der visuellere der beiden, So hingegen die sperrigere.

For Ellen ist ein Film, der eine ganz ähnliche Geschichte erzählt wie der rumänische Forumsbeitrag Toata lumea din familia noastra (Rezension folgt). Ein Vater will mit seiner kleinen Tochter etwas Zeit verbringen, die Mutter sperrt sich und das Kind ist natürlich das wahrscheinlichste Opfer der Situation. Hier spielt Paul Dano (Little Miss Sunshine, There Will Be Blood) den Vater, einen Rocksänger namens Joby (nimmt man ihm mit seinen Tattoos und den schwarzen Fingernägeln glatt ab), dessen Karriere ein wenig auf der Stelle tritt (wenn überhaupt), und der sich jahrelang nicht um seine Tochter, die in den Sand gesetzte Ehe oder die Unterhaltsforderungen gekümmert hat, und nun auf dem Weg zur Unterzeichnung seiner Scheidungspapiere ist. Dass seine Noch-Frau keinen Kaffee mit ihm trinken will und am liebsten nur über die Anwälte mit ihm kommuniziert, kränkt ihn nun doch, und als er realisiert, dass nach der Unterzeichnung der Papiere der Kontakt zur Tochter komplett abbrechen wird, verzögert er diesen finalen Schritt und appelliert stattdessen an seine Frau, doch zum Wohle des Kindes (»For Ellen«) vielleicht doch eine andere Lösung zu finden.

Abgesehen vom Treffen mit den Anwälten (Jobys Anwalt ist Jon Heder - mit Vollbart!) zeigt der Film in etwas mehr als der ersten Hälfte vor allem Joby. Er fährt durch eine winterliche Einöde (die auch seinen Gemütszustand spiegeln soll), befasst sich dabei mit (seiner?) Musik und setzt den Wagen schließlich an den Straßenrand, um nur mit knapper Mühe überhaupt zum Anwaltstreffen zu kommen. Er telefoniert oder verschließt sich der Kommunikation, er versucht, so etwas wie Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, und für diesen Vorgang lässt sich der Film viel Zeit. Eher zu viel Zeit, aber vielleicht muss dieser Prozess auch rein quantitativ in Bezug gesetzt werden zum anderen Teil des Films, dem tatsächlich stattfindenden Treffen mit Ellen. In vielleicht 20 Minuten, die für sich stehend schlichtweg großartig sind, steht ein sechsjähriges Mädchen eingeschüchtert dem Vater gegenüber, der sich zuvor nicht für seine Tochter interessierte. Doch Joby ist genauso zögerlich und ängstlich, ganz langsam nähert man sich einander und dieses zarte Entdecken des Menschen, den man fast schon für immer verloren hatte, ist echtes Filmgold, wunderschön erdacht und überragend gespielt.

Doch diese 20 Minuten funktionieren auch deshalb so gut, weil sie nicht auf ein abendfüllendes Zuckerguss-Familienglück ausgeweitet werden, sondern innerhalb des kompletten Films (die Geschichte geht weiter, und nicht jedermann wird damit zufrieden sein) die Zerbrechlichkeit eines jeden Moments erst wirklich betont wird.

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Cesare deve morire
(Paolo & Vittorio Taviani,
Wettbewerb)

Italien 2011, Int. Titel: Caesar must die, Buch: Paolo & Vittorio Taviani, Mitarbeit: Fabio Cavalli, Lit. Vorlage: William Shakespeare, Kamera: Simone Zampagni, Schnitt: Roberto Perpignani, Musik: Giuliano Taviani, Carmelo Travia, mit Fabio Cavalli (Regisseur der Theaterszenen), mit Cosimo Rega (Cassius), Salvatore Striano (Brutus), Giovanni Arcuri (Caesar), Antonio Frasca (Mark Anthony), Juan Dario Bonetti (Decius), Vittorio Parrella (Casca), Rosario Majorana (Metellus), Vincenzo Gallo (Lucius), Franceso De Masi (Trebonius), Gennaro Solito (Cinna), Francesco Carusone (Fortune-Teller), Fabio Rizzuto (Strato), Maurilio Giaffreda (Ottavius), 76 Min.

  Cesare deve morire (Paolo & Vittorio Taviani)
Foto © Umberto Montiroli

Die vielversprechendste Jury, die ich persönlich bei der Berlinale erlebt habe, hat dann schlussendlich zwar mit Miguel Gomez und Ursula Meier das junge Kino gekürt, aber einigermaßen unverständlich gleich zwei Debütanten (darunter eine minderjährige Laiendarstellerin) mit den Schauspielerpreisen ausgezeichnet. Und so sehr der Regiepreis für Christian Petzold mit den Kritikermeinungen konform geht, umso mehr erstaunt der Goldene Bär für die Taviani-Brüder, die ihre großen Zeiten längst hinter sich haben, und die trotz ihres Bestrebens, »etwas Neues zu versuchen«, dann doch erschreckend konventionelles Kino abliefern.

Von den 18 Wettbewerbsfilmen habe ich exakt die Hälfte gesehen, und von den neun gesichteten Filmen war Cesare deve morire der Schwächste. Sogar mit einem gewissen Abstand. Zugegeben, mit einer intimen Kenntnis von Shakespeares Julius Caesar oder den verschiedenen italienischen Akzenten im Film wäre vermutlich auch meine Meinung zum Film besser ausgefallen, aber ausgerechnet die Parallelisierung, die der künstlerische Geniestreich des Films sein soll, ist in meinen Augen seine größte Schwäche.

Es beginnt mit einer Theatervorführung und tosendem Applaus. Danach kehren die Schauspieler, allesamt Schwerverbrecher (auch wenn der Brutus-Darsteller seit 206 frei ist und als Schauspieler unter anderem in Gomorra mitwirkte), in ihre Zellen zurück, und der Film geht sechs Monate zurück, beginnt mit dem Casting der Darsteller. Der »Moment« auf der Bühne, im Scheinwerferlicht, wird in Farbbildern gezeigt, bei denen die Farben Rot und Gold dominieren, der Großteil des Films, die Proben hinter Gefängnismauern (die Theateraufführung findet hinter den selben Mauern statt, aber das nur am Rande) hingegen sieht man in Schwarzweiß, woraus man mit Leichtigkeit einige Aussagen ziehen kann - besonders clever oder innovativ wird es davon noch lange nicht. Insbesondere auch deshalb, weil die semidokumentarische Herangehensweise an die Theaterproben in ihrer offensichtlichen Inszenierung fast noch künstlicher wirkt als die Pappmaché-Dolche und römischen Kostüme später. Gleich von Beginn an, schon beim Casting, ist alles auf die Kamera zugeschnitten, der Kinozuschauer selbst wird quasi der Casting Director - nur halt ohne Mitspracherecht. Die folgenden Proben parallelisieren den darstellerischen Fortschritt mit der Chronologie des Shakespeare-Stücks - wie man es aus diversen Shakespeare-Verfilmungen, die auf mehreren Meta-Ebenen arbeiten (etwa Shakespeare in Love oder Al Pacinos Looking for Richard) kennt. Doch zu keinem Zeitpunkt nimmt man das Hochsicherheitsgefängnis, das immer mehr zur Kulisse wird - mit Wärtern als kommentierenden Zuschauern und anderen Gefangenen als Stellvertretern für das römische Volk - ernst. Wenn man Tage zuvor Werner Herzogs Death Row gesehen hat, wirken insbesondere die Wärter wie Statisten, die zu ihrem dargestellten Beruf keinerlei Beziehung haben und einfach brav und ohne Argwohn als Portier agieren und Türen schließen. Noch schlimmer allerdings ist die Einführung Octavios, des Nachfolgers von Caesar. Da dieser erst recht spät im Stück auftaucht, will uns der Film weismachen, dass auch der Darsteller erst spät gecastet wird - und um die Unglaubwürdigkeit auf die Spitze zu treiben, soll es sich hierbei auch noch um einen Neuzugang im Gefängnis handeln. Dies sind die Momente, wo die Parallelisierung (Camorra-Mitglieder in Trainingsjacken = der römische Senat) immer absurder wird. Die Gefängnisarchitektur ist kaum mehr als solche wiederzuerkennen, bei den Proben steht man bereits im Scheinwerferlicht - zu viel vermeintlich »clevere« Inszenierungsaspekte stehen dem Film selbst im Weg, ein reiner Dokumentarfilm mit einigen Interviews mit den Gefangenen wäre da sicher ergiebiger gewesen.

Stattdessen dann das abschließende Fazit eines der Darsteller / Insassen, das bereits zu Tode zitiert wurde: »Seit ich die Kunst kenne, hat sich diese Zelle in ein Gefängnis verwandelt.« Wo Humanismus und Betroffenheit einsetzen sollen, wundere ich mich nur darüber, ob an dieser rhetorischen Figur irgendetwas besonders tiefgründig sein soll, oder ob die holprige Form der verbalen Erkenntnis (mit Bedacht) etwas über den (auch symbolisch stehenden) Sprecher aussagen soll, was ausgerechnet den Kunstanspruch wieder marginalisiert.

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Coming soon in Cinemania 79 (Berlinale, die vierte):
Kritiken zu Barbara (Wettbewerb), Keyhole (Berlinale Special), En kongelig affære / Die Königin und der Leibarzt (Wettbewerb), Rentaneko / Rent-a-Cat (Panorama), This ain't California (Perspektive Deutsches Kino), Toata lumea din familia noastra / Everybody in our Family (Forum) und Die Vermissten (Perspektive Deutsches Kino).