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23. Februar 2012 | Thomas Vorwerk für satt.org | |
79:
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Berlinale-Top 20
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Deutschland 2012, Buch: Christian Petzold, Kamera: Hans Fromm, Schnitt: Bettina Böhler, Production Design: K.D. Gruber, mit Nina Hoss (Barbara), Ronald Zehrfeld (Andre), Jasna Fritzi Bauer (Stella), Mark Waschke (Jörg), Rainer Bock (Klaus Schütz), Christina Hecke (Assistenzärztin Schulze), Peter Benedict (Gerhard), Susanne Bormann (Steffi), Jannik Schümann (Mario), Claudia Geissler (Schwester Schlösser), Rosa Enskat (Bungert), Kirsten Block (Friedl Schütz), Irene Rindje (Friedls Schwester), Jean Parschel (Schütz' Kollege), Anette Daugardt (Schütz' Kollegin), Thomas Neumann (Pensionär beim Auto), Thomas Bading (Klavierstimmer), Deniz Petzold (Angelo), Selin Barbara Petzold (Maria), 105 Min., Kinostart: 8. März 2012
Da ich den Film wegen The Life and Death of Colonel Blimp erst in der Wiederholung sah, hörte ich schon vorher vollmundige Anpreisungen wie Kollege Thomas Grohs Zusammenfassung »Ein Meisterwerk«. Als dann der Nachspann von Barbara lief, wunderte ich mich ein wenig, denn der Film war für mich einfach der neue Film von Christian Petzold (was natürlich schon etwas überdurchschnittliches ist), die Qualität war jetzt nicht irgendwie auf einem völlig neuen Level oder so. Es dauerte dann noch etwa eine Viertelstunde, bis ich begriff, dass der Film tatsächlich ein »Meisterwerk« ist, denn so, wie die T.C. Boyles und Philip Roths dieser Welt immer wieder versuchen, die fast mythologisch überhöhte »Great American Novel« zu schreiben, so versucht man in Deutschland seit etwa zwei Jahrzehnten, einen mustergültigen Film über die deutsch-deutsche Vergangenheit zu schaffen - und man kann es nicht anders zusammenfassen: verglichen mit Barbara waren selbst die gelungeneren Versuche wie Good Bye, Lenin oder Das Leben der Anderen eben nur dies: Versuche.
Petzold, mit Recht mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet, findet den perfekten Mittelpfad zwischen Spreewaldgurken-Ostalgie und Stasi-Atmosphäre, sein Film erzählt nicht von Trabbis Westpaketen, sondern von Menschen und ihren Sehnsüchten, ihren Mitteln, die Wünsche umzusetzen, und deshalb natürlich auch von ihren Fehlern.
1980. Die Ärztin Barbara (Nina Hoss) wurde nach einem Ausreiseantrag von der Berliner Charité in die Brandenburgische Provinz strafversetzt. Ihren neuen Kollegen Andre (Ronald Zehrfeld) sieht man gleich in seiner ersten Szene, wie er den Neuzugang gemeinsam mit einem Staatssicherheits-Beamten beobachtet, und entsprechend werden Barbara und die Zuschauer jeden folgenden Versuch Andres, Barbara zu helfen oder ihr Vertrauen zu gewinnen, argwöhnisch betrachten. Respekt verdienen beide sich vor allem durch ihre Fähigkeiten im Beruf, seien sie emotionaler oder akademischer Natur.
Mit ihrem Rad unternimmt Barbara manchmal größere Streifzüge, und die Überwachung durch die Stasi hat immerhin ihre Gründe: Barbara hat einen Freund im Westen, und sie hortet Westdevisen für den Fluchtversuch. Der Ost-West-Kontakt findet in einer Art statt, die Westdeutschland nur als Kommerzparadies, aber nicht unbedingt als Hort der Menschlichkeit erscheinen lässt. Allerdings benutzt Petzold hier auch einen sehr eingeschränkten ostdeutschen Tunnelblick. Der Alltag in der DDR wird indes auch nur mit den Augen Barbaras betrachtet: Misstrauen und Schikanen (um es fast noch euphemistisch auszudrücken).
Der Film braucht gut anderthalb Stunden, um aus dieser Atmosphäre zumindest ansatzweise zu entkommen, um überhaupt die Möglichkeit des menschlichen Miteinanders zu erschließen. Und wie wir aus zwei Jahrzehnten deutscher Wiedervereinigung wissen, braucht das zwiegespaltene Volk für diesen Vorgang durchaus viel länger.
In seinem Mikrokosmos beobachtet Petzold mit winzigen Nuancen die deutsch-deutschen Befindlichkeiten, so präzise wie er ist allenfalls Tykwer in seinen besseren Arbeiten, was Petzold aus seinen Schauspielern herausholt, ist sensationell.
Die aus meiner Sicht zwei besten Filme dieser Berlinale, Barbara und Die Farbe des Ozeans, bieten sich übrigens für ein Double Feature an: Wenn man erst Barbara schaut und danach Die Farbe des Ozeans, so entwickeln die beiden Filme gemeinsam einige erstaunliche Synergien, sowohl rein handlungsorientiert als auch über die Figurenkonstellationen. Und sie geben einem neue Hoffnung in das deutsche Kino.
Dt. Titel: Die Königin und der Leibarzt, Intern. Titel: A Royal Affair, Buch: Nikolaj Arcel, Rasmus Heisterberg, Kamera: Rasmus Videbøk, Schnitt: Mikkel E.G. Nielsen, Kaspar Leick, Musik: Gabriel Yared, Cyrille Aufort, Production Design: Niels Sejer, Art Direction: Martin Kurel, Kostüme: Manon Rasmussen, mit Mads Mikkelsen (Johan Struensee), Alicia Vikander (Caroline Mathilde), Mikkel Boe Følsgaard (Christian VII), Tryne Dyrholm (Juliane Marie), David Dencik (Guldberg), Thomas Gabrielsson (Grev Rantzau), Cyron Melville (Enevold Brandt), Bent Mejding (Bernstorff), Harriett Walter (Augusta Princess of Wales), Laura Bro (Von Plessen), Sren Malling (Hartmann), 131 Min., Kinostart: 19. April 2012
Der zweite Historienschinken im Wettbewerb spielt nur kurze Zeit vor der französischen Revolution und schildert die Einflussnahme eines aufklärerischen Arztes (Mads Mikkelsen) auf den psychisch labilen dänischen König (mit dem silbernen Bären ausgezeichnet: Mikkel Boe Følsgaard). Zwischen den beiden steht die Königin Caroline Mathilde (Alicia Vikander), die sich ihre Ehe ganz anders ausgemalt hatte und in den Armen des stattlichen Arztes dann doch etwas Leidenschaft erfährt.
Der Film wird ungeachtet des allen überschattenden Superstars Mikkelsen größtenteils aus der Sicht der jungen Königin erzählt, die in einer Rahmenhandlung aus dem Exil an ihre Kinder schreibt, und deren Hochzeitsnacht 1766 durchaus an die Probleme erinnert, die Sofia Coppola in Marie Antoinette beschreibt (»Der König ist hier, um der Königin wie abgesprochen beizuwohnen«). Nur dass König Christian nicht nur etwas schüchtern ist, sondern er an eine »ich kann alles haben«-Mentalität gewöhnt ist, und seine Sexualität dadurch etwas verkorkst ist (Ein Arzt dazu: »Die meisten seiner Probleme werden durch exzessive Masturbation hervorgerufen«). Immerhin wird in Rekordzeit ein Thronfolger fabriziert (wodurch die Ehe als triumphaler Erfolg gerechnet wird), und die Kleinigkeit, dass sich die Königin danach ihrem Gatten »verschließt«, stört den in den Freudenhäusern Kopenhagens immer gern gesehenen Gast nicht wirklich. Der aus der dänischen Kolonie Altona stammende deutsche Arzt Struensee erarbeitet sich clever das Vertrauen des Königs, und zwischen den beiden entsteht fast eine intime Nähe, von der das Königspaar weit entfernt ist. Zunächst beäugt Caroline den Vertrauten ihres Gatten, dessen Taktiken leicht zu durchschauen sind, argwöhnisch, doch nachdem sie in seiner Bibliothek interessante Bücher fand, deren Besitz der Königin aufgrund von Zensurbestimmungen untersagt ist, kommt sie ihm zunächst intellektuell näher (was natürlich filmisch schwer umzusetzen ist). Doch neben der eher politischen Handlung des Films (einzig Tryne Dyrholm als Stiefmutter des Königs ist mit »böse gucken« etwas unterfordert) weiß Regisseur Nikolaj Arcel auch die romantischen Aspekte der »Royal Affair« überzeugend umzusetzen. Die Königin hält die Hände in den Regen und erzählt davon, dass sie das an ihre Heimat England erinnert, der Leibarzt blickt auf ihre sich im Wind bewegenden Nackenhaare - viel mehr braucht man nicht für Erotik à la Jane Austen (und ein bisschen darüber hinaus).
Was den politischen Inhalt des Films angeht (leider kann ich da nicht ins Detail gehen, ohne das Ende des Films auszuplaudern), so gibt es auch hier wieder die überall lauernden Berlinale-Parallelen. König Christian soll keine Zeit verschwenden, in dem er Dokumente durchliest, er soll »einfach nur unterschreiben«. Das erinnert an einige Szenen aus Herr Wichmann aus der dritten Reihe, der sich während Landtagssitzungen auch gern mal über Kfz-Ersatzteile unterhält oder sonstwie abgelenkt ist - aber immer, wenn um ihn herum die Parteikollegen die Hand heben, folgt er der Herde - was da gerade entschieden wird, ist Nebensache.
Doch zurück nach Dänemark: Mit zwei silbernen Bären (für den Königsdarsteller und das Drehbuch) hat En kongelig affære bei der Berlinale ganz schön abgesahnt. Und trotz aller meiner Bedenken bei einigen Jury-Entscheidungen hat der Film zumindest diese Aufmerksamkeit verdient. An Filmen, die an Königshäusern spielen, fallen mir nämlich auf Anhieb kaum welche ein, die mich so fasziniert haben wie dieser.
Japan 2012, Intern. Titel: Rent-a-Cat, Buch: Naoko Ogigami, Kamera: Kazutaka Abe, Schnitt: Shinichi Fushima, Musik: Kosuke Ito, Art Direction: Mayumi Tomita, mit Mikako Ichikawa (Sayoko), Reiko Kusamura (Toshiko Yoshioka), Ken Mitsuishi (Goru Yoshida), Maho Yamada (Megumi Yoshikawa), Kei Tanaka (Shigaru Yoshizawa), Katsuya (Sayokos komischer Nachbar), 110 Min.
Megane / Glasses vor ein paar Jahren hatte ich im Panorama verpasst, zwei Drittel meines Freundeskreises waren aber ganz aus dem Häuschen deswegen. Also nahm ich mir vor, den neuen Film der Regisseurin zu begutachten, der mich als Katzenperson natürlich schon von vornherein ansprach.
Die junge Sayoko lebt allein. Nein nicht ganz allein, denn aus irgendwelchen Gründen laufen ihr immer wieder Katzen zu, und als Kinozuschauer kann man schon anhand der Szenen, die sich des öfteren im Bildhintergrund abspielen, ein wenig verzückt sein.
Der etwas dickliche »Master Utamara« (eine der Katzen) ruft sie, wenn die zumeist doch eher jungen Katzen dummes Zeug machen. So erzählt sie uns zumindest, wie ein Tagebuch wird man als Zuschauer in ihre Gedankengänge eingeweiht. Auch, wenn die manchmal etwas absurd klingen. Ungeachtet der Katzen ist Sayoko mit ihrem Singlestatus nicht zufrieden, doch da sie auch ungern die Wohnung verlässt, wird sich daran kaum etwas ändern. Da kommt sie auf die großartige Idee, die ihren Überschuss an Katzen regulieren könnte und sie gleichzeitig in Kontakt mit anderen Menschen bringen soll: Sie will ihre Katzen verleihen, denn »nichts ist besser als eine Katze, wenn man sich einsam fühlt«. Und so zieht sie mit einem kleinen Wagen voller Katzen umher und bietet per Megaphon ihre Dienste an. Ihren fast gesungenen Slogan »Rentaaaaaaaaneeekooo - nekoneko« hat man noch Tage später im Ohr. Der Film schildert dann einige der Situationen, in denen Personen Katzen ausleihen, wobei das Prüfungsgespräch (damit die Katzen in gute Hände abgegeben werden) und die Wohnungsbesichtigungen wie einiges im Film (die vor der »verrückten Katzenlady« weglaufenden Kinder, der Nachbar mit seinen kuriosen Beleidigungen) immer wieder nach dem selben Schema funktionieren. Ganze Dialogpassagen wiederholen sich fast ohne Veränderungen, und so unglaublich das klingen mag: Dies trägt durchaus zum Charme des Films bei.
Ihrem Ziel, bis Jahresende einen Mann zu finden, kommt Sayoko indes nicht wirklich näher. Unter ihren ersten drei Kunden sind zwei Frauen und ein eher älterer, bereits verheirateter Mann. Schließlich taucht aber ein junger Mann auf, der sie noch aus Schulzeiten (mit einem unschönen Spitznamen) kennt, und wer jetzt glaubt zu wissen, wie der Film weitergeht, unterschätzt die spielerische Naivität der Regie, hinter der sich aber ein immenser Einfallsreichtum verbirgt.
Nachdem wir einige Strategien gegen Einsamkeit erlernten, und Taktiken, das Leben zu verschönern, entlässt einen der Film definitiv glücklicher. Ein Loch in unserem Herzen, von dem wir gar nicht wussten, dass es existiert, wurde gefüllt. Von einem Film, der so erfrischend ist wie Speiseeis an einem heißen Sommertag, und einer Hauptdarstellerin (Mikako Ichikawa), die das gemeinsame Kind von Audrey Hepburn und Jerry Lewis sein könnte. Jetzt will ich nur noch den Rentaneko-Klingelton für mein Handy.
Rumänien / Niederlande 2012, Int. Titel: Everybody in our Family, Buch: Radu Jude, Corina Sabau, Kamera: Andrei Butica, Schnitt: Catalin Cristutiu, mit Serban Pavlu (Marius), Sofia Nicolaescu (Sofia), Gabriel Spahiu (Aurel), Mihaela Sirbu (Otilia), Tamara Buciuceanu-Botez (Coca), 107 Min.
Der andere Film neben For Ellen, der vom Kampf eines Vaters um ein bisschen Zeit mit seiner Tochter handelt. Doch dieser Film geht in eine ganz andere Richtung. Marius ist Zahnarzt, am Wochenende will er, wie mit der Kindsmutter abgesprochen, mit seiner 5jährigen Tochter Sofia ans Meer fahren. Er schält sich aus seiner Junggesellenbude, schnall ein ungestüm großes Kuscheltier, das er extra hat machen lassen, auf sein Krad, und fährt zunächst zu seinen Eltern, um sich deren Auto zu leihen. Im Umgang mit seinen Eltern zeigt er erste Spuren einer gewissen Rücksichtslosigkeit und einer enormen Egozentrik. Irgendwie gelingt es ihm aber doch, die Autoschlüssel und ein Vesperpaket dazu abzugreifen. Eine Mutter neigt halt dazu, die Fehler des Kindes auszublenden.
Dann kommt er bei der Wohnung seiner Ex Otilia an. Seine ehemaligen Schwiegermutter hat er Blumen mitgebracht, die Ex ist nicht da, nur ihr neuer Stecher Aurel, der Mann den seine Tochter womöglich bald Papi nennen wird. Die Fronten sind abgesteckt, die kleine Sofia schläft noch, weil sie am Vortag plötzlich erkrankt sein soll, Marius will die Grenzen seiner Ex bewahren, wie es sich gehört. Dann geht er kurz ins Bad, er kennt die Wohnung genau und stiehlt sich ins Kinderzimmer, wo er die Tochter leise weckt. Von wegen »Grenzen wahren«, wenn er seine Tochter nur 15 Tage im Jahr sehen darf, lässt er sich nicht von einer plötzlich erfundenen »Krankheit« ins Bockshorn jagen, dem Kind geht es doch prächtig.
Nachdem bereits ein gewisser Teil des ersten Urlaubstages verloren ging, will Marius jetzt möglichst schnell aufbrechen, der Weg zum Meer ist lang. Doch Nebenbuhler Aurel ist dagegen, dass Sofia einfach mitgenommen wird, solange sich die Mutter (die sich dummerweise immer mehr verspätet) nicht dazu äußern konnte. Schließlich versperrt er den Weg, der Streit artet etwas aus, und Sofia will plötzlich lieber bei der Mutter, Oma und Aurel bleiben, weil der Papa plötzlich »fies« geworden ist. Fürsorglich erklärt Marius ihr die wirkliche Situation, und das Kind hat ja keinen Schimmer davon, wie »fies« ihr Vater wirklich ist, wie jedermann andere kurzfristige Lügen auftischt, um nur seinen Willen zu bekommen, wo sich ja scheint's alle gegen ihn verschworen haben. Die Situation eskaliert immer weiter, Sofia hält sich längst die Ohren zu, um dem Streit der Erwachsenen, die sie liebt, zu entkommen, und man ahnt als Zuschauer, dies kann ganz schlimm enden.
Nach seinem Langfilmdebüt The Happiest Girl in the World, in dem - in anderen Relationen - auch ein kleines Problem immer größer wurde, kehrt Radu Jude zum Forum zurück, und sein zweiter Langfilm überzeugt noch stärker. Die Auflösung der Situation mag nicht jedermann überzeugen, doch aus meiner Sicht weiß der Regisseur ganz genau, was er will - und es gelingt ihm weitaus besser als Marius, dies umzusetzen, ohne dabei seine anfänglichen Sympathien zu verlieren.
Mit geringen Mitteln wird in der immer klaustrophobisch wirkenden Wohnung eine komplexe Situation bis zum Ende durchgespielt, und gerade der Kniff, den Vater zunächst positiv darzustellen, ehe er immer mehr Gesicht verliert, macht aus diesem Film quasi die dunkle (aber interessantere) Seite von oberflächlichen Filmen wie Kokowääh. Das Potential für einen deutschen Kinostart ist durchaus vorhanden.
Deutschland 2012, Int. Titel: Reported Missing, Buch: Jan Speckenbach und Melanie Rohde, Kamera: Jenny Lou Ziegel, Schnitt: Wiebke Grundler, Musik: Matthias Petsche, mit André M. Hennicke (Lothar), Luzie Ahrens (Lou), Sylvana Krappatsch (Vera), Jenny Schily (Sylvia), Sandra Borgmann (Hella), Irene Rindje (Lehrerin), Nicole Mercedes Müller (Julia), Ecki Hoffmann (Polizist Wache), Arthur Romanowski (Erster Junge), Oskar Bökelmann (Zweiter Junge), Paula Kroh (Mädchen), 86 Min., Kinostart: 10. Mai 2012
Und noch eine Geschichte um einen Vater und sein Kind. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass Lothar (André M. Hennicke) sich erst dann intensiv um seine Teenager-Tochter Martha kümmert, als sie vermisst gemeldet wird (»Nein, bei mir ist sie nicht, wieso sollte sie auch? Sie kennt mich ja gar nicht, sie war sechs!«). Kurz zuvor hatte Lothar noch ein junges Mädchen im Auto mitgenommen, das vielleicht seine Tochter hätte sein können, und plötzlich bringt er ungeahnte Energien auf, trifft seine Exfrau, schaut sich das Jugendzimmer an (»Was hatte sie denn so für Interessen?« ist der erste große Lacher des Film angesichts von Pokémon-Artikeln und eines Twilight-Posters), inspiziert schließlich in Ermangelung eines Tagebuchs die Schüler-VZ-Seite, wo er erstmals auf die »Ratten der Lüfte« stößt, einen seltsamen »Partyclub«.
Nebenbei erfährt man auch einiges über Lothar. Er arbeitet in einem Atomkraftwerk, besucht zu Beginn seinen Vater im Altersheim (die Vater-Situation wird in solchen Filmen immer gern von beiden Seiten beleuchtet), und seiner neuen Freundin hat er von der Tochter nie erzählt, weil er einen »Neuanfang« wollte ...
Seine Erkundigungen bringen nur wenig zu Tage, gerade bei der Befragung von Schulkameraden Marthas schlägt ihm Unwillen entgegen, einmal wird sogar ein Stein in seine Autoscheibe geworfen. Schließlich findet er einen Taubenschlag in der Nähe, wo er das junge Mädchen abgesetzt hat, das Zeichen der »Ratten der Lüfte« auf der Tür und eine Brieftaube mit einem offenbar leerem Zettel als Nachricht. Er steigert sich in eine Verschwörungstheorie hinein, merkt aber gar nicht, dass sich die Welt, während er auf Spurensuche durch den Wald stolpert, weiterbewegt.
Zu Beginn des Films gibt es eine Schrifttafel: »Das Staunen über die Welt gehört den Kindern. Das Staunen über die Kinder aber gehört den Erwachsenen.« Um diese Generationenkluft, euphemistisch »Staunen« genannt geht es in dem Film, der mit geringen Mitteln eine beklemmende Atmosphäre aufbaut, dabei aber das Risiko auf sich nimmt, nicht von allen Zuschauern ernst genommen zu werden. Gerade die teilweise unfreiwillige Komik mancher Situation verwehrt es offenbar einigen Betrachtern, sich auf die letztendlich ziemlich monumentale Geschichte innerhalb der filmischen Möglichkeiten eines Erstlingswerks einfach einzulassen, einige Kritikerkollegen übertrafen sich jedenfalls nach dem Film gegenseitig darin, anhand winziger Details den Film auseinanderzunehmen, der aber kaum eine andere Möglichkeit hat, als seine Geschichte in kleinen Facetten und mit vielen Auslassungen zu erzählen. Für mich war der Film ein gelungener Genre-Mix, eine Art verqueres »Philip Marlowe sucht Peter Pan«, das ich auch noch mit anderen Film- und Literaturklassikern vergleichen würde, wenn mir nicht soviel daran läge, dem Zuschauer die Möglichkeit zu lassen, die Geschichte des Films selbst zu erleben, ohne zuvor zuviel darüber zu wissen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich momentan so einen Narren an den frühen Werken von Jonathan Lethem gefressen habe, der hier sozusagen in einer etwas ungelenken Christian-Petzold-Version vorliegt.
Deutschland 2012, Buch: Martin Persiel, Ira Wedel, Kamera: Felix Leihberg, Schnitt: Maxine Gödecke, Froschhammer, Bobby Good, Musik: Lars Damm, Animation: Sasa Zivkovic, 90 Min.
Wenn es bei der Perspektive Deutsches Kino einen Publikumspreis gäbe, wäre jedermann klar gewesen, dass nur This ain't California dieses gewinnen könne. Da sich aber die Jury aus jungen deutsch-französischen Filminteressierten ebenfalls für diesen Film entschieden hat, muss wohl mehr als die pure ostalgische Lebensfreude den Ausschlag gegeben haben.
Ausgehend von der Beerdigung eines Soldaten treffen sich die ehemaligen Freunde (die nicht wirklich fassen können, dass ein unangepasster Rebell sich für diesen Job entschieden hat) und rekapitulieren (auch für die Dokumentarkamera), wie sich in den 1970ern die Subkultur der Rollbrettfahrer bildete und bis zum Mauerfall entwickelte.
Die Rollbrettfahrer sind keine ärmlichen Nachahmer des US-Trends, »aufs Skateboarden kommt man als Kind wie von selbst.« »Genug Beton hatten wir ja.« Oder, wie es in einer DDR-Dokumentation über die Gegend um den Alexanderplatz heißt: »Eine Harmonie, die durch keinen privaten Bauspekulanten gestört werden kann.«
Doch zunächst beginnt die Geschichte einer Jungsfreundschaft in Oldenstedt, einem kleinen Provinznest, wo die Jungs Räder an irgendein Stück Presspappe basteln und damit durch die Gegenrollen. Bevorzugt mit einem Hilfsmotor davor wie einem Moped. Super-8-Material aus der Zeit, ein wenig zu populistisch als solches gekennzeichnet, zeigt die Kinderfreuden, die jeden Funktionär in die Barrikaden getrieben hätten, denn »die Straße war ja nicht zum Spielen da«.
Und wenn mit dem Rollbrett Hindernisse überspringen will, muss man es natürlich mit einem Fahrradschlauch oder dergleichen am Körper befestigen, erst viel später in Ostberlin und einem osteuropäischen internationalen Wettbewerb werden die inzwischen Herangewachsenen »echte« Räder erhalten und in die Feinheiten des Sports eingeweiht werden. Kontaktscheue zu US-amerikanischen Legenden oder einer westdeutschen Journalistin gibt es nicht, schließlich führen die konspirativen Treffen mitten in einer Ostberliner Altbauwohnung (Karl Marx 69 - die Skaterwohnung) sogar zu verschärfter Überwachung, ein ehemaliger Stasi-Offizieller tritt ebenfalls für den Film vor die Kamera.
Doch was This ain't California wirklich auszeichnet, ist die persönliche Note, die Rekonstruktion einer Jugend, wie aus einem beinhart geförderten Schwimmtalent Dennis ein Rollbrettrebell wird, der in Berlin schließlich als »Panik« immer mehr den Bodenkontakt verliert und nach dem Mauerfall ausgerechnet bei der Bundeswehr landet. Ganze Legenden ranken sich um ihn, die zumeist in Animationen nachgezeichnet werden. Der Film erzählt von einer innigen Ost-West-Beziehung (Details werden nicht bekanntgegeben), er gibt in Parallelmontagen DDR-Geschichte wieder (»Jeder Junge und jedes Mädchen kann sein Talent frei entfalten« - auch wenn der staatlich geförderte Rollsport - kein Witz! - ganz andere Hintergründe hat), durchaus auch mit kritischen Anklängen, er schwankt immer wieder zwischen Bewunderung und Unverständnis - nicht nur fürs Rollbrettfahren. Selbst ich als Purist in Sachen Dokumentarfilm habe mich hinreißen lassen, über die Retuschen, das bearbeitete Material, die im Dialekt nachgesprochenen Sequenzen und die Animationen hinwegzusehen und mich einfach an dem Film zu erfreuen, der nicht nur eine ostdeutsche, sondern eine gesamtdeutsche Vergangenheit zu neuem Leben erweckt.
Kanada 2011, Buch: Guy Maddin, George Toles, Kamera: Benjamin Kasulke, Schnitt: John Gurdebeke, Musik: Jason Staczek, Production Design: Richardo Alms, Kostüme: Heather Neale, mit Jason Patric (Ulysses Pick), Isabella Rossellini (Hyacinth), Brooke Palsson (Denny), David Wontner (Manners), Louis Negin (Calypso / Camille), Johnny W. Chang (Chang), Kevin McDonald (Ogilbe), Udo Kier (Dr. Lemke), 93 Min.
Der neue Guy Maddin dreht sich ausnahmsweise nicht um die Biographie des Regisseurs, sondern ist zunächst ein klassischer Gangsterfilm mit Geiselnahme, der aber in einem Geisterhaus spielt. Zudem gibt es einige Anspielungen an Homers Odyssey, insbesondere an die Rückkehr des lange abwesenden Vaters. Ulysses Pick (Jason Patric) kehrt mit einigen Gangstern und Geiseln zurück nach Hause. Gleich zu Beginn überschlägt sich der Film in einem Stakkato-Schnitt, die kontraststarke Schwarzweiß-Fotografie gebärdet sich wie Frontalangriff auf die Netzhaut des Betrachters. Maddin macht es einem nicht leicht, den Film ernst zu nehmen, wenn nach einem Schussgefecht (bei dem die Gefahr von außen immer unsichtbar und behauptet bleibt) der Obergangster die Toten und die Lebenden trennt, indem er die Toten bittet, sich zur Wand zu drehen. Dazu kommt der enervierende Voice-Over-Kommentar »Remember, Ulysses, remember!«, der einem immer wieder vor Augen führt, dass die traumhaft-surrealistische Handlung sich auf mehreren Ebenen abspielt.
Oben in einem der Zimmer wartet Ulysses' Frau Hyacinth (Isabella Rossellini) auf ihn, an ihr Bett gekettet wacht der Geist ihres Vaters (Louis Negin) über sie (»I may be chained to my daughters bed, but nobody knows how long the chain is!«). Während die Gangster voyeuristische Spielchen spielen (die plitschnasse, womöglich ertrunkene Denny soll ihre nassen Kleider ablegen und man beruhigt sie »Nobody will look«), lernt man einen der Geister kennen, eine Frau, die unaufhörlich über den Boden gebückt diesen aufwischt. Als einer der Gangster glaubt, diese Situation ausnutzen zu können (war das jetzt die visuelle Entsprechung des Sirenengesangs?), darf er sie für alle Ewigkeit hinter ihr hockend »begleiten«, und irgendwann gesellt sich auch der angekettete Alte hinzu und peitscht den Missetäter im Rhythmus der todgeweihten Kopulation aus. Dies sind die komplett absurden Momente, die einen Film von Guy Maddin ausmachen. Ein ektoplasmisch halbdurchsichtiger Geist, der einem aus der Wand schauenden Holzphallus (angeblich der Zyklop) einen Blowjob aneignet. Oder einer der Geistersöhne Ulysses, der in einer klar masturbatorisch angehauchten Würfelbewegung gefangen ist, und nur ab und zu orgiastisch »Yahtzee!« rufen darf.
Selbst die Einschusslöcher offenbaren sich irgendwann als Geistererscheinungen, und der Film wird irgendwann zum psychoanalytischen Familiendrama, selbst, wenn die meisten Familienmitglieder nur noch Spukgestalten sind.
Guy Maddin betreibt wie immer ein Kino der Assoziationen und der spinnerten Ideen (Fahrräder als Mordwerkzeuge!), diesmal könnte es aber sein, dass der Film auch ganz konkret eine sinnvolle Geschichte erzählt. Nur müsste ich ihn dazu noch mindestens ein zweites Mal sehen, um zweifelsfrei entscheiden zu können, wer jetzt Geistererscheinung ist und wer ein Lebender unter ihnen. Ungeachtet dessen verhält es sich aus meiner Sicht aber wie bei David Lynchs Lost Highway (auch so ein Verwirrspiel): Man gibt sich dem Film einfach gern hin, lässt sich anderthalb Stunden lang den Rührfix durchs Gehirn treiben.
Coming soon in Cinemania 80 (Berlinale, die fünfte):
Kritiken zu Captive (Brillante Ma. Mendoza, Wettbewerb), L'enfant d'en haut / Sister (Ursula Meier, Wettbewerb), Jayne Mansfield's Car (Billy Bob Thornton, Wettbewerb), The Iron Lady / Die eiserne Lady (Phyllida Lloyd, Hommage), Kazoku no kuni / Our Homeland (Yonghi Yang, Forum) und Pacha (Héctor Ferreiro, Generation Kplus)
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