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29. Dezember 2013 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||||
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UK / Deutschland / Frankreich / Zypern / USA 2013, Buch: Jim Jarmusch, Kamera: Yorick Le Saux, Schnitt: Affonso Gonçalves, Musik: Jozef van Wissem, Production Design: Marco Bittner Rosser, Art Direction: Anja Fromm, Anu Schwartz, mit Tom Hiddleston (Adam), Tilda Swinton (Eve), Mia Wasikowska (Ava), John Hurt (Marlowe), Anton Yelchin (Ian), Jeffrey Wright (Dr. Watson), Slimane Dazi (Bilal), Carter Logan (Scott), Wayne Brinston (Mirror Man), Ali Amine (Taxi Driver), 123 Min., Kinostart: 19. Dezember 2013
Seit Down by Law bin ich ein großer Verehrer von Jim Jarmusch, habe seitdem jeden seiner Filme startnah im Kino gesehen, und bis vor kurzem gab es nur einen Film, der mir dabei nicht gefiel. Und das war immer ein kleines Mysterium für mich, denn in meinem Umfeld vergötterte man diesen Film regelrecht, was natürlich nur zwei Schlüsse zulässt: entweder stimmt mit mir etwas nicht, oder mit meinen Freunden.
Mein Freundeskreis hat sich seitdem ein wenig verändert (nicht nur personell, sondern auch individuell), und als ich bei The Limits of Control schon sehr an Jarmusch zweifelte, stand ich damit nicht mehr allein. Sein neuester Film, Only Lovers left alive, zeugt zwar von einer gewissen Verbesserung, aber netterweise liefert er mir die verspätete Erklärung, warum mir schon Dead Man nicht mehr gefallen hat.
Zum Adjektiv »prätentiös« gibt es im Englischen das schöne Substantiv »pretentiousness«, verglichen damit wirkt die deutsche Wortbildung auf »-iösität« in meinen Ohren weniger verdammenswert, erinnert stattdessen an »Seriösität«, was das Ganze eher in Richtung »gut gemeint« verschiebt, statt einfach nur nach »versnobter Klugscheißerei« zu klingen. Ähnlich wie in The Limits of Control berichtet Jarmusch auch in seinem neuen Film vom Niedergang der Menschheit. Oder zumindest der Hochkultur. Noch stärker als in Limits spielt sich Jarmusch hierbei als selbsterwählte Kontrollinstanz auf, die quasi entscheidet, was als »Hochkultur« durchgeht. Es gibt mal eine Szene, bei der man eine Foto- / Bildergalerie sieht, die fast einem Schrein entspricht, und Jarmuschs seltsamen Filmhelden in Only Lovers Left Alive, die Vampire sind und nicht nur Adam und Eve heißen, sondern auch seit sehr langer Zeit die Menschheit beobachten, haben diese Fotos offenbar ausgewählt. Wahrscheinlich sind einige der abgebildeten Personen im Kontext des Films Vampirkollegen, ganz wie Christopher Marlowe (ja, genau der, hier gespielt von John Hurt), aber vermutlich sind auch außergewöhnliche Menschen darunter, die sich unter der die Erde zunehmend verseuchenden Spezies besonders ausgezeichnet haben. Man mag es nur für einen kleinen Insiderwitz halten, dass Jarmusch hier auch einige seiner Weggefährten wie Kameramann Robby Müller oder Musiker Neil Young auf ein Podest gehievt hat, aber das Feingefühl, was noch in Sachen Ironie durchgeht, hat Jarmusch mittlerweile entweder verloren, oder ich gehöre einfach nicht mehr zum auserwählten Kreis jener, die in der Lage sind, diese Ironie als solche zu begreifen.
Aus meiner Sicht zeugt Jarmusch hier vor allem von seiner »pretentiousness«, die ich im Nachhinein erstmals in Dead Man erkannt habe, wo ich aber noch eine gewisse Ehrfurcht davor empfunden habe, wie Jarmusch seine Hauptfigur »William Blake« nennt, auch damals schon den Niedergang der Menschheit dokumentiert, und das Ganze mit vermeintlich künstlerisch wertvollem Neil-Young-Geschrammel unterlegt. Man soll mich nicht falsch verstehen, ich verehre auch Neil Young, aber wenn der quasi auf dem Klo sitzend auf seiner E-Gitarre rumklimpert, so ist das für mich nicht dasselbe wie die Komposition zeitloser Klassiker der Rockmusik, was Young über einige Jahrzehnte hinweg sicherlich drei bis vier Dutzend Mal gelang.
Zurück zu Only Lovers Left Alive und Jarmuschs Bild von der Hochkultur. Adam (Tom Hiddleston) ist selbst ein Ausnahmemusiker und ein Sammler klassischer E-Gitarren. Bei Eve (Tilda Swinton) wird immerhin angedeutet, dass sie sehr belesen zu sein scheint, konkret äußert sich dies aber nur in zwei gefälschten Pässen, die das Paar einmal nutzt, und mit denen sie unter den Namen Stephen Daedalus und Daisy Buchanan unterwegs sind. Wem diese Namen nicht geläufig sind, der ist – so verstehe ich den Film – aus Jarmuschs Sicht wohl eher ein Vertreter des dem Untergang geweihten Teils der Menschheit. In meiner bescheidenen Meinung ist aber jemand, der irgendwann mal James Joyce und F. Scott Fitzgerald gelesen hat, auch nicht automatisch ein intellektueller oder kultureller Überflieger, auch wenn Jarmusch und seine Filmfiguren sich wohl dafür halten. Viele der klassischen Gemälde, die Jarmusch in seinem Film in Szenen nachstellt, habe ich wahrscheinlich gar nicht erkannt, doch mit einem gewissen Stolz will ich auch gar nicht Mitglied in einem Club sein, bei dem Jim Jarmusch als Türsteher fungiert.
Sein Vampirpärchen ist ähnlich wie einst Johnny Depp als »William Blake« stellvertretend für die »wandelnden Toten«, für Anachronismen in einer verdammenswerten Welt. Selbst die Vampire der nächsten Generation, wie hier Mia Wasikowska als »kleine Schwester« Ava, sind längst von den niederen Gelüsten der Menschheit kontaminiert. Sie will Party machen, hat keinen Sinn dafür, sich nobel zurückzuziehen, sich von einer kontrollierten Diät politisch korrekt erworbener Blutkonserven zu ernähren, und mit ihrer lärmenden Auffälligkeit und dem fehlenden Ehrgefühl (vgl. auch Ghost Dog – The Way of the Samurai) wird sie sich und die ihrigen nur ins Verderben stürzen, wo man doch wie Adam und Eve zurückgezogen in den Schatten und in der Vergangenheit leben könnte.
Vermutlich ist es auch eine höhere Ironie, wenn Adam und Eve am Ende des Films – anders als »William Blake« – die eigenen Regeln aus niederem Überlebenswillen durchkreuzen und den Filmtitel Only Lovers left Alive (wobei die »Lovers« auch Kulturliebhaber sein könnten) je nach Interpretation erfüllen oder auch verraten.
Die schwer festzumachende Ironie Jarmuschs kann man in seinem neuen Film immerhin hier und dort erkennen. Das Pressepublikum lachte zwar auch an einigen Stellen, wo ich eher das Formtief Jarmuschs beweinte, aber die blutrote Frakturschrift zu Beginn oder das Zusammenspiel der »alten« Vampire mit dem rebellischen Teenager waren durchaus Momente, in denen man den »alten« Jarmusch wiedererkannte, der einst Roberto Benigni nach Eiskrem schreien ließ oder Bill Murray als innovativen Kaffeejunkie auftreten ließ. Vielleicht ist Lovers auch ein weiterer (womöglich sogar erfolgreicher) Schritt Jarmuschs, ein Mainstreampublikum anzusprechen, wie er es am überzeugendsten mit Broken Flowers versuchte. Jene Kreise der Menschheit, die er im Film mit tiefer Verachtung straft, sind ja vielleicht dieselben, die noch vor kurzem auf Twilight schwörten und nun eine Vampirromanze auf Erwachsenenniveau suchen. Im Grunde ist sein neuer Film auch eine Art Twilight, angereichert mit Sex & Drugs & Rock'n'Roll. Und Hochkultur sowie einem Multikulti-Abstecher jenseits westlicher Gefilde. Doch abgesehen davon, dass er das Vampirgenre in sein ganz persönliches Jarmuschversum einbaut, kann er dem Vampirfilm auch kein frisches Blut zufügen. Ob es um die Gefahren der Unsterblichkeit, den Blutrausch oder die Infektionsgefahr geht – hat man alles schon gesehen. Der Lobgesang auf die Hochkultur vergangener Zeiten wirkt manchmal auch etwas aufgewärmt und wiedergekäut. Aber im Gegensatz zu The Limits of Control ist der Film immerhin recht unterhaltsam, auch in seiner verqueren Predigt des jarmusch'schen Weltbilds.
Originaltitel: Les salauds, Frankreich / Deutschland 2013, Buch: Claire Denis, Jean-Pol Fargeau, Kamera: Agnès Godard, Schnitt: Annette Dutertre, Musik: Tindersticks / Stuart A. Staples, mit Vincent Lindon (Marco), Chiara Mastroianni (Raphalle), Julie Bataille (Sandra), Michel Subor (Edouard Laporte), Lola Créton (Justine), Alex Descas (Arzt), Grégoire Colin (Xavier), Florence Loiret-Caille (Elysée), Christophe Miossec (Guy), Yann-Antoine Bizette (Joseph), Elise Lhomeau (Babysitter), Jeanne Disson (Audrey), Hélène Fillieres (Bankangestellte), Eric Dupont-Moretti (Anwalt), Nicole Dogue (Polizistin), Laurent Grevill (Jacques), 100 Min., Kinostart: 26. Dezember 2013
Die erste Einstellung zeigt für mehrere Sekunden einen nächtlichen strömenden Regen, der mich augenblicklich an den Vorspann von Lost Highway erinnerte, eine nächtliche Straßenoberfläche, erhellt durch die Scheinwerfer eines rasenden Autos. Ich hatte ja noch keinen Schimmer, dass diese anfängliche Assoziation bereits so viel vorwegnehmen würde.
Les salauds ist, kurz gesagt, wie eine ziemlich kranke Tatort-Folge (allerdings ohne Ermittler), bei der offenbar David Lynch Regie führen durfte. Die Figurenkonstellation ist nahezu deckungsgleich mit der von Kyle MacLachlan, Isabella Rossellini und Dennis Hopper in Blue Velvet, und perfide wird es, wenn man sich das Ganze mit deutscher Besetzung vorstellt: mit Heino Ferch, Martina Gedeck und Mario Adorf wäre das nächtliche Spektakel auch hierzulande fast denkbar. Aber nur fast.
Dabei beginnt alles – wie bei Lynch üblich – reichlich enigmatisch. Den Regen betrachtet ein nicht mehr ganz junger Mann, der offenbar kurz darauf Selbstmord begeht. Man sieht einen Ambulanzwagen, vor dem die Sanitäter einen nicht erkennbaren Körper mit einem weißen Tuch verdecken, dann sieht man eine junge Frau, die nackt durch die Straßen irrt, und im Fall, dass man gut aufpasst oder das Glück hat, Lola Créton augenblicklich zu erkennen, weiß man auch, dass jene Frau, die im nächsten Moment von den Sanitätern in eine wärmende Silberfolie eingemummt wird, dann doch aber eine andere, etwas ältere Frau zu sein scheint. Die dann offenbar in einem Polizeibüro befragt wird, wo sie den Abschiedsbrief ihres Mannes ausgehändigt bekommt (»Entwürdigend, dass sie ihn vor mir lesen durften!«), der an ihren Bruder adressiert war. Neben dem Namen des Toten ist der des Bruders, Marco Silvestri, der einzige, der bisher dem Zuschauer offenbart wurde. Und der Witwe wird empfohlen, sich um ihre Tochter zu kümmern.
Als sei bereits irgendetwas klar, spult der Film dann mit einem Zwischentitel drei Monate vor, und wir sehen zunächst einen Kapitän (Vincent Lindon), von dem wir annehmen, es könne sich um jenen Bruder handeln, und kurz darauf eine dritte Frau, Chiara Mastroianni (offenbar entspricht es einem Stilwillen, dass alle drei Frauen dem selben dunkelhaarigen Typ entsprechen), die beobachtet, wie eine Wohnung ausgeräumt wird und auf Nachfrage erfährt, dass dort ein neuer Mieter eingezogen ist. Dies ist nicht die Wohnung des Verstorbenen, wie man anfänglich annehmen könnte, es ist aber wichtig für die Geschichte, dass der Kapitän, der sich tatsächlich als jener Bruder der Witwe Sandra (Julie Bataille) erweisen wird, hier einzieht. Denn die Frau ist die Gattin eines zwielichtigen Geschäftsmanns namens Edouard Laporte (Michel Subor), der nicht nur mit den Steuerbehörden Probleme zu haben scheint, sondern auch mit dem Freitod von Jacques und dem Zustand seiner Tochter (Lola Créton, die im Film noch mehrfach nackt durch Straßen irren wird und ziemlich genau zwei Dialogsätze hat), der unmittelbar zum Selbstmord führte. Der Bruder und Onkel will offensichtlich den Schwager bzw. die Nichte rächen, verliebt sich dabei aber in die Frau des »Dreckskerls«, die mit jenem auch noch einen Sohn hat, der ziemlich genau im Alter des Sohnes von Isabella Rossellini in Blue Velvet ist. Nur hat er statt eines bunten Propellerhuts ein gelbes Fahrrad. Und es taucht nirgendwo ein abgeschnittenes Ohr auf. Abgesehen davon gelingt es dem Film aber durchaus, die nächtliche, alptraumhafte Stimmung eines Lynch-Films nachzuahmen. Inklusive brutaler Typen aus dem Rotlichtmillieu, verwirrter textilfreier Frauen, die offenbar mit diesem Milieu in Kontakt kamen und einem Polizeiapparat, der vertrauensunwürdig bis korrupt wirkt.
Das stärkste Bild dieses Films ist lange Zeit ein rein linguistisches, das aber Alptraumbilder beschwört. Zwei Worte, die eigentlich nicht zusammengehören sollten, lassen auf eine dunkle, schreckliche Untat schließen. Leider reicht dies der Regisseurin nicht, und im Verlauf des Films lässt sie Bilder folgen. Von einem heruntergekommenen, ländlichen »Amüsierbetrieb« (wie in Blue Velvet oder Twin Peaks), in dem ein rotes Sitzmöbel einen Überzug von rotem Lederimitat hat, das an einer Stelle verätzt scheint. Doch auch das reicht noch nicht, denn daneben liegen einige verkohlte Maiskolben mit Blutflecken. Und wenn Lola Créton zum dritten Mal wie in einem Alptraum nackt bis auf ihre High Heels durch nächtliche Straßen irrt (und dabei von beängstigenden Gestalten, die auf dem Bürgersteig sitzen, beobachtet wird), fährt die Kamera, die sie zuvor von hinten oder in Schulterhöhe zeigte, nahezu zelebratorisch an ihr herunter, um neben der »full frontal nudity« auch noch eine beträchtliche Menge Blut einzufangen, das ihr zwischen den Beinen herabläuft. Und wer glaubt, das genüge nun, um die verstörende Prognose eines Arztes, man müsse die »Vagina« der Nichte womöglich »reparieren« (die Anführungsstriche sollen nur die bereits erwähnten zwei Worte hervorheben), zu visualisieren, der wird mit der Schlussszene des Films, die dann fast nichts mehr der (ungewollten) Imagination überlässt, eines Schlechteren belehrt.
In einer Beziehung übertrifft Claire Denis hier ihre Inspiration David Lynch noch: in den dunklen, schrecklichen Bildern, die aber weniger die Faszination wie bei Lynch erwecken, sondern eher Abscheu. Oft weiß man nicht, ob man nicht längst in den Traumbereich weggedriftet ist (zumindest eine eindeutige Traumsequenz hat der Film, wie zur Legitimation anderer Szenen). Da gibt es nicht nur die nächtliche Spritztour und das Bild eines Autounfalls nebst Schwerverletzten (Grüße von Lynch), sondern auch eine dunkle Gasse, mitten in einer französischen Metropole, in der sich offenbar nur mit Slips bekleidete junge Frauen auf ausgebreiteten Pappkartons feilbieten. Neben dem schmierigen, lüstern dreiblickenden Edouard mit seinem aufdringlichen Kajalstift (nur mal Mario Adorf mit diesem Make-Up vorstellen!) wirken die abgründigsten Lynch-Monstren fast noch fürsorglich. Nur schade, dass Lynch noch in seinen abstrusesten Werken immer auch etwas auszusagen hatte, während Denis sich daran abmüht, Abgründe nicht nur zu visualisieren, sondern sie quasi wortwörtlich mit einer Taschenlampe darin herumstochert – mit dem zu erwartenden enttäuschenden Ergebnis. Das man dem Presseheft entnehmen kann, dass Frau Denis als Inspirationen Akira Kurosawa und William Faulkner anführt, ändert übrigens an meiner Interpretation nicht das Geringste.
Wo Lynch seine Alptraumbilder mit seinem Hauskomponisten Badalamenti, Barry Adamson, Roy Orbison oder Rammstein unterlegt hätte, nutzt Denis erneut die Tindersticks, die wie sie schon bessere Zeiten erlebt haben. Ihr Abschlusssong, der jene Videobilder untermalt, auf die man jetzt wirklich hätte verzichten können (auch, wenn die Dramaturgie des Films ganz auf diese angeblichen Überwachungsbilder hininszeniert wurde), ist übrigens eine Coverversion von »Put your Love in me«, was somit als letzte Assoziation des Films, während des Abspanns, die nackte Rossellini evoziert: »He put his disease in me«. 'Nuff said!
USA 2013, Originaltitel: The Secret Life of Walter Mitty, Drehbuch: Steve Conrad, Lit. Vorlage: James Thurber, Kamera: Stuart Dryburgh, Schnitt: Greg Hayden, Musik: Theodore Shapiro, Kostüme: Sarah Edwards, Production Design: Jeff Mann, Art Direction: David Swayze, Set Decoration: Regina Graves, mit Ben Stiller (Walter Mitty), Kristen Wiig (Cheryl), Kathryn Hahn (Sister), Sean Penn (Sean O'Connell), Adam Scott (Beard Guy), Patton Oswalt (Todd), Shirley MacLaine (Mrs. Mitty), Adrian Martinez (Hernando), lafur Darri lafsson (The Pilot), 114 Min., Kinostart: 1. Januar 2014
Ben Stiller ist vom Typ her eigentlich ähnlich wie Danny Kaye: Recht attraktiv und mit seinem ungebrochenen Willen, auch in Fettnäpfchen, die etwas abseits seines Weges stehen, hineinzutappen, durchaus liebenswert. Doch im Gegensatz zu Danny Kaye (oder Steve Carell) scheint ihm das nicht zu genügen.
Stillers Hang zur heroisierten Selbstdarstellung mit Humorpotential konnte man zuletzt in den Fake-Trailern von Tropic Thunder feststellen, damals stellte er aber seine Arbeit als Regisseur noch ganz in den Schatten der Schauspieldarstellungen und des Humors, The Secret Life of Walter Mitty ist nun offenbar sein Versuch, nach vier Regiearbeiten (Reality Bites, Cable Guy, Zoolander, Tropic Thunder), in denen er jeweils auch eine wichtige Rolle bekleidete, endlich auch als Regisseur ernstgenommen zu werden (Hauptrolle kriegt natürlich trotzdem niemand anderes).
Dabei hilft beispielsweise eine Vision. Mein Problem mit Stillers Walter Mitty ist, dass ich diese Vision bereits einmal gesehen habe. Damit meine ich nicht den gleichnamigen Film mit Danny Kaye (schon etwas her), sondern Marc Forsters Stranger than Fiction, ein Film, der erstaunlich viel mit Mitty gemeinsam hat.
Hier wie dort geht es um einen unscheinbaren Büroangestellten, der einen effizienten, Job hingebungsvoll ausführt (man stelle sich hierbei einen Sesselpupser vor, der seine Büroklammern hübsch sortiert), das Potential seines Lebens aber nicht ausnutzt und erst durch die Liebe zu einer Frau »richtig« zu leben beginnt. Bei diesem Gleichstellungsprofil gibt es durchaus viele Unterschiede zwischen den Figuren, weitaus auffälliger ist aber der Inszenierungsstil, der die beiden Filme gleicht.
Harold Crick, die von Will Ferrell gespielte Hauptfigur von Stranger in Fiction, erhält im Film eine spektakulär visualisierte Entsprechung seiner zunächst langweiligen Gedankengänge. Ähnlich wie Edward Nortons Ikea-Fantasien in Fight Club wird hier das Filmbild um eine dekorative, aber gelackte Dimension erweitert, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers fordert, selbst wenn es nur um ein Detail wie die Anzahl der Zahnbürstenbewegungen beim morgendlichen Ritual geht. Wichtig ist hier sowohl beim Ikea-Beispiel als auch bei Harold Crick, dass die Katalog-Ästhetik im Dienste der Aussage steht.
Bei Walter Mitty hingegen steht die hochglanzimprägnierte Oberfläche eher entgegen dessen, was der Film eigentlich erzählen will. Es geht um die Tagträume eines Menschen, der ein eher langweiliges Leben führt, eine naheliegende aber plumpe Visualisierung wären hier Farbsplitter gewesen, die in den wortwörtlich grauen Alltag vordringen würden. Doch das Leben, das Mitty führt, ist von der ersten Sekunde des Films an ein saturiertes Reklamedasein, wo sein Arbeitsplatz mit farbigen und sehr kreativ wirkenden riesigen Titelblättern des in der Filmwelt noch aktiven Magazins »Life« dekoriert ist (einige wenige davon entsprechen der Fantasiewelt Mittys – Titelheld Walter als Astronaut! – das meiste visualisiert aber euphorisch seinen Job im Fotoarchiv), und sein ohnehin märchenhaft durchgestylt wirkendes Umfeld noch durch hübsch drapierte Vorspanntitel verschönt wird. Wozu braucht dieser Typ noch Tagträume, sein Leben ist bereits ein realisierter Wunschtraum (abgesehen vom etwas unglaubwürdigen Mobbing), der viel zu attraktive und liebenswerte Walter scheint weit und breit der einzige zu sein, der dies nicht kapiert, der offenbar nicht einmal in Ansätzen mitbekommt, dass er so verdammt hip ist, dass er trotz Anzug mit einem kleinen Accessoire wie einem Skateboard sogar zum Helden der pubertierenden Jugend avanciert, und die steht bekanntlich der nächstälteren Generation extrem kritisch gegenüber.
Statt also sein Glück wahrzunehmen, lebt Walter in seinen Fantasien (im Trailer reichlich penetrant mit der Queen-Zeile »is this the real life ... is this just fantasy?« umgesetzt), und damit sich diese überhaupt noch von seinem Leben unterscheiden, skatet er hier beispielsweise wie ein Marvel-Superheld auf dem reinen, zerbirstenden Asphalt durch den Straßenverkehr – eine modernem »Event-Kino« nachempfundene Szene, die Walter später durch ein womöglich reales Erlebnis »nachspielen« darf.
Das Problem des Films (und, entschiedenes nein, ich sehe eine gewisse Ambivalenz des Films keinesfalls als Stärke) ist, dass man sehr bald kaum mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden kann. Was ist das für eine seltsam fotogene Welt, in der Walter da lebt, in der es Direktflüge nach Grönland gibt (ja, ich habe das überprüft, es gibt zwar eine Fluggesellschaft, die Greenland Air heißt – selbst dies erschien mir suspekt -, aber abgesehen von Kopenhagen fliegt man international nur zwei Flughäfen in Kanada an), in der das »Life«-Magazin so lange besteht, wie es dem Drehbuch dienlich ist, in der alle Vorzüge der 1950er und 2010 hübsch kombiniert werden wie in einer Nivea-Werbung? Offensichtlich eine Welt, die viele Zuschauer schier entzücken wird, die mir aber eher den Würgereflex von zwei Kilo Zuckerguss verschafft.
Wenn man über die gelackte esoterische Lebensfreude hinwegsehen kann (es ist ja irgendwie auch nur konsequent und kongenial, dass der Streifen wie eine zwölfseitige Fotostrecke im »Life« wirkt), hat der Film durchaus einige Höhepunkte (der Schlussgag nervte mich nicht so sehr wie der Mittelteil), aber ich finde es schon eine Spur penetrant, wie Stiller hier mit allen Mitteln versucht, zu verblüffen und zu gefallen, dabei aber in nicht geringem Maße die kompakte Geschlossenheit des literarischen Originals von James Thurber (kann man in fünf Minuten lesen und sollte man auch) außer acht lässt. Das war bei Danny Kaye auch schon etwas verwässert, aber dessen Regisseur war auch auf eher unscheinbare, doch liebenswerte Komödien abonniert, Stiller versucht ja hier ganz offensichtlich, in eleganter Manier auf die Kacke zu hauen. Und dann kommen da vermeintlich clevere Gags wie der »Nacktscan« und man hat so das vage Gefühl, dass das alles sozial relevant sein könnte, der unerschrockene Fotojournalist (Sean Penn), der den Kuchen von Mittys Mutti (Shirley MacLaine) zu schätzen weiß, die Vergangenheit im Pizzaschuppen, doch im Endeffekt ist es so erschreckend emmerichesk – auch was die Relevanz angeht. Sean Penn hat im Film mal einen sehr schönen Satz, der eigentlich das Problem des Films großartig zusammenfasst (und damit lässt der Drehbuchautor Steve Conrad – der auch nur schlimmen Mist wie The Pursuit of Happyness, The Weather Man oder The Promotion verzapft hat – den Regisseur ziemlich doof dastehen):
Beautiful things don't ask for attention.
USA / UK / Kuba 2012, Originaltitel: Una noche, Buch: Lucy Mulloy, Kamera: Trevor Forrest, Shlomo Godder, Schnitt: Cindy Lee, mit Dariel Arrechaga (Raúl), Anailín de la Rúa de la Torre (Lila), Javier Núñez Florián (Elio), María Adelaida Méndez Bonet (Adelaida), Sinencio Arrechaga Valdes (Chef), Katia Caso González (Hilda), Aris Mejias (Narrator), Yaneisi Martin Baez (Nurse), Belissa Cruz Pupo, Liliana Lam Hernández (Plastic Girls), Amarilis Caridad Piñeda Martínez (Loly), Greisy del Valle (Greisy), Anais Abreu (Singer), Naomi Battrick (Tifany), Felix Beaton (Seller), 90 Min., Kinostart: 12. Dezember 2013
Tourismuskino ist ja nichts per se schlechtes. So wie es in Deutschland offensichtlich ein Zielpublikum gibt, das seinen Traum vom Kuba-Urlaub mit Filmen wie Una noche oder 7 dias en La Habana kompensiert, gibt es vielleicht auch irgendwo in Tibet oder Honduras Leute, die es ungeheuer spannend finden, den Alltag eines Hartz-IV-Empfängers in Neukölln zu beobachten.
Und auch das Abenteuer Low-Budget-Filmen ist oft spannend anzuschauen. Restriktionen fördern ja oft die Kreativität, das weiß man nicht erst seit den Dogma-Filmen. Doch in diesem speziellen Fall ist das Ergebnis so belanglos, dass man kaum die Energie aufbringt, sich darüber aufzuregen.
Die Geschichte, die erzählt wird, basiert auf wahren Begebenheiten und hat durchaus tragisches Potential. Doch wie man das narrativ umsetzt, ist die wirkliche Tragödie.
Das fängt an mit einer übergreifenden Erzählerstimme, die zum einen alles verdeutlichen soll, was sonst vermutlich unverständlich geblieben wäre, die aber nebenbei auch noch die Funktion hat, die Lauflänge des Films auf kinotaugliche 90 Minuten aufzublasen. So hat Lila, bei der man sich lange Zeit nicht sicher ist, ob sie nur die Geschichte ihres Bruders erzählt oder selbst die Hauptfigur ist, die Angewohnheit, bedeutungsschwanger vor sich her zu plappern, während man eine Menge atmosphärische Shots vom Kubaner Alltag betrachten darf.
Eine Szene mit Beispielcharakter: Auf der Straße begegnet Lila einem Passanten, der vor der Kamera mal kurz demonstriert, dass er beim Sequel zu Buena Vista Social Club unbedingt dabei sein will. Dieser Gesangsauftritt dauert vielleicht eine Strophe, wovon bereits ein Drittel nur akustisch eingefangen ist. Und während Lila weiter unter dem Auge der Kamera durch Hinterhöfe von Havana stolpert, erzählt sie im Off eine kurze Geschichte vom Sänger, deren Nährwert und Bedeutung nichtexistent sind. Aber schon hat man mit geringstem Aufwand wieder anderthalb Minuten Filmmaterial zusammen.
Der inszenatorische Höhepunkt des Films ist eine Verfolgungsjagd. Die omnipräsente kubanische Polizei jagt mit konzertiertem Aufwand einen Flüchtigen. Das will uns der Film zumindest weismachen. Wenn man als Zuschauer aber bereits mehr als zehn Filme in seinem Leben gesehen hat, nimmt man in dieser Sequenz vor allem die Produktionsgeschichte wahr. Wir haben einen Hauptdarsteller und einen bedingt schauspielerisch begabten Statisten, der immerhin eine Polizeiuniform trägt. Diese gehen aneinander vorbei und es gibt einen Blickwechsel. Dann rennt der Flüchtige weg (der Statist ist bereits nicht mehr im Bild, den brauchten wir nur für drei Sekunden oder so). Während die Kamera den Flüchtigen beim Flüchten einfängt (größtenteils in wenig bemerkenswerten Straßen, in denen es nicht weiter auffällt, wenn man mal eben einen laufenden Mann filmt), sieht man diverse Inserts von fahrenden Polizeiautos, die offensichtlich allesamt eher dokumentarischer Natur sind. Allein über den Schnitt (und den Tonschnitt, denn die Polizeisirenen bestimmen die Szene) wird hier versucht eine Verfolgungsjagd zu inszenieren. Die übrigens konsequenzlos bleibt, aber auch wieder drei oder vier Minuten Film liefert.
So funktioniert ein Großteil des Films. Immerhin hat man einige Darsteller, die sich bereiterklärt haben, für die Kamera blankzuziehen und sexuelle Aktivitäten zu vollziehen (offenbar hat man in Havana jede Menge Sex), und um den Publikum etwas zu bieten, was weit weg von Low Budget wirkt, gibt es nicht nur eine Unterwasserkamera, sondern auch noch ein zusätzliches Team, dass ungefähr fünf winzige Einstellungen mit einem Hai realisiert hat. Jaja, bei der Flucht von Kuba nach Miami gibt es einen nächtlichen Haiangriff (eingeleitet durch die epochale Dialogstelle »Ich will nach Hause. Ich habe meine Tage«). Das bedeutet, dass man ca. dreimal kurz eine Haifischflosse im Wasser sieht (immerhin im direkten Zusammenspiel mit den Darstellern), dass es ca. fünf kurze Unterwasseraufnahmen des Hais gibt, und – als Höhepunkt! – in einer sieht man gleichzeitig sogar einen Schwimmer, und in einer weiteren wird mit den denkbar einfachsten Mitteln dargestellt, was während der Interaktion von Hai und Schwimmer passiert (mehr wird nicht gesagt).
Auch ein wahrhaft großer Moment im hilflosen Umgang mit dem geringen Budget war die Szene mit den Touristen, die plötzlich mit Trara in den Film einfallen, so dass man den Eindruck bekommt, neue Hauptfiguren gesellen sich zur Handlung... Naja, belassen wir es dabei.
In gewisser Weise muss man der Cutterin Cindy Lee (vermutlich nicht verwandt mit Spike Lee, dem bekanntesten der 29 – in Worten: neunundzwanzig! – Produzenten) noch danken, denn ohne sie würde es diesen Film gar nicht geben. Evtl. hatte Regisseurin Lucy Mulloy sogar auch eine Vision, die sie mit Geringstaufwand umsetzte, doch im Endeffekt ist dieser Film so nichtig, dass es sich nicht einmal lohnt, sich darüber aufzuregen.
Die eine Szene, die so absurd ist, dass ich sie dennoch kurz erwähnen will, ist vermutlich die inszenatorisch komplexeste (wenn es denn geklappt hätte): Figur A will hinter dem (zunächst metaphorischen) Rücken von Figur B eine Aktion durchführen. Eine reichlich uninspirierte dritte Figur (hat sich kein C verdient, bekommt ein Z) beobachtet dabei A und hat offensichtlich eine sexuelle Motivation dafür (»es gibt Fisch, Baby!«). Figur B hingegen erwischt Z dabei, reagiert darauf, bekommt aber zunächst nicht mit, was A gerade macht. Und das Ganze muss sich der Zuschauer nebenbei und im Nachhinein zusammenreimen. Una noche entspricht in narrativer Hinsicht weniger einem Film, sondern einem Silbenrätsel. Wen das interessiert, wer eine Menge über Filmmontage lernen will oder wer halt Kuba-Fan ist, dem kann ich den Film vage empfehlen. Ansonsten: lieber wegbleiben.
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